BGer 1P.629/2000
 
BGer 1P.629/2000 vom 20.10.2000
[AZA 0]
1P.629/2000/odi
I. ÖFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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20. Oktober 2000
Es wirken mit: Bundesrichter Nay, präsidierendes Mitglied
der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter
Aeschlimann, Bundesrichter Féraud und Gerichtsschreiberin Widmer.
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In Sachen
I.________, z.Zt. Bezirksgefängnis Zürich, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Guido Hensch, Genferstrasse 23, Postfach 249, Zürich,
gegen
Bezirksanwaltschaft Zürich, Büro A-8, Bezirksgericht Zürich, Haftrichteramt,
betreffend
persönliche Freiheit
(Haftprüfung; Kollusionsgefahr), hat sich ergeben:
A.- I.________ wird der versuchten Tötung resp. schweren Körperverletzung verdächtigt. Er fügte seiner Ehefrau am Abend des 28. Juni 2000 anlässlich einer heftigen Auseinandersetzung schwere Verletzungen mit einem Küchenmesser zu.
Noch am selben Tag stellte er sich der Polizei und wurde anschliessend vom Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich in Untersuchungshaft gesetzt. Am 30. August 2000 ersuchte I.________ um Entlassung aus der Untersuchungshaft bis spätestens
28. September 2000; eventualiter sei eine Ersatzmassnahme anzuordnen. Der Haftrichter wies das Gesuch am 5. September 2000 ab und erstreckte die Haft bis zum 30. November 2000. Zur Begründung führte er an, neben dem dringenden Tatverdacht bestehe Flucht- und Kollusionsgefahr.
B.- Gegen den Haftprüfungsentscheid vom 5. September 2000 ist I.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde ans Bundesgericht gelangt. Er rügt eine willkürliche Anwendung kantonalen Rechts und beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und er aus der Haft zu entlassen. Zudem ersucht er für das bundesgerichtliche Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Das Bezirksgericht und die Bezirksanwaltschaft haben ausdrücklich auf eine Stellungnahme verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Der Beschwerdeführer ist legitimiert, gegen die Abweisung seines Haftentlassungsgesuchs staatsrechtliche Beschwerde zu erheben (Art. 88 OG). Sein Antrag auf Entlassung aus der Haft ist in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig, da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung der angefochtenen Verfügung, sondern erst mit einer positiven Anordnung wieder hergestellt werden kann (BGE 124 I 327 E. 4a und b S. 332 f.; 115 Ia 293 E. 1a; je mit Hinweisen).
Der Beschwerdeführer wirft dem Haftrichter eine unzulässige Vorverurteilung vor, ohne dies im Sinn von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG näher zu begründen; insofern kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden (vgl. BGE 125 I 492 E. 1b, 71 E. 1c; 122 I 70 E. 1c). Zulässig sind hingegen die Rügen, der Haftrichter habe das Gebot der Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) und der willkürfreien Rechtsanwendung (Art. 9 BV) verletzt.
Da die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist mit dem erwähnten Vorbehalt auf die Beschwerde einzutreten.
2.- a) Der Freiheitsentzug stellt einen Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit dar, das in den Art. 10 Abs. 2 und 31 BV gewährleistet ist. Dieser Eingriff ist nur zulässig, wenn er auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und verhältnismässig ist. Zudem ist der Kerngehalt der persönlichen Freiheit unantastbar: Diese darf weder völlig unterdrückt noch ihres Gehalts als Institution der Rechtsordnung entleert werden (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 36 BV; vgl. BGE 125 I 361 E. 4a; 124 I 80 E. 2c; je mit Hinweisen). Art. 5 EMRK geht in seinem Gehalt nicht über den verfassungsmässigen Anspruch auf persönliche Freiheit hinaus. Indessen berücksichtigt das Bundesgericht bei der Konkretisierung dieses Anspruchs auch die Rechtsprechung der Konventionsorgane (BGE 114 Ia 281 E. 3; 108 Ia 64 E. 2c mit Hinweisen).
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Anwendung der kantonalen Haftbestimmungen. Angesichts der Schwere des mit einem Freiheitsentzug verbundenen Eingriffs in die persönliche Freiheit überprüft das Bundesgericht die Auslegung und Anwendung der kantonalen Eingriffsnormen mit freier Kognition (BGE 124 I 80 E. 2; 123 I 31 E. 3a). Der Willkürrüge kommt hier deshalb nur insoweit selbständige Bedeutung zu, als Sachverhaltsfeststellungen sowie Fragen der Beweiswürdigung in die Beurteilung miteinzubeziehen sind (BGE 123 I 31 E. 3a und 268 E. 2d; 117 Ia 72 E. 1; je mit Hinweisen).
b) Nach § 58 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich (StPO/ZH) darf Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn neben dem dringenden Verdacht eines Verbrechens oder Vergehens ausserdem Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr besteht. Die Untersuchungshaft ist aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen weggefallen sind (§ 58 Abs. 3 StPO/ZH), und sie ist durch eine mildere Massnahme zu ersetzen, sobald eine solche in Betracht fällt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. den §§ 72 und 73 StPO/ZH).
Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, seine Ehefrau mit Messerstichen verletzt und damit den dringenden Tatverdacht begründet zu haben. Er wendet sich aber gegen die Annahme des Haftrichters, es liege Flucht- und Kollusionsgefahr vor.
3.- a) Kollusion bedeutet insbesondere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen, Auskunftspersonen, Sachverständigen oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst. Die Untersuchungshaft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit dazu missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhalts zu gefährden oder zu vereiteln (BGE 123 I 31 E. 3c S. 35 mit Hinweisen).
b) Die äusseren Tathandlungen werden im Grundsatz vom Beschwerdeführer nicht bestritten. Hinsichtlich der Beurteilung seiner inneren Einstellung zur Tat sind jedoch noch weitere Abklärungen erforderlich. Der Haftrichter befürchtet, der Beschwerdeführer würde in Freiheit versuchen, seine Familienangehörigen im Aussageverhalten zu beeinflussen.
Diese Gefahr nimmt der Haftrichter auch im Verhältnis zu H.________ an, zu dem sich der Beschwerdeführer unmittelbar nach der Tat begeben hat, und dem er den Vorfall gestanden haben soll. Der Haftrichter geht aufgrund der aktuellen Aktenlage davon aus, dass das Geschworenengericht des Kantons Zürich zur Beurteilung der Sache zuständig sein wird.
Er weist darauf hin, dass aufgrund des dort zur Anwendung gelangenden Unmittelbarkeitsprinzips den Zeugenaussagen ein besonderes Gewicht zukomme.
Theoretisch besteht somit die Möglichkeit, den strafrechtlich relevanten Sachverhalt zu verdunkeln, noch bis zum Abschluss des Verfahrens vor Geschworenengericht fort; dies, obwohl wichtige Einvernahmen bereits stattgefunden haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts genügt indessen die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, nicht, um die Fortsetzung der Haft oder die Nichtgewährung von Urlauben unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Anhaltspunkte eine Verdunkelungsgefahr nahe legen (BGE 123 I 31 E. 3c S. 35 mit Hinweisen).
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist es zulässig, neben den objektiven Faktoren im Rahmen eines Strafverfahrens auch die subjektiven Eigenschaften des Angeschuldigten in die Beurteilung der Kollusionsgefahr miteinzubeziehen (BGE 117 Ia 257 E. 4c). Nach den Angaben der Ehefrau des Beschwerdeführers vom 7. August 2000 gegenüber der Bezirksanwaltschaft soll dieser ihr schon mehrmals gedroht haben, sie mit dem Messer zu töten. Die Tochter sagte am 24. August 2000 aus, ihr Vater sei gegenüber ihrer Mutter bereits früher tätlich geworden. Die Aussagen des Beschwerdeführers über seine innere Gesinnung gegenüber seiner Ehefrau geben ein anderes Bild ab. In Bezug auf den fraglichen Vorfall macht er geltend, als er seine Ehefrau "geschlagen" habe, sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er ein Messer in der Hand halte. Angesichts der erwähnten Belastungen durch seine Familienangehörigen hat der Beschwerdeführer ein Interesse daran, die Zeugen und Auskunftspersonen zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Dass er im Falle der Freilassung tatsächlich einen entsprechenden Druck ausüben würde, muss vorläufig jedenfalls im Verhältnis zu seinen nahen Angehörigen bejaht werden. Konkrete Hinweise dafür ergeben sich insbesondere aus den Darlegungen der Ehefrau darüber, wie der Beschwerdeführer sich in der Familie bisher durchzusetzen versucht hat. Mit welchen milderen Massnahmen als einer Aufrechterhaltung der Haft der Beschwerdeführer an der Beeinflussung dieser Personen gehindert werden könnte, ist nicht ersichtlich. Da der angefochtene Entscheid auch angesichts der bisherigen Haftdauer von rund vier Monaten verhältnismässig erscheint, bewirkt er im Ergebnis keine unzulässige Einschränkung der persönlichen Freiheit des Beschwerdeführers.
c) Ob neben der Kollusionsgefahr auch Fluchtgefahr anzunehmen ist, kann unter diesen Umständen offen gelassen werden. Auf die diesbezüglich erhobene Rüge des Verstosses gegen Art. 8 BV braucht nicht näher eingegangen zu werden.
4.- Demnach ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege kann entsprochen werden, da die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers ausgewiesen ist und die Beschwerde nicht zum vornherein aussichtslos war (Art. 152 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.
2.- Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
a) Es werden keine Kosten erhoben;
b) Rechtsanwalt Dr. Guido Hensch, Zürich, wird als amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'000.-- entschädigt.
3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft Zürich (Büro A-8) und dem Bezirksgericht Zürich (Haftrichteramt) schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 20. Oktober 2000
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin: