Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Original
 
«AZA»
I 364/99 Vr
IV. Kammer
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger; Gerichtsschreiber Hadorn
Urteil vom 15. Februar 2000
in Sachen
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 33, Bern, Beschwerdeführer,
gegen
H.________, 1997, Beschwerdegegner, vertreten durch seinen Vater und dieser vertreten durch den Rechtsdienst A.________,
und
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
Mit Verfügung vom 28. Januar 1999 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau ein Gesuch der Eltern von H.________ (geb. 1997) um Übernahme der Kosten von im Ausland durchgeführten medizinischen Massnahmen ab.
Die dagegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 25. Mai 1999 gut. Es wies die Sache zu neuer Verfügung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
Der Vater von H.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während die IVStelle auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Das kantonale Versicherungsgericht hat die gesetzlichen Voraussetzungen für die Übernahme von Kosten medizinischer Massnahmen im Ausland (Art. 9 Abs. 1 IVG, Art. 23bis Abs. 1 IVV) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass die Invalidenversicherung gemäss Art. 23bis Abs. 2 IVV die Kosten medizinischer Massnahmen im Ausland in dem Umfang vergütet, in welchem solche Leistungen in der Schweiz zu erbringen gewesen wären, sofern die Massnahmen aus beachtlichen Gründen im Ausland durchgeführt werden.
2.- Streitig und zu prüfen ist, ob Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung für die in Frankreich durchgeführten medizinischen Massnahmen besteht.
a) Das Kind leidet gemäss Berichten der Kinderklinik am Spital X.________ vom 24. März und 16. September 1998 an einer Vena Galeni Malformation, einer schweren angeborenen Gefässmissbildung des Gehirns. Mitte März 1998 kam es wegen einer Verlegung der ableitenden Liquorwege zu einer Erweiterung der Hirninnenräume mit Erhöhung des Hirninnendrucks. Das Spital X.________ überwies das Kind nach Durchführung verschiedener Untersuchungen notfallmässig ans Hôpital P.________ in Frankreich zu Prof. L.________, welcher eine Embolisation vornahm. Gemäss den erwähnten Berichten der Kinderklinik habe Lebensgefahr bestanden. Das Institut R.________ sei als einziges in Europa in der Lage, solche Eingriffe an Säuglingen vorzunehmen. Frau Dr. med. O.________, Oberärztin der Neuropädiatrie am Kinderspital X.________, führt im Bericht vom 16. September 1998 aus, sie habe während ihrer Tätigkeit am Kinderspital Y.________ einen ähnlichen Fall erlebt, in welchem ein Kind ebenfalls in Lebensgefahr stand. Damals habe die Klinik C.________ ihr auf telefonische Anfrage mitgeteilt, dass keine Möglichkeit bestehe, mit einem Eingriff zu helfen. Jenes Kind sei an Prof. L.________ überwiesen worden, welcher es erfolgreich behandelt habe. Daher sei auch hier, zumal unter Zeitdruck, gleich entschieden worden.
b) Die IV-Stelle holte einen Bericht des Spitals Z.________ vom 10. Juli 1998 ein. Darin schreibt Frau Dr. med. S.________, Leitende Ärztin Neuropädiatrie, bei der vorliegenden Gefässmissbildung handle es sich um eine sehr seltene, schwerwiegende und schwierig zu therapierende Malformation. Die entsprechende Intervention solle nur von jemandem durchgeführt werden, der Erfahrung sowohl mit der spezifischen Problematik als auch mit interventioneller Neuroradiologie im Säuglingsalter habe. In der Schweiz gebe es kein spezifisches Pädiatrisches Neuroradiologisches Zentrum, weshalb es angebracht erscheine, Kinder mit diesen Problemen im Ausland behandeln zu lassen.
Die IV-Stelle unterbreitete den Fall dem BSV, welches eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung im Schreiben vom 18. November 1998 mit der Begründung verneinte, die Embolisation hätte auch von Prof. V.________ am Institut für Neuroradiologie des Spitals C.________ durchgeführt werden können. Das BSV legte ein Schreiben dieses Arztes vom 19. März 1998 bei, laut welchem das erwähnte Institut seit Anfang der Achtziger Jahre endovaskuläre Eingriffe zur Behandlung von cerebralen Angiomen einschliesslich V. Galeni Angiomen bei Neugeborenen und Kleinkindern routinemässig durchführe. Die Verlegung nach Frankreich sei nicht nötig gewesen und vom Kinderspital X.________ zu verantworten. Gestützt auf diese Instruktionen des BSV lehnte die IV-Stelle das Gesuch um Kostenübernahme ab.
c) Demgegenüber erachtete die Vorinstanz die Leistungspflicht der Invalidenversicherung als gegeben. Zwar hätte die streitige Vorkehr in der Schweiz durchgeführt werden können. Indessen hätten die Eltern des Kindes angesichts der Dringlichkeit eines Eingriffs keine andere Wahl gehabt, als den Aarauer Ärzten zu glauben, dass eine Operation in der Schweiz nicht möglich sei. Sie hätten sich somit in einem entschuldbaren Irrtum befunden, der nicht ihnen anzulasten sei. Gestützt auf BGE 97 V 155 habe die Invalidenversicherung die gesamten Behandlungskosten zu übernehmen.
d) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht das BSV geltend, die Anmeldung des Kindes bei der Invalidenversicherung sei erst erfolgt, als es sich bereits in Frankreich befunden habe. Die Aarauer Ärzte hätten die Überweisung ins Ausland damit begründet, dass ein entsprechender Eingriff in der Schweiz nicht möglich sei. Dies treffe unbestrittenermassen nicht zu, weshalb Leistungen nach Art. 23bis Abs. 1 IVV nicht in Frage kämen. Auch wenn rasch habe gehandelt werden müssen, wäre es vor der Verlegung nach Frankreich möglich gewesen, sich zu erkundigen, ob eine Behandlung in Zürich möglich sei. Da das Spital X.________ dies unterlassen habe, müsse es die Folgen tragen. Die daraus entstandenen Kosten seien weder den Eltern noch der Invalidenversicherung anzulasten.
e) Hiegegen lässt der Vater des Versicherten vorbringen, angesichts der akuten Lebensgefahr und der Tatsache, dass die Verlegung nach Frankreich auch in Fachkreisen als angemessen gelte (erwähnter Bericht des Spitals Z.________ vom 10. Juli 1998) und Oberärztin Dr. O.________ in einem frühern Fall aus Zürich einen ablehnenden Bescheid erhalten habe, sei die Überweisung nach Frankreich nachvollziehbar. Sowohl bei den behandelnden Ärzten wie bei den Eltern habe ein entschuldbarer Irrtum im Sinne von BGE 97 V 155 Erw. 3 vorgelegen. Sollte die Invalidenversicherung nicht voll leistungspflichtig werden, lägen jedenfalls beachtliche Gründe für eine Durchführung im Ausland nach Art. 23bis Abs. 2 IVV vor. Die Invalidenversicherung habe deshalb mindestens im Umfang dieser Bestimmung Kostenersatz zu erbringen.
3.- a) In Bezug auf BGE 97 V 155 ist zu beachten, dass dieses Urteil im Jahr 1971 erging, während die vorliegend massgebenden Verordnungsbestimmungen für die Übernahme von Kosten medizinischer Massnahmen im Ausland (Art. 23bis Abs. 1 und 2 IVV) erst am 1. Januar 1977 in Kraft traten. Demnach hat sich die rechtliche Lage seit diesem Urteil massgeblich geändert. Der vorliegende Fall ist daher nicht im Lichte jener überholten (BGE 97 V 158 Erw. 1) Praxis, sondern von Art. 23bis Abs. 1 und 2 IVV zu prüfen.
b) Ob die streitige Embolisation in der Schweiz hätte durchgeführt werden können, bleibt unklar. Gemäss dem Schreiben von Prof. V.________ vom 19. März 1998 wäre sie in Zürich routinemässig möglich gewesen. Dem widerspricht Frau Dr. med. S.________ vom Spital Z.________ in ihrer Stellungnahme vom 10. Juli 1998, worin sie die streitige Vorkehr als sehr schwierigen Eingriff bezeichnet, für welchen es in der Schweiz kein spezifisches Pädiatrisches Neuroradiologisches Zentrum gebe. Gleicher Meinung waren auch die Aarauer Ärzte, die auf einen ablehnenden Bescheid des Spitals C.________ in einem frühern Fall hinwiesen. Indessen kann diese Frage offen bleiben, wie im Folgenden zu zeigen ist.
c) Gemäss Bericht des Spitals X.________ vom 16. September 1998 musste die Behandlung des Kindes unverzüglich erfolgen. Um sein Leben nicht zu gefährden, und wegen der mit dem Spital C.________ in einem frühern Fall gemachten Erfahrungen sei die Verlegung nach Frankreich erfolgt. In einem nicht datierten, bei der IV-Stelle am 8. Mai 1998 eingegangenen Bericht schildert das Spital den Notfall detaillierter. Das Kind sei am 16. März 1998 hospitalisiert worden. Die Verlegung nach Frankreich sei notfallmässig per Flugzeug am 17. März 1998 erfolgt und die Embolisation am 19. März 1998 durchgeführt worden. Damit ist erstellt, dass das Kind in akuter Lebensgefahr stand und sofort ein Eingriff erfolgen musste. Die Aarauer Ärzte standen unter grossem Druck. Zeit für viele Abklärungen blieb ihnen nicht. Da sie aus eigener Erfahrung einen von Zürich abgelehnten ähnlichen Fall kannten und überdies wussten, dass die Klinik von Prof. L.________ für die Embolisation geeignet war, ist ihnen kein Vorwurf zu machen, dass sie sofort eine Verlegung nach Frankreich organisierten. Es lag ein Notfall vor, womit eine der alternativ genannten Voraussetzungen für eine Kostenübernahme durch die Invalidenversicherung nach Art. 23bis Abs. 1 IVV erfüllt ist.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat dem Beschwer-
degegner für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von
Fr. 2500.- zu bezahlen.
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungs-
gericht des Kantons Aargau, der IV-Stelle des Kantons
Aargau und der Ausgleichskasse des Kantons Aargau zu-
gestellt.
Luzern, 15. Februar 2000
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: