VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6B_426/2015  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6B_426/2015 vom 23.06.2015
 
{T 0/2}
 
6B_426/2015
 
 
Urteil vom 23. Juni 2015
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichter Rüedi,
 
Bundesrichterin Jametti,
 
Gerichtsschreiberin Andres.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Fürsprecher Daniel Buchser,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Stationäre therapeutische Massnahme (Art. 59 StGB); Willkür, rechtliches Gehör,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 30. März 2015.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Das Bezirksgericht Aarau stellte am 6. November 2013 fest, dass X.________ schuldlos die Straftatbestände der einfachen Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand, Tätlichkeit und Drohung erfüllt hatte, und ordnete eine stationäre therapeutische Massnahme an.
1
B. X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben, und ihm sei die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
2
 
Erwägungen:
 
1. Die Beschwerdeschrift hat ein Rechtsbegehren zu enthalten (Art. 42 Abs. 1 BGG). Heisst das Bundesgericht die Beschwerde gut, so entscheidet es in der Sache selbst oder weist diese zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurück (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 BGG). Der Beschwerdeführer stellt keinen Antrag in der Sache. Aus seiner Begründung folgt allerdings, dass er sich gegen die Anordnung einer Massnahme wendet. Auf seine Beschwerde kann grundsätzlich eingetreten werden (vgl. BGE 137 II 313 E. 1.3 S. 317; 133 II 409 E. 1.4.1 f. S. 414 f.; je mit Hinweisen).
3
2. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz verletze Art. 59 StGB, Art. 7-10 und 29 Abs. 2 BV sowie die "nämlichen Bestimmungen der EMRK". Sie habe auf das Gutachten der Psychiatrischen Dienste Aargau AG (nachfolgend: PDAG) abgestellt, ohne dieses zu hinterfragen und zu prüfen. Die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie sei fehlerhaft. Die Vorinstanz habe sich weder mit seinen Einwänden auseinandergesetzt noch die beantragten Beweise abgenommen. Zudem seien die Voraussetzungen einer stationären therapeutischen Massnahme gemäss Art. 59 Abs. 1 StGB nicht gegeben. Es fehle namentlich an einer schweren psychischen Störung, der Wiederholungsgefahr und der Verhältnismässigkeit der angeordneten stationären Massnahme.
4
 
Erwägung 3
 
3.1. Die Vorinstanz stellt auf das forensisch-psychiatrische Obergutachten der PDAG vom 4. November 2014 (nachfolgend: Obergutachten) ab. Dieses sei ausführlich, und die Schlussfolgerungen seien nachvollziehbar, schlüssig sowie widerspruchsfrei. Die Gutachterin lege dar, weshalb der Beschwerdeführer die Kriterien zur Diagnose einer paranoiden Schizophrenie erfülle. Dabei erläutere sie ausführlich, wieso die Interpretation der Erstgutachterin, welche die Wahnwahrnehmungen des Beschwerdeführers als eine opiatinduzierte psychotische Episode ansehe, angezweifelt werden müsse. Auch setze sich die Gutachterin eingehend mit Literatur sowie Fallberichten auseinander und verneine gestützt darauf die wissenschaftliche Evidenz für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Einnahme des Medikaments Subutex und dem Entstehen einer psychotischen Episode beziehungsweise konkret von Wahnphänomenen. Ferner betone die Gutachterin die psychoseprotektive Wirkung von Opiaten und beschreibe das Verhalten des Beschwerdeführers vor sowie nach der Medikation mit Subutex und ziehe ihre Schlüsse daraus. Schliesslich zeige sie den Zusammenhang der sozialen Isolierung des Beschwerdeführers mit seinem schwankenden Zustandsbild auf und setze sich eingehend mit den Kriterien der Diagnose einer schizophrenen Psychose auseinander. Diese stelle sie entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers klar fest und stufe sie als schwergradig ein. Dass die Gutachterin den Hausarzt des Beschwerdeführers nicht befragt habe, sei nicht zu beanstanden. Sie gebe an, die Unterlagen des Hausarztes studiert und daraus keine neuen Erkenntnisse gewonnen zu haben. Zudem handle es sich vorliegend um eine klassisch psychiatrische Fragestellung für deren Beantwortung der Verlauf seit dem Anlassdelikt von grosser Bedeutung sei. Da sich der Beschwerdeführer in Haft befinde, seien von seinem Hausarzt beziehungsweise dessen Nachfolger keine entscheidenden Informationen zu erwarten.
5
3.2. In rechtlicher Hinsicht erwägt die Vorinstanz, gestützt auf das schlüssige Obergutachten sei von der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie auszugehen. Dabei handle es sich um eine schwere psychische Störung, die mit den Vergehen des Beschwerdeführers in Zusammenhang stehe. Die stationäre therapeutische Massnahme sei grundsätzlich geeignet, die Störungen des Beschwerdeführers zu behandeln. Zwar sei dieser nicht bereit, sich einer stationären Behandlung zu unterziehen, jedoch seien an die Therapiewilligkeit im Zeitpunkt des richterlichen Entscheids keine allzu strengen Anforderungen zu stellen. Eine stationäre Massnahme sei geeignet, die Legalprognose des Beschwerdeführers entscheidend zu verbessern. Schliesslich sei sie auch verhältnismässig. Im Obergutachten werde klar festgehalten, dass - sollte der Beschwerdeführer sozialen Kontakten und Konfliktsituationen nicht mehr ausweichen können - mit grosser Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen sei, dass die Wahnsymptomatik wieder mehr in den Vordergrund trete und es zu erneuter Gewaltanwendung kommen könnte. Entgegen seinem Einwand sei der Beschwerdeführer nicht nur für seine Eltern, sondern auch für Dritte gefährlich. Eine mildere Massnahme in Form einer ambulanten Behandlung sei gemäss Obergutachten unzureichend. Die Voraussetzungen für die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme seien erfüllt.
6
 
Erwägung 4
 
4.1. Eine Massnahme ist anzuordnen, wenn eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu begegnen, ein Behandlungsbedürfnis des Täters besteht oder die öffentliche Sicherheit dies erfordert und die Voraussetzungen der Artikel 59-61, 63 oder 64 erfüllt sind (Art. 56 Abs. 1 StGB). Nach Art. 59 Abs. 1 StGB ist für die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme erforderlich, dass der Täter psychisch schwer gestört ist, sein Verbrechen oder Vergehen im Zusammenhang mit seiner psychischen Störung steht und zu erwarten ist, dadurch lasse sich der Gefahr weiterer mit seiner Störung in Zusammenhang stehender Taten begegnen. Es muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass sich durch die Behandlung die Gefahr weiterer Straftaten deutlich verringern lässt (BGE 134 IV 315 E. 3.4.1 S. 322). Die Anordnung einer Massnahme setzt voraus, dass der mit ihr verbundene Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Täters im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit und Schwere weiterer Straftaten nicht unverhältnismässig ist (Art. 56 Abs. 2 StGB).
7
4.2. Gemäss Rechtsprechung kann das Gericht, ohne den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 StPO sowie Art. 29 Abs. 2 BV) zu verletzen, einen Beweisantrag ablehnen, wenn es in willkürfreier Würdigung der bereits abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangt, der rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und es überdies in willkürfreier antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten Beweise annehmen kann, seine Überzeugung werde dadurch nicht mehr geändert (vgl. BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236 f. mit Hinweisen; Urteile 6B_1206/2014 vom 25. Februar 2015 E. 2.2.2 und 1B_653/2011 vom 19. März 2012 E. 5.2; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1182 Ziff. 2.4.1.1).
8
4.3. Die Rüge der Verletzung von Grundrechten (einschliesslich der Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung) muss klar vorgebracht und substanziiert begründet werden. Auf eine rein appellatorische Kritik am angefochtenen Urteil tritt das Bundesgericht nicht ein (vgl. Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266; 138 I 225 E. 3.2 S. 228; je mit Hinweisen).
9
 
Erwägung 5
 
5.1. Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung der Menschenwürde, der Rechtsgleichheit und des Rechts auf persönliche Freiheit rügt, begründet er nicht, inwiefern das angefochtene Urteil gegen die angerufenen Verfassungs- und Konventionsbestimmungen verstösst. Auf seine Kritik ist nicht einzutreten.
10
5.2. Die Rüge, die Vorinstanz verletze den Anspruch auf rechtliches Gehör des Beschwerdeführers und stelle den Sachverhalt willkürlich fest, indem sie trotz diverser sachlicher Fehler im Obergutachten darauf abstelle und von der Diagnose einer paranoiden Schizophrenie ausgehe, ist unbegründet, soweit darauf überhaupt eingetreten werden kann.
11
5.3. Die Anordnung der stationären therapeutischen Massnahme gemäss Art. 59 StGB ist bundesrechtskonform.
12
5.4. Der Urteilsbegründung sind die Überlegungen zu entnehmen, von denen sich die Vorinstanz leiten lässt und auf die sie ihr Urteil stützt. Nicht erforderlich ist, dass sie sich mit allen Standpunkten ausführlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt (vgl. BGE 139 IV 179 E. 2.2 S. 183; 134 I 83 E. 4.1 S. 88 mit Hinweisen). Damit ist der Einwand unbegründet, die Vorinstanz verletze den Anspruch auf rechtliches Gehör des Beschwerdeführers, da sie sich nicht mit all seinen Vorbringen auseinandersetze.
13
6. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist infolge Aussichtslosigkeit der Beschwerde abzuweisen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner finanziellen Lage ist mit einer reduzierten Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
14
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 1'600.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 23. Juni 2015
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Die Gerichtsschreiberin: Andres
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).