BGer U 426/1999
 
BGer U 426/1999 vom 16.08.2000
«AZA 0»
U 426/99 Ge
II. Kammer
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Meyer und Ferrari; Gerichtsschreiber Signorell
Urteil vom 16. August 2000
in Sachen
Versicherungs-Gesellschaft X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Hans Schraner, Weinbergstrasse 43, Zürich,
gegen
L.________, 1952, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin Katharina Landolf, Weinbergstrasse 72, Zürich,
und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
A.- L.________ (geb. 1952) ist als selbstständigerwerbstätige Physiotherapeutin bei der Versicherungs-Gesellschaft X.________ freiwillig gegen Unfall versichert. Wegen eines am 9. September 1984 erlittenen Auffahrunfalles erbrachte ihr die X.________ seither gestützt auf ärztlicherseits attestierte Behandlungsbedürftigkeit und (teilweise) Arbeitsunfähigkeit Krankenpflege und -geld.
Mit Verfügung vom 30. September 1994 lehnte die X.________ den Rentenanspruch ab; Taggeldleistungen würden bis 31. August 1994 erbracht; die Integritätsentschädigung legte sie auf Fr. 31 320.- fest. Die hiegegen eingereichte Einsprache wies die Gesellschaft mit Entscheid vom 22. Februar 1995 ab.
B.- L.________ liess Beschwerde an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich erheben mit den Anträgen, es sei ihr eine 50%ige Invalidenrente zuzusprechen und die X.________ zu verpflichten, Taggelder bis 1. September 1994 «nach Massgabe der ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit zu bezahlen».
Die X.________ schloss auf Abweisung der Beschwerde.
Replik- und duplikweise hielten die Parteien an ihren Anträgen fest.
Nach Aktenergänzungen hiess das Sozialversicherungsgericht die Beschwerde in dem Sinne gut, dass es, zufolge bejahten natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhanges, den Einspracheentscheid im Rentenpunkt aufhob und die Sache an die X.________ zurückwies, damit diese nach weiteren Abklärungen über den Rentenanspruch neu entscheide; in Bezug auf die bis 1. September 1994 geltend gemachte Taggeldberechtigung trat das Gericht auf die Beschwerde nicht ein (Entscheid vom 26. Oktober 1999).
C.- Die X.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Anträgen, der Entscheid des kantonalen Gerichts sei aufzuheben und ihr Einspracheentscheid zu bestätigen; zwecks Ergänzungen und neuem Entscheid sei die Sache eventuell an das kantonale Gericht, subeventuell an sie zurückzuweisen.
L.________ lässt sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat keine Stellungnahme eingereicht.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Das kantonale Gericht hat zu Recht erkannt, dass die Beschwerdeführerin weder im Verwaltungsakt vom 30. September 1994 noch im auf Einsprache hin ergangenen Entscheid über den Taggeldanspruch (Art. 16 f. UVG) eine konkrete Anordnung getroffen hat, welcher Verfügungscharakter (Art. 5 Abs. 1 VwVG) zukäme. Mangels eines Anfechtungsgegenstandes betreffend dieses Rechtsverhältnisses ist das kantonale Gericht richtigerweise auf die vorinstanzliche Beschwerde in diesem Punkt nicht eingetreten (BGE 125 V 413). Damit ist über Grundsatz und Ausmass eines allfälligen Anspruchs der Beschwerdegegnerin auf Taggeld bis zu dem - weder aufgrund der Vorbringen der Parteien noch nach der Aktenlage in Frage zu stellenden (BGE 110 V 53) - Datum des Fallabschlusses (Art. 19 Abs. 1 UVG) am 1. September 1994 etwas präjudiziert.
2.- Der Anspruch auf Invalidenrente (Art. 18 f. UVG), der nach dem Gesagten für die Zeit ab 1. September 1994 in Betracht fällt, ist hinsichtlich des natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhanges (Art. 6 Abs. 1 UVG) sowie des rentenbegründenden Invaliditätsgrades (Art. 18 Abs. 2 UVG) umstritten.
a) Das kantonale Gericht hat die nach der Rechtsprechung zum natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang ergangenen Grundsätze zutreffend dargelegt, welche bei der Beurteilung von Distorsionsverletzungen der Halswirbelsäule zu beachten sind (BGE 119 V 335, 117 V 359). Es kann vollumfänglich auf die vorinstanzlichen Erwägungen verwiesen werden.
aa) Entgegen den Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zum vorinstanzlich bejahten natürlichen Kausalzusammenhang ist zunächst aufgrund der bei den Akten liegenden medizinischen Berichte durchaus davon auszugehen, dass die Beschwerdegegnerin am 9. September 1994 ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule erlitten hat. Das geht schon aus den zeitlich am nächsten beim Unfallereignis vom 9. September 1984 liegenden Berichten der Chiropraktoren Dr. K.________ vom 9. und Dr. A.________ vom 12. November 1984 sowie des Dr. med. O.________, Spezialarzt FMH für Neurologie, vom 27. November 1984 hervor und findet sich in der Folge immer wieder medizinisch bestätigt (Gutachten Dr. med. T.________, Spezialarzt FMH für Chirurgie und Orthopädie, orthopädische Chirurgie, vom 22. September 1986; Expertise des Dr. med. F.________, Spezialarzt für Neurologie FMH, vom 17. März 1991). Am Vorhandensein einer erlittenen Halswirbelsäulenschädigung und am zwar nicht strikten, jedoch medizinisch plausiblen Nachweis einer fassbaren unfallmässigen Schädigung vermöchte die von der Beschwerdeführerin beantragte biomechanische und unfalltechnische Expertise nichts zu ändern. Davon abgesehen ist die Beschwerdeführerin darauf hinzuweisen, dass es in erster Linie ihre gesetzliche Pflicht ist, den Unfalltatbestand umgehend abzuklären (Art. 47 Abs. 1 UVG). Es geht deshalb nicht an, von solchen - unter Umständen für eine gesamtheitliche Betrachtungsweise in der Tat wertvollen - Beweismassnahmen entgegen der gesetzlichen Abklärungspflicht abzusehen, um deren Durchführung nach Jahr und Tag im (letztinstanzlichen) Prozess zu beantragen. Das Gleiche gilt für die behauptete fehlerhafte Instruktion der berichtenden und begutachtenden Ärzte, weshalb die Beschwerdeführerin mit dem Einwand nicht zu hören ist, die Beschwerdegegnerin habe den Unfallhergang den im Administrativverfahren beigezogenen Ärzten unrichtig geschildert, sodass deren Berichte unbrauchbar seien. Im Übrigen hat die Vorinstanz im Einzelnen dargelegt, dass die - im Abstand von mehreren Jahren - abgegebenen Schilderungen des Unfallherganges durch die Beschwerdegegnerin nicht erheblich voneinander abweichen.
bb) Der Vorinstanz beizupflichten ist auch in ihrer Beurteilung der adäquaten Kausalität, welche sie - zufolge Fehlens jeglicher überlagernder psychischer Befunde (Expertise des Dr. med. F.________ S. 6 Ziff. 26 mit Verweis auf weitere Berichte) - zu Recht nach Massgabe von BGE 117 V 359, insbesondere 367, ohne Differenzierung nach den Kriterien «physisch/psychisch» vorgenommen hat. Unfälle der hier zu beurteilenden Art qualifiziert die Rechtsprechung in der Regel als mittelschwere, aber im Grenzbereich zu den leichten Unfällen stehende Ereignisse (RKUV 1997 Nr. U 272 S. 167; Urteil E. vom 21. Juni 1999, U 128/98). Dazu hat das kantonale Gericht im Wesentlichen und im Ergebnis überzeugend dargelegt, dass mehrere der massgeblichen Kriterien in ausgeprägter Weise erfüllt sind. Die Beschwerdeführerin stellt letztlich nur das Kriterium der langdauernden Arbeitsunfähigkeit in Frage. Dies zu Unrecht, hat sie selber doch eine solche aufgrund der ärztlichen Atteste während vieler Jahre angenommen und mit Taggeld entschädigt. Dass die Vorinstanz auch den schwierigen Heilungsverlauf bejahte, kann in Anbetracht der über zehn Jahre hin fortgesetzten therapeutischen Bemühungen, die alle im Wesentlichen keinen Erfolg zeitigten, nicht beanstandet werden. Mit der Vorinstanz ist die Adäquanz zu bejahen, dies im Sinne von BGE 117 V 369 und RKUV 1997 Nr. U 272 167.
b) Was die invaliditätsmässigen Anspruchsvoraussetzungen anbelangt, übersieht die Beschwerdeführerin bei ihren Vorbringen, dass es im derzeitigen Verfahrensstadium nicht Sache des letztinstanzlichen Gerichtes ist, den Invaliditätsgrad zu bestimmen oder das hiebei zu beachtende ordentliche oder ausserordentliche Bemessungsverfahren festzulegen noch die zu treffenden Abklärungen (unter Umständen solche betrieblicher Art, Buchhaltungsexpertise etc.) verbindlich vorzuschreiben. Der Vorinstanz ist darin beizupflichten, dass die derzeit verfügbaren Unterlagen eine schlüssige Festsetzung des Invaliditätsgrades mit Wirkung ab 1. September 1994 nicht erlauben, weshalb die Sache zu Recht an die Beschwerdeführerin zurückgewiesen wurde. Dabei bleibt vorderhand offen, ob das ordentliche Verfahren des Einkommens- oder das ausserordentliche Verfahren des erwerblich gewichteten Betätigungsvergleiches (BGE 104 V 136 Erw. 2b) anzuwenden sein wird. Rückschlüsse für den Entscheid darüber könnten sich nämlich gerade aus den vorzunehmenden Abklärungen selber ergeben, z.B. im Lichte der von der Beschwerdegegnerin ebenfalls einzuholenden Geschäftsabschlüsse der Jahre nach 1995. Im Hinblick auf die Rechtsprechung zur Einheitlichkeit des Invaliditätsbegriffes (vgl. zuletzt das zur Publikation in BGE 126 V vorgesehene Urteil G. vom 26. Juli 2000, I 512/98) wird zu berücksichtigen sein, dass seitens der Eidgenössischen Invalidenversicherung eine mindestens 40%ige Invalidität durch Verfügung vom 23. September 1991, letztinstanzlich bestätigt mit Urteil vom 6. Juli 1994, verneint worden ist.
3.- Bei diesem Verfahrensausgang hat die Beschwerdegegnerin Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 159 OG).
Das Verfahren ist kostenfrei (Art. 134 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Die Beschwerdeführerin hat der Beschwerdegegnerin für
das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungs-
gericht eine Parteientschädigung von Fr. 1500.- (ein-
schliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversiche-
rungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 16. August 2000
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer:
i.V.
Der Gerichtsschreiber: