VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1C_221/2013  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1C_221/2013 vom 13.11.2013
 
{T 0/2}
 
1C_221/2013, 1C_271/2013
 
 
Urteil vom 13. November 2013
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Aemisegger, Merkli,
 
Gerichtsschreiber Haag.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Helvetia Nostra,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
X.________ und Y.________,
 
Beschwerdegegner,
 
Gemeinde Disentis/Mustér,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Otmar Bänziger.
 
Gegenstand
 
Baueinsprache,
 
Beschwerden gegen die Urteile vom 22. Januar 2013 und 14. Februar 2013 des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden, 5. Kammer.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Mit Baugesuch vom 16. November 2012 beantragten X.________ und Y.________ die Erteilung einer Baubewilligung für den Abbruch des bestehenden Ökonomiegebäudes und den Neubau eines Mehrfamilienhauses auf Parzelle 571 in Disentis/Mustér. Dagegen erhob die Helvetia Nostra Einsprache. Der Gemeindevorstand von Disentis/ Mustér trat mit Entscheid vom 10. Dezember 2012 auf die Einsprache mangels Legitimation nicht ein. Mit Verfügung vom 21. Dezember 2012 erteilte er die Baubewilligung.
1
B. Helvetia Nostra gelangte sowohl gegen den Einspracheentscheid vom 10. Dezember 2012 als auch gegen die Baubewilligung vom 21. Dezember 2012 mit Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Dieses wies die Rechtsmittel mit Urteilen vom 22. Januar 2013 und 14. Februar 2013 ab. Es entschied, die Gemeinde sei zu Recht auf die Einsprache nicht eingetreten. Im Übrigen ging es davon aus, dass Art. 75b BV erst auf Baubewilligungen anwendbar sei, die nach dem 1. Januar 2013 erteilt würden. Daraus ergebe sich, dass auch in Gemeinden wie Disentis/Mustér, in denen die kritische Grenze von 20 % Zweitwohnungen überschritten sei, im Jahr 2012 noch Baubewilligungen für Zweitwohnungen nach bisherigem Recht erteilt werden durften.
2
C. Gegen diese Urteile des Verwaltungsgerichts erhob die Helvetia Nostra am 25. Februar 2013 und 18. März 2013 zwei Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht. Sie beantragt, die angefochtenen Entscheide seien aufzuheben und die Sache sei zu neuem Entscheid an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen. Eventualiter sei die dem Projekt erteilte Baubewilligung aufzuheben.
3
D. Mit Verfügung vom 27. März 2013 wurde der Beschwerde im Verfahren 1C_221/2013 die aufschiebende Wirkung zuerkannt und das Verfahren bis zum Vorliegen eines Grundsatzentscheids des Bundesgerichts zur Frage der Beschwerdebefugnis der Helvetia Nostra und der Anwendbarkeit von Art. 75b BV und Art. 197 Ziff. 9 BV sistiert.
4
Am 22. Mai 2013 fällte das Bundesgericht die ersten Leitentscheide: Es bejahte die Beschwerdebefugnis der Helvetia Nostra (BGE 139 II 271) sowie die direkte Anwendbarkeit von Art. 75b BV und Art. 197 Ziff. 9 BV ab dem 11. März 2012 (BGE 139 II 243 und 263).
5
E. Mit Verfügungen vom 3. und 8. Juli 2013 wurden die Verfahren wieder aufgenommen und der Beschwerdegegnerin, der Gemeinde sowie dem Verwaltungsgericht Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt.
6
Das Verwaltungsgericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Gemeinde teilt mit, die Beschwerdegegner X.________ und Y.________ würden ein neues Baugesuch einreichen, nach welchem die zur Diskussion stehenden Wohnungen als Erstwohnungen ausgestaltet würden. Es sei davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin gegen ein Projekt mit Erstwohnungen nichts einzuwenden habe.
7
 
Erwägungen:
 
1. Die Beschwerden und die ihnen zugrunde liegenden Urteile des Verwaltungsgerichts betreffen dasselbe Bauvorhaben und es stellen sich dieselben Rechtsfragen. Es ist gerechtfertigt, die beiden Beschwerden in einem Urteil zu behandeln.
8
2. Dem vorliegenden Beschwerdeverfahren liegt das Baugesuch der Beschwerdegegner vom 16. November 2012 zugrunde. Da dieses Baugesuch nicht förmlich zurückgezogen wurde, ist die Baubewilligung nicht hinfällig geworden; insofern hat die Beschwerdeführerin noch ein aktuelles Rechtsschutzinteresse an der Beurteilung der vorliegenden Beschwerden. Auf diese ist somit einzutreten.
9
3. Die Plafonierung des Zweitwohnungsbaus gemäss Art. 75b BV stellt eine Bundesaufgabe dar, die der Schonung der Natur und des heimatlichen Landschaftsbildes dient. Die nach Art. 12 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 1. Juli 1966 über den Natur- und Heimatschutz (NHG; SR 451) beschwerdebefugten Organisationen im Bereich des Natur- und Heimatschutzes - zu denen auch die Helvetia Nostra gehört - können daher Baubewilligungen wegen Verletzung von Art. 75b BV und seiner Übergangs- und Ausführungsbestimmungen anfechten (BGE 139 II 271 E. 11 S. 276 ff.). Das Verwaltungsgericht und die Gemeinde Disentis/Mustér haben somit die Einsprachebefugnis der Beschwerdeführerin zu Unrecht verneint.
10
4. Das Verwaltungsgericht ging überdies davon aus, dass die neuen Verfassungsbestimmungen nicht anwendbar seien auf Baubewilligungen, die zwischen dem 11. März 2012 und dem 31. Dezember 2012 erstinstanzlich erteilt wurden (Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV e contrario).
11
Das Bundesgericht hat in BGE 139 II 243 (E. 9-11 S. 249 ff.) entschieden, dass Art. 75b Abs. 1 BV seit seinem Inkrafttreten am 11. März 2012 anwendbar ist. Zwar bedarf diese Bestimmung in weiten Teilen der Ausführung durch ein Bundesgesetz. Unmittelbar anwendbar ist sie jedoch insoweit, als sie (in Verbindung mit Art. 197 Ziff. 9 Abs. 2 BV) ein Baubewilligungsverbot für Zweitwohnungen in allen Gemeinden anordnet, in denen der 20 %-Zweitwohnungsanteil bereits erreicht oder überschritten ist. Dies hat zur Folge, dass Baubewilligungen für Zweitwohnungen, die zwischen dem 11. März und dem 31. Dezember 2012 in den betroffenen Gemeinden erteilt wurden, auf Beschwerde hin aufzuheben sind.
12
5. Nach dem Gesagten steht fest, dass die angefochtenen Entscheide aufzuheben sind. Fraglich ist, ob die Sache an das Verwaltungsgericht oder - unter Mitaufhebung des Einspracheentscheids und der Baubewilligung - an die erste Instanz, d.h. an die Gemeinde, zurückzuweisen ist (Art. 107 Abs. 2 BGG).
13
Für letztere Lösung spricht der Umstand, dass die Gemeinde zu Unrecht auf die Einsprache der Helvetia Nostra nicht eingetreten ist, sich also noch nicht mit deren Einwänden befasst hat. Hinzu kommt, dass bereits feststeht, dass das Baugesuch in der ursprünglichen Form gegen Art. 75b BV verstösst und nicht bewilligt werden kann. Zwar möchten die Beschwerdegegner das geplante Wohnhaus nunmehr mit Erstwohnungen ausstatten. Dies setzt jedoch eine Änderung des Baugesuchs voraus, zu welcher der Helvetia Nostra und allfälligen weiteren Interessierten im Einspracheverfahren das rechtliche Gehör gewährt werden muss.
14
Unter diesen Umständen erscheint es sinnvoll, in Gutheissung des Eventualantrags der Beschwerdeführerin den Einspracheentscheid und die Baubewilligung mitaufzuheben und die Sache an die Gemeinde zurückzuweisen. Diese hat die Kosten des bisherigen Bau- und Einspracheverfahrens neu zu verlegen.
15
 
Erwägung 6
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens obsiegt die Beschwerdeführerin. Die privaten Beschwerdegegner werden daher kostenpflichtig, und zwar sowohl für das bundesgerichtliche Verfahren (Art 66 BGG) als auch für das Verfahren vor Verwaltungsgericht (Art. 67 BGG).
16
Die Beschwerdeführerin war weder vor Verwaltungsgericht noch vor Bundesgericht anwaltlich vertreten, weshalb sie praxisgemäss keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung hat.
17
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Verfahren 1C_221/2013 und 1C_271/2013 werden vereinigt.
 
2. Die Beschwerden werden gutgeheissen und die Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 22. Januar 2013 und 14. Februar 2013 sowie der Einspracheentscheid der Gemeinde Disentis/Mustér vom 10. Dezember 2012 und die Baubewilligung vom 21. Dezember 2012 werden aufgehoben. Die Sache wird im Sinne der Erwägungen an die Gemeinde Disentis/Mustér zurückgewiesen.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- für das bundesgerichtliche Verfahren und Fr. 2'066.-- für die verwaltungsgerichtlichen Verfahren werden den Beschwerdegegnern X.________ und Y.________ auferlegt.
 
4. Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
 
5. Dieses Urteil wird den Parteien, der Gemeinde Disentis/Mustér und dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 5. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 13. November 2013
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Haag
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).