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Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
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StPO § 243 Abs. 4 Satz 1 |
1. Strafsenat |
Beschluß |
vom 14. Mai 1974 g. M. |
- 1 StR 366/73 - |
I. Amtsgericht Heilbronn |
II. Landgericht Heilbronn |
III. Oberlandesgericht Stuttgart |
Gründe: | |
I. | |
1. In der Berufungsverhandlung vor der Jugendkammer machte der vom Jugendschöffengericht wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Gefährdung im Straßenverkehr verurteilte Angeklagte im Rahmen der Befragung zu seinen persönlichen Verhältnissen Angaben über frühere Verkehrsunfälle. Er räumte ein, daß bei dem zweiten Unfall, der zur Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Gefährdung im Straßenverkehr durch Strafbefehl führte, Alkohol im Spiel gewesen sei, und bekundete, daß er auf Grund der Unfälle den festen Vorsatz gefaßt habe, nicht mehr Auto zu fahren, nach Ablauf der Sperrfrist aber doch die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis beantragt habe und erneut mit dem Wagen seines Bruders ziemlich vorsichtig gefahren sei. Nachdem der Strafbefehl auszugsweise verlesen worden war, wurde der Angeklagte gemäß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO belehrt. Er erklärte, daß er zur Sache keine Angaben mache. Die Jugendkammer führt in ihrem Urteil aus, sie habe die Überzeugung "von der Unfallursächlichkeit des Alkohols" auf Grund mehrerer Umstände gewonnen. Zwar lasse sich jeder einzelne von ihnen "möglicherweise auch ohne Alkoholbeeinflussung erklären". In ihrer Gesamtwirkung ließen sie jedoch "den sicheren Schluß auf eine alkoholbedingte Fahrun ![]() ![]() | 1 |
2. Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung des formellen Rechts. Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, daß die Feststellungen der Jugendkammer auch auf den Angaben beruhen, die er bei der Vernehmung zur Person machte. Sie seien als Aussage zur Sache anzusehen und wegen seiner Weigerung, sich zur Sache zu äußern, unverwertbar.
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3. Das Oberlandesgericht Stuttgart möchte der Revision stattgeben. "Bei Erörterung der Schuldfrage" habe das Berufungsgericht Angaben, die der Angeklagte im Rahmen der Vernehmung zur Person und vor der Belehrung nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO machte, verwertet. Es hätte sie aber nicht verwerten dürfen, weil der Angeklagte im Anschluß an die Belehrung die Aussage zur Sache verweigert habe.
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Das Oberlandesgericht meint, Voraussetzung dieser Auffassung sei, daß § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nicht nur als Ordnungsvorschrift betrachtet werde, deren Verletzung nicht gerügt werden könne. Wäre sie es, so bliebe ohne Belang, ob eine vor oder ![]() ![]() | 4 |
Sei die Hinweispflicht zwingend, dann dürften dem Angeklagten vor der Belehrung keine Fragen gestellt werden, deren Beantwortung er ablehnen könnte. Es brauche nicht entschieden zu werden, ob unter diesem Gesichtspunkt die Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse überhaupt noch auf Umstände, die für die Strafzumessung wesentlich sein können, erstreckt werden dürfe. jedenfalls sei es unzulässig, für die Schuldfrage bedeutsame Dinge vor der Belehrung des Angeklagten zu erfragen. Würden sie - möglicherweise in Verkennung ihrer Tragweite - dennoch erörtert, seien sie jedenfalls dann unverwertbar, wenn der Angeklagte anschließend Angaben zur Sache verweigere.
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Zu den verschiedenen hier auftauchenden Fragen habe der Bundesgerichtshof, soweit ersichtlich, bisher nur insofern Stellung genommen, als er die Vorschrift des § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO als Ordnungsvorschrift bezeichnet habe (BGHSt 22, 170). Hiervon wolle der vorlegende Senat abweichen. Zwar hänge seine Entscheidung davon ab, welche Bedeutung § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO habe. Doch handele es sich "um den gleichen Rechtsgrundsatz".
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Das Oberlandesgericht hat die dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung unterbreitete Rechtsfrage wie folgt gefaßt: ![]() | 7 |
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II. | |
Der Senat bejaht die Vorlegungsvoraussetzungen. Im Rahmen ihrer Prüfung kann offen bleiben, ob BGHSt 22, 170 der vom Oberlandesgericht beabsichtigten Entscheidung entgegensteht. Das Oberlandesgericht würde sich jedenfalls in Widerspruch zum Urteil des Senats vom 31. Juli 1973 (1 StR 232/73) setzen. In diesem Urteil ist unter Hinweis auf BGHSt 22, 129 und 22, 170 ausgesprochen, daß die Revision auf die Unterlassung der in § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO vorgeschriebenen Belehrung nicht gestützt werden kann. Zwar ist fraglich, ob das Urteil des Berufungsgerichts auf dem vom Oberlandesgericht beanstandeten Verfahrensverstoß beruht. Schlechthin unvertretbar ist aber die Ansicht des vorlegenden Gerichts nicht. Das genügt zur Bejahung der Vorlegungsvoraussetzungen (vgl. BGHSt 22, 94 [100]; 22, 385 [386]). Zu Vorfragen unterstellt der Senat die Ansicht des Oberlandesgerichts (vgl. III.).
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III. | |
Es nimmt offensichtlich an, daß die Vernehmung zur Sache nicht nur "die Umstände der den Gegenstand der Anklage bildenden Tat" (BayObLGSt 1971, 44) umfasse, sondern auch Angaben zum Lebensgang, aus denen Anhaltspunkte zur Schuldfrage oder zum Maß der Schuld gewonnen werden. Diese Meinung ist vertretbar (vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht 2. Aufl. S. 174/175; Kleinknecht, StPO 31. Aufl. § 243 Anm. 5; Peters, Strafprozeß 2. Aufl. S. 488). Der Senat geht im Rahmen dieser Vorlegungssache von ihr aus, ohne daß er dazu Stellung nimmt (vgl. BGHSt 15, 83 [85]; 16, 99 [100]).
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Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, solchen Angaben müsse der nach § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO gebotene Hinweis vorausgehen, wenn sie verwertbar sein sollen. Daß er generell oder jedenfalls nach der Sachlage des Vorlegungsfalles die einzige Voraussetzung der Verwertbarkeit sei, sagt das Oberlandesgericht nicht. Es läßt damit eine unter Umständen entscheidungserhebliche Vorfrage offen. Sie geht dahin, ob Angaben des über seine Verteidigungsmöglichkeiten belehrten Angeklagten, die er - ohne ![]() ![]() | 11 |
IV. | |
1. Das Oberlandesgericht ist der Ansicht, die Beantwortung der von ihm als entscheidungserheblich angesehenen Rechtsfrage verlange eine Klassifizierung der Bestimmung des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO. Der Senat ist demgegenüber mit Hanack (JZ 1971, 168, 169) der Auffassung, daß es eine "methodisch veraltete Vorstellung" wäre, einen Verstoß gegen die Hinweispflicht allein mit der Erwägung, § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO sei eine "bloße Ordnungsvorschrift", für irrelevant zu erklären (vgl. auch Baldus in Ehrengabe für Bruno Heusinger S. 388; Grünwald JZ 1968, 752; Kleinknecht a.a.O. § 337 Anm. 1 B; KMR, StPO 6. Aufl. § 337 Anm. 1 e; Rudolphi MDR 1970, 91, 99; Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts 2. Aufl. S. 96). Nicht auf diese Erwägung kommt es ausschlaggebend an, sondern auf den Verfahrenszweck des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO und auf die Auswirkung eines Verstoßes gegen diese Bestimmung auf die Rechtsstellung des Angeklagten (vgl. Baldus a.a.O.; KMR a.a.O.; Rudolphi a.a.O.).
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2. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 (BGBl I 1067), auf dessen Art. 7 Nr. 10 die Neufassung des § 243 StPO beruht, war der Angeklagte zu befragen, ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle (§ 243 Abs. 3, § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO a.F.). Auch dieser Befragung konnte er entnehmen, daß er zwischen Aussage und Schweigen frei wählen darf (vgl. BGHSt 1, 342 [343]; 14, 358 [364]; BGH NJW 1966, 1718 Nr. 12). Der Hinweis, den § 243 Abs. 4 ![]() ![]() | 13 |
3. a) Der Vorsorge und Fürsorge bedarf es nicht, der Hinweis geht also ins Leere, wenn der Angeklagte seine Verteidigungsmöglichkeiten ohnehin kennt oder wenn die Wahl zwischen Äußerung und Schweigen für ihn ohne Interesse ist, weil er sich durch Aussage zur Sache verteidigen will. In solchen Fällen ist der Hinweis nicht unerläßliche Voraussetzung der Rechtsausübung. Seine Unterlassung beschneidet sie nicht. Das Recht, dem der Hinweis dient, ist nicht betroffen. Daraus mag man folgern, daß in solchen Fällen der Hinweis über die Verteidigungsmöglichkeiten lediglich der Ordnung halber erfolge, § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO nur Ordnungsvorschrift sei (vgl. KMR a.a.O.). Wesentliche Bedeutung kommt dieser Folgerung nicht zu.
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b) Für den Angeklagten, der seine Verteidigungsmöglichkeiten nicht kennt, ist der Hinweis, den § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO gebietet, notwendiger Bestandteil eines fairen Verfahrens, wenn er nach Unterrichtung über sie das Schweigen der Aussage vor ![]() ![]() | 15 |
Der Generalbundesanwalt ist anderer Meinung. Er hat beantragt, wie folgt zu beschließen: "Auch ein Verstoß gegen die Belehrungspflicht des § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO begründet grundsätzlich kein Verwertungsverbot hinsichtlich der unter Verletzung dieser Belehrungspflicht zustandegekommenen Aussagen des Angeklagten (Ergänzung zu BGHSt 22, 170)."
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Aus der Auffassung des Senats kann ein seine Entscheidung tragender Widerspruch zur Rechtsprechung über die Bewertung von Verstößen gegen die Hinweispflicht im Vorverfahren (vgl. BGH GA 1962, 148; BGHSt 22, 129; 22, 170) nicht hergeleitet werden. Was für die Hauptverhandlung gilt, auf deren Inbegriff das Urteil beruht (§ 261 StPO), gilt nicht ohne weiteres auch für das Vorverfahren. Soweit der Entscheidung des Senats vom 31. Juli 1973 (1 StR 232/73) eine andere Ansicht als die hier vertretene zugrunde liegt, wird daran nicht festgehalten.
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4. a) Weil das Unterlassen des Hinweises auf die Verteidigungsmöglichkeiten nicht ohne weiteres zu einer Rechtsverletzung führt, hat das Revisionsgericht von Fall zu Fall zu prüfen, ob durch den Verfahrensverstoß, der Zweck des Hinweisgebots vereitelt worden ist. Das Ergebnis seiner Prüfung wird negativ sein, wenn gewichtige Gründe dafür sprechen, daß der Ange ![]() ![]() | 18 |
b) Durch die Vernehmung zur Sache wird dem Angeklagten rechtliches Gehör gewährt. Macht er davon Gebrauch, nutzt er die eine seiner Verteidigungsmöglichkeiten (vgl. § 243 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 136 Abs. 2 StPO). Das Schweigen ist nicht ohne weiteres die zweckmäßigste Art der Verteidigung. Es versteht sich daher nicht von selbst, daß der Angeklagte sich zur Sache nur deshalb äußerte, weil er nicht wußte, daß er schweigen darf. Daraus ergeben sich Folgerungen für den Tatsachenvortrag der Revisionsbegründung (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Es genügt nicht, daß der Angeklagte die Unterlassung des durch § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO vorgeschriebenen Hinweises unter Berufung auf das Protokoll rügt. Er muß darlegen, daß er (obwohl ihm ![]() ![]() ![]() | 19 |
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