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Original
 
[AZA]
I 224/99 Vr
III. Kammer
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer;
Gerichtsschreiberin Weber Peter
Urteil vom 5. Mai 2000
in Sachen
B.________, 1939, Beschwerdeführer, vertreten durch den
Rechtsdienst X.________,
gegen
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, Bern, Beschwerde-
gegnerin,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
A.- B.________, geboren 1939, ein jenischer Händler,
Messer- und Scherenschleifer, erlitt am 30. Dezember 1995
einen Herzinfarkt. Am 8. Januar 1997 meldete er sich bei
der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle
Bern zog verschiedene Arztberichte bei, liess einen Abklä-
rungsbericht für Selbstständigerwerbende erstellen (Bericht
vom 7. Oktober 1997) und klärte die Einkommensverhältnisse
des Versicherten ab. Gestützt darauf verfügte sie am
29. Mai 1998, dass kein Anspruch auf eine Invalidenrente
bestehe, da keine rentenbegründende Erwerbseinbusse ausge-
wiesen sei.
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher
B.________ die Zusprechung einer halben Invalidenrente ab
1. Dezember 1996 beantragen liess, wies das Verwaltungs-
gericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 23. Februar 1999
ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Ver-
sicherte das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren er-
neuern.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungs-
gerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
hat sich nicht vernehmen lassen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- a) Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen ist die Überprü-
fungsbefugnis des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
nicht auf die Verletzung von Bundesrecht einschliesslich
Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der
angefochtenen Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die
vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachver-
halts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu
deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).
b) Im Rahmen der Rechtsanwendung von Amtes wegen hat
der Sozialversicherungsrichter auf den festgestellten Sach-
verhalt jenen Rechtssatz anzuwenden, den er als den zutref-
fenden ansieht, und ihm auch die Auslegung zu geben, von
der er überzeugt ist (BGE 110 V 20 Erw. 1, 52 f. Erw. 4a;
vgl. BGE 116 V 26 f. Erw. 3c; ZAK 1988 S. 615 Erw. 2a). Der
Richter hat sich nicht darauf zu beschränken, den Streit-
gegenstand bloss im Hinblick auf die von den Parteien auf-
geworfenen Rechtsfragen zu überprüfen (Gygi, Bundesverwal-
tungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 212). Er kann eine Be-
schwerde gutheissen oder abweisen aus anderen Gründen als
vom Beschwerdeführer vorgetragen oder von der Vorinstanz
erwogen (Art. 114 Abs. 1 am Ende in Verbindung mit Art. 132
OG; BGE 122 V 36 Erw. 2b, 119 V 28 Erw. 1b mit Hinweisen,
442 Erw. 1a).
2.- Das kantonale Gericht hat die vorliegend massge-
benden gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze über den
Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 IVG) sowie die
Bemessung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen nach
der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28
Abs. 2 IVG) zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen
werden.
Zu ergänzen bleibt, dass, falls sich die beiden hypo-
thetischen Erwerbseinkommen nicht zuverlässig ermitteln
oder schätzen lassen, in Anlehnung an die spezifische
Methode für Nichterwerbstätige (Art. 27 IVV) ein Betäti-
gungsvergleich anzustellen und der Invaliditätsgrad nach
Massgabe der erwerblichen Auswirkungen der verminderten
Leistungsfähigkeit in der konkreten erwerblichen Situation
zu bestimmen ist (ausserordentliches Bemessungsverfahren;
BGE 104 V 137 Erw. 2c).
3.- In medizinischer Hinsicht steht fest und ist un-
bestritten, dass der Beschwerdeführer für körperlich leich-
te Arbeiten zu 50 % arbeitsfähig ist. Gemäss den überein-
stimmenden Arztberichten sollte er körperlich anstrengende
Arbeiten sowie längeres Stehen vermeiden und keine schweren
Lasten heben oder tragen. Streitig und zu prüfen ist, wie
sich diese festgestellte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit
erwerblich auswirkt.
a) Vorinstanz und Verwaltung gingen bei der Invalidi-
tätsbemessung hinsichtlich des hypothetischen Einkommens
ohne Invalidität (Valideneinkommen) von einem Jahresein-
kommen des Beschwerdeführers aus selbstständiger Erwerbs-
tätigkeit als Händler und Scherenschleifer von Fr. 18'900.-
aus. Sie stützten sich dabei auf die in der Steuerperiode
1995/96 erfolgte Bemessung nach Aufwand, nachdem der letzte
Auszug aus dem Individuellen Konto (IK) aus dem Jahr 1995
stammte (Fr. 17'800.-) und gemäss der IK-Zusammenstellung
von Beginn weg immer nur niedrige Beiträge abgerechnet
worden waren. Hinsichtlich des Invalideneinkommens stellten
sie sich auf den Standpunkt, dass es dem Beschwerdeführer
aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung möglich
und zumutbar wäre, körperlich leichte Montagearbeiten zu
50 % zu verrichten, wofür er beispielsweise in der Band-
Genossenschaft unter Berücksichtigung eines Abzugs von 20 %
einen Jahreslohn von Fr. 14'560.- erzielen könnte. Aus der
Gegenüberstellung dieser beiden Einkommen resultierte eine
Erwerbseinbusse von 23 %, weshalb der Anspruch auf eine
Invalidenrente verneint wurde.
b) Vorab gilt es Folgendes zu bemerken: Steht fest,
dass ein Versicherter bereits als Valider aus invaliditäts-
fremden Gründen (wie vorliegend beispielsweise die Tat-
sache, dass der Beschwerdeführer ein Fahrender ist) nur ein
erheblich unterdurchschnittliches Erwerbseinkommen erziel-
te, so ist diesem Umstand im Rahmen der Invaliditätsbemes-
sung entweder überhaupt nicht oder bei beiden Vergleichs-
einkommen Rechnung zu tragen (ZAK 1989 S. 458 Erw. 3b; RKUV
1993 Nr. U 168 S. 104 Erw. 5b). Wird diesfalls beim Invali-
deneinkommen die der verbliebenen Leistungsfähigkeit ent-
sprechende übliche Entlöhnung herangezogen, so darf deshalb
das Valideneinkommen nicht nach Massgabe des vor Eintritt
der Invalidität effektiv erzielten Lohnes ermittelt werden.
Es wäre vielmehr für die Ermittlung des Valideneinkommens
allenfalls auf die entsprechenden statistischen Tabellen-
löhne und nicht auf das letzte Einkommen abzustellen. Vor-
instanz und Verwaltung haben beim Einkommensvergleich die-
sem Umstand nicht Rechnung getragen. Dies Nachzuholen kann
jedoch unterbleiben, da - wie nachfolgend ausgeführt wird -
zur Ermittlung des Invaliditätsgrades vorliegend nicht die
allgemeine Methode des Einkommensvergleichs, sondern das
ausserordentliche Bemessungsverfahren zur Anwendung ge-
langt.
c) Es steht fest und wird nicht bestritten, dass der
Beschwerdeführer ein Mitglied des fahrenden Volkes ist und
sich seinen Lebensunterhalt als selbstständiger Messer- und
Scherenschleifer verdient hat. Daneben übt er ehrenamtlich
die Funktion des Präsidenten des Kulturzentrums der Fahren-
den aus. Für den Fall einer regelmässigen Tätigkeit in
einer Fabrik, wie bei der Ermittlung des Invalideneinkom-
mens angenommen wurde, müsste er sesshaft werden. Dies
würde für den Beschwerdeführer, wie zu Recht eingewendet
wird, einen weitgehenden Verlust der familiären und kultu-
rellen Beziehungen, und damit einhergehend die Gefahr der
Entwurzelung zur Folge haben. Diese Umstellung ist dem Ver-
sicherten nicht zuzumuten, umso weniger als er heute be-
reits 60 Jahre alt ist und auch von medizinischer Seite
eine Belassung in den bekannten sozialen Verhältnissen
empfohlen wird. Entgegen der Vorinstanz ist es dem Be-
schwerdeführer unter diesen Umständen nicht zuzumuten, den
Beruf zu wechseln und eine Tätigkeit als Fabrikarbeiter
auszuüben. Zudem ist die Lebenssituation des Beschwerde-
führers bzw. dessen Betroffenheit in der Lebensgestaltung
mit derjenigen eines über 50jährigen Bauern - dem ein Be-
rufswechsel zugemutet wurde - nicht zu vergleichen.
Da bei dieser Ausgangslage ein zuverlässiger Einkom-
mensvergleich nicht möglich ist, gilt es den Invaliditäts-
grad in Anwendung des ausserordentlichen Bemessungsver-
fahrens zu bestimmen (vgl. Erw. 2 hiervor). Dazu ist zu-
nächst ein Betätigungsvergleich vorzunehmen, bei dem zu
prüfen ist, welche bisherigen Arbeiten der Versicherte
wegen seines Gesundheitsschadens nicht mehr ausführen kann.
Die noch vorhandene Arbeitsfähigkeit im bisherigen Auf-
gabenbereich ist mit dem Leistungsvermögen im Gesundheits-
fall zu vergleichen. Diese Differenz entspricht dann dem
Grad der Arbeitsunfähigkeit und ist in erwerblicher Hin-
sicht zu gewichten. Die Tätigkeit als Präsident des Kultur-
zentrums ist, obwohl ehrenamtlich ausgeübt, ebenfalls zu
berücksichtigen. Entgegen der Auffassung des Beschwerde-
führers lässt sich nicht einfach von der medizinisch-theo-
retischen Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit auf eine
entsprechende Beeinträchtigung in der Erwerbsfähigkeit
schliessen und ein Invaliditätsgrad von 50 % annehmen. Es
erweist sich mithin als unumgänglich, die Sache an die
Verwaltung zurückzuweisen, damit sie in Anwendung des
ausserordentlichen Bemessungsverfahrens den Invaliditäts-
grad neu bestimme.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne
gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsge-
richts des Kantons Bern vom 23. Februar 1999 und die
Verfügung der IV-Stelle Bern vom 29. Mai 1998 aufge-
hoben werden und die Sache an die IV-Stelle zurück-
gewiesen wird, damit diese, nach erfolgter Abklärung
im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu
verfüge.
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III.Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (einschliess-
lich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
IV.Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren ent-
sprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses
zu befinden haben.
V.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsge-
richt des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche
Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und
dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 5. Mai 2000
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der III. Kammer:
Die Gerichtsschreiberin: