des Ersten Senats vom 10. Juni 1963
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-- 1 BvR 790/58 -- | |
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Kaufmanns Robert N..., Bevolmächtigter: Rechtsanwalt ..., gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts München vom 11. September 1958 - 8 Cs 67/57 - und des Landgerichts München I vom 14. Oktober 1958 - II Qs 304/58.
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Entscheidungsformel:
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Die Beschlüsse des Amtsgerichts München vom 11. September 1958 - 8 Cs 67/58 - und des Landgerichts München I vom 14. Oktober 1958 - II Qs 304/58 - verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 2 GG; sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht München zurückverwiesen.
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Gründe: | |
A. | |
1. Der Beschwerdeführer war Geschäftsführer und mit einem Geschäftsanteil von 19000 DM Hauptgesellschafter der Münchner Modellstrickwaren-GmbH; Mitgesellschafter mit einem Geschäftsanteil von 1000 DM war seine mit ihm zusammenwohnende, jetzt 89 Jahre alte Mutter. Da er als Geschäftsführer wiederholt Fragebogen der Handwerkskammer, zu deren Beantwortung er sich nicht verpflichtet glaubte, nicht ordnungsgemäß ausgefüllt, sondern - wie die Staatsanwaltschaft vortrug - "mit ungenügenden, zynischen und teils völlig sinnlosen Vermerken versehen" hatte, wurden gegen die Gesellschaft zwei Bußgelder von je 500 DM verhängt; jedoch wurden diese Bußgelder, da der Beschwerdeführer als gesetzlicher Vertreter der Gesellschaft früher den Offenbarungseid geleistet hatte, als uneinbringlich niedergeschlagen. Weil der Beschwerdeführer diese Bußgeldbescheide verschuldet und somit der Gesellschaft einen Schaden von über 1000 DM zufügt habe, ist gegen ihn wegen eines Vergehens gegen § 81a GmbHG (Organuntreue) Anklage erhoben worden.
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Der Beschwerdeführer legte Beschwerde ein, mit der er geltend machte, eine Liquorentnahme sei ein äußerst schmerzhafter Eingriff; sie sei nicht erforderlich, da seine Zurechnungsfähigkeit erst ein Jahr zuvor in einem auf Selbstanzeige eingeleiteten Meineidsverfahren auf Grund eingehender Begutachtung bejaht worden sei. Der Anordnung fehle die notwendige Bestimmtheit; da es mehrere Formen der Liquorentnahme gebe, hätte der vorzunehmende körperliche Eingriff genau bezeichnet werden müssen. Schließlich sei ein solch gewaltsamer Eingriff durchaus geeignet, seine durch übermäßige Arbeit ohnehin nervlich stark belastete psychische Struktur schwer zu erschüttern.
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Das Landgericht verwarf die Beschwerde durch Beschluß vom 14. Oktober 1958 als unbegründet. Zu der Rüge mangelnder Bestimmtheit führte es aus: Der Beschluß des Amtsgerichts bestimme zwar nicht, ob Lumbal- oder Okzipitalpunktion vorgenommen werden solle. Das sei aber auch nicht notwendig; nach fernmündlich eingeholter Auskunft des Gerichtsarztes seien beide Eingriffe gleichwertig, daher könne dem durchführenden Arzt die Wahl überlassen werden.
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2. Der Beschwerdeführer greift die vorgenannten Beschlüsse als Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 103 ![]() ![]() | |
3. Der Bayerische Staatsminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Art. 2 GG sei nicht verletzt, da die Anordnung auf § 81a StPO, also auf einem Gesetz, beruhe.
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Das Bundesverfassungsgericht hat ein Sachverständigengutachten des früheren Direktors der Neurologischen Universitätsklinik in Hamburg, Prof. Dr. Pette, darüber eingeholt, welche Bedeutung und welche körperlichen und seelischen Folgen Lumbal- und Okzipitalpunktion für den Betroffenen haben, ob sie für den Betroffenen gleichwertig sind oder ob die Okzipitalpunktion wesentlich schmerzhafter und gefährlicher ist, und wie weit eine Liquorentnahme zur Aufklärung der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten unentbehrlich ist. Das Gutachten kommt zu folgendem Ergebnis:
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"Lumbal -und Okzipitalpunktionen zeigten, von sachverständiger Hand durchgeführt, keine nachteiligen Folgen. Sie hätten keinen seelischen Schock und keine körperlichen Schäden zur Folge, insbesondere keine nachteiligen Folgen für die Gesundheit, auch dann nicht, wenn der Eingriff gegen den Willen des Betroffenen vorgenommen werde. Beide Formen der Liquorentnahme seien für den Betroffenen gleichwertig. Bei der Lumbalpunktion träten in etwa 10% der Fälle für mehrere Tage Kopf-, Rückenschmerzen und Übelkeit auf, nicht aber bei der Okzipitalpunktion, die im allgemeinen auch weniger schmerzhaft sei. Im vorliegenden Fall scheine es ![]() ![]() | |
4. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs für begründet. Zur Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG weist er darauf hin, daß nach der neueren Rechtsprechung vor der Anordnung von Maßnahmen nach § 81a StPO zu prüfen sei, in welchem Verhältnis die Schwere des Eingriffs zu der Bedeutung der zu ahndenden Straftat stehe.
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Es kann dahingestellt bleiben, ob der Beschluß des Landgerichts auf einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruht. Die Verfassungsbeschwerde ist schon wegen Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) begründet.
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1. Die Entnahme von Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit mit einer langen Hohlnadel ist ein nicht unerheblicher operativer Eingriff, ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit im Sinne des Art. 2 Abs. 2 GG. Mag er auch, wenn er nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wird, normalerweise ungefährlich sein, so sind doch Störungen des Gesundheitszustandes wie Schmerzen und Übelkeit möglich, nach dem Gutachten des Sachverständigen bei der Lumbalpunktion sogar in 10% aller Fälle zu erwarten; in besonderen Fällen kann die Liquorentnahme aber auch zu ernsten Komplikationen führen (vgl. die Angabe über Kontraindikationen bei Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 123. bis 153. Aufl., Stichwort Lumbalpunktion). So hat auch das Reichsversicherungsamt - in anderem Zusammenhang - schon vor Jahrzehnten in einer dann ständig festgehaltenen Rechtsprechung diesen Eingriff gewürdigt, indem es entschieden hat, daß die Verweigerung der Liquorentnahme die Entziehung einer Rente nicht rechtfertige (siehe Amtliche Nachrichten für Reichs ![]() ![]() | |
2. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann auf Grund eines einfachen Gesetzes eingeschränkt werden (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG). Als formelles Gesetz genügt § 81a StPO dieser Forderung.
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a) Das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 (BGBl. S. 455), das dem § 81a StPO die jetzt geltende Fassung gegeben hat, nennt das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG nicht als eingeschränkt. Dies berührt aber die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung nicht. Die den Strafverfolgungsbehörden darin gegebenen Befugnisse waren bereits in Art. 2 Nr. 4 des Ausführungsgesetzes zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl. I S. 1000) enthalten; das Vereinheitlichungsgesetz hat sie neu gefaßt, aber ![]() ![]() | |
b) Auch inhaltlich widerspricht § 81a StPO in dem hier allein erheblichen Umfang - der Zulässigkeit der Anordnung einer zwangsweisen Liquorentnahme gegen den Beschuldigten - dem Grundgesetz nicht.
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aa) Nach § 81a StPO sind zur Feststellung von Tatsachen, die für das Verfahren von Bedeutung sein können, die Entnahme von Blutproben und andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, gegenüber dem Beschuldigten ohne seine Einwilligung zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.
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Die in der Literatur gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung erhobenen Bedenken sind unbegründet. Sie richten sich einerseits dagegen, daß kein bestimmter Grad von Tatverdacht gefordert werde, die Bestimmung sei daher eine handgreifliche Verletzung der Unschuldsvermutung" (so Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege in Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, S. 973 ff., vor allem 983 ff.); andererseits dagegen, daß die in § 81a StPO verwandten Begriffe der scharfen Grenzen entbehren (so Sarstedt bei Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 21. Aufl. 1962, Anm. 1 zu § 81a). Daß die besondere Stellung des Beschuldigten ihm gegenüber besondere Eingriffe erlaubt, fordern die elementaren Bedürfnisse des Strafrechts. Eine sinngemäße Auslegung des § 81a StPO muß aber selbstverständlich dazu führen, vor einer richterlichen Anordnung zu prüfen, ob der jeweils bestehende Grad von Tatverdacht die Maßnahme rechtfertigt. Daher kann hingenommen werden, daß das Gesetz nicht die formelle Feststellung hinreichenden Tatverdachts fordert wie für die Eröffnung des Hauptverfahrens oder einen dringenden Tatverdacht wie für die Anordnung der Untersuchungshaft.
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Es ist richtig, daß die in § 81a StPO verwendeten Begriffe weitgehend unbestimmt sind. Diese Unbestimmtheit führt aber ![]() ![]() | |
Bei einer verfassungsrechtlichen Würdigung der Bestimmung ist vor allem zu berücksichtigen, daß die Anordnung in die Hand des Richters gelegt ist; denn der Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbeamten in §81a Abs. 2 StPO bei Gefahr im Verzuge gegebenen Befugnissen kommt für die schwereren Eingriffe wie die Liquorentnahme keine praktische Bedeutung zu. Von dem Richter erwartet aber das Gesetz, daß er dort, wo er einem Verwaltungsakt ähnliche Maßnahmen zu treffen hat, dieselbe spezifisch richterliche Denkweise anwendet wie bei der Nachprüfung von Handlungen, die Verwaltungsbehörden im Rahmen ihres Ermessens vorgenommen haben. Darin liegt gerade der Grund für die gesetzliche Übertragung schwerwiegender Anordnungen auf den Richter.
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bb) Greifen somit die gegen die Gültigkeit der Norm bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken nicht durch, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß einzelne der in Betracht kommenden Eingriffe als durch die Verfassung schlechthin verboten angesehen werden müssen. Hierzu gehört die Liquorentnahme nicht, wie das Gericht nach dem Gutachten des Sachverständigen annehmen muß.
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c) Auch bei der Entscheidung über die Liquorentnahme hat der Richter demnach, wie bei allen staatlichen Eingriffen in die Frei ![]() ![]() | |
3. Im vorliegenden Fall haben die Gerichte diese Grundsätze außer acht gelassen. An der Gesellschaft, als deren Geschäftsführer ![]() ![]() | |