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Original
 
[AZA 0/2]
5C.227/2000/sch
II. Z I V I L A B T E I L U N G ********************************
21. Dezember 2000
Es wirken mit: Bundesrichter Reeb, Präsident der II. Zivilabteilung,
Bundesrichter Merkli, Bundesrichter Meyer und
Gerichtsschreiber von Roten.
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In Sachen
H.S.________ und G.S.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Stutz, Bahnhofstrasse 42, 5401 Baden,
gegen
Obergericht (3. Zivilkammer) des Kantons Aargau,
betreffend
Frist zur Erklärung über den Erwerb der Erbschaft,
wird festgestellt und in Erwägung gezogen:
1.- Über den Nachlass der am 21. April 1997 verstorbenen S.E.________ wurde ein Inventar im Sinne von Art. 580 ff.
ZGB aufgenommen. Der Gerichtspräsident von Zurzach bewilligte den Erben H.S.________ und G.S.________ eine letzte Fristverlängerung bis 31. Mai 2000, um sich über Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft zu erklären. Die Beschwerde gegen dessen Verfügung wies das Obergericht (3. Zivilkammer) des Kantons Aargau ab (Ziffer 1) und setzte H.S.________ und G.S.________ "für die Erklärung über Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft eine Nachfrist von 10 Tagen ab Zustellung dieses Urteils" an (Ziffer 2 des Urteils vom 19. September 2000).
Mit staatsrechtlicher Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde beantragen H.S.________ und G.S.________ dem Bundesgericht, das obergerichtliche Urteil aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung zurückzuweisen. Den Beschwerden sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, eventualiter sei die Frist für die Erklärung über Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft angemessen zu erstrecken unter Einräumung der Möglichkeit weiterer Fristerstreckungen. Das Obergericht hat unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil auf Gegenbemerkungen zum Hauptantrag wie auch zum Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung verzichtet.
Der Präsident der II. Zivilabteilung des Bundesgerichts hat den Beschwerden die aufschiebende Wirkung zuerkannt und das Obergericht sowie das Gerichtspräsidium angewiesen, bis zum Abschluss der bundesgerichtlichen Verfahren das obergerichtliche Urteil vom 19. September 2000 nicht zu vollstrecken und von einer Publikation im Amtsblatt des Kantons Aargau abzusehen (Verfügungen vom 24. Oktober und vom 9. November 2000).
2.- Kantonal letztinstanzliche Entscheide über das Verfahren der Inventaraufnahme gemäss Art. 581 ff. ZGB ergehen in Zivilsachen, aber nicht in Zivilrechtsstreitigkeiten, weshalb die Berufung - da auch keine der in Art. 44 lit. a-f und Art. 45 lit. b OG genannten Ausnahmen zutrifft - ausgeschlossen ist (BGE 94 II 55 E. 2 S. 57; 104 II 136 E. 1); zulässig ist dagegen die Nichtigkeitsbeschwerde (vgl.
Messmer/Imboden, Die eidgenössischen Rechtsmittel in Zivilsachen, Zürich 1992, N. 129 S. 178 f.). Werden gegen das nämliche kantonale Urteil gleichzeitig staatsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt, gilt nach Art. 57 Abs. 5 OG "sinngemäss" (Art. 74 OG), dass die Entscheidung über diese in der Regel bis zur Erledigung jener auszusetzen ist. Die für die eidgenössische Berufung geschaffene Regel gestattet im Verhältnis von staatsrechtlicher Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde weitergehende Ausnahmen, da das Urteil über die Nichtigkeitsbeschwerde - im Gegensatz zu demjenigen über die Berufung - das kantonale Urteil nicht ersetzt (BGE 118 II 521 E. 1 S. 523). Mit ihrer Nichtigkeitsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer gegen die Abweisung der Beschwerde und gegen die Nachfristansetzung durch das Obergericht, während sie mit staatsrechtlicher Beschwerde nur den zweiten Punkt als verfassungswidrig rügen. Sie heben zu Recht hervor, dass die Frage der Nachfristansetzung von vornherein gegenstandslos wird, wenn das Obergericht ihre kantonale Beschwerde zu Unrecht abgewiesen haben sollte. Antragsgemäss ist deshalb das Vorliegen von Nichtigkeitsgründen zuerst zu prüfen.
3.- Unter der Überschrift "Zur weiteren materiellen Begründung der Nichtigkeitsbeschwerde" befassen sich die Beschwerdeführer eingehend mit der obergerichtlichen Anwendung von Art. 587 Abs. 2 ZGB und halten dafür, bei richtiger Auslegung dieser Bestimmung und zutreffender Abwägung der auf dem Spiele stehenden Interessen hätte ihnen eine Frist zur Erklärung über den Erwerb der Erbschaft eingeräumt werden müssen. Mit ihren Ausführungen übersehen die Beschwerdeführer, dass die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde nicht nur ein ausserordentliches Rechtsmittel ist, sondern auch ein unvollkommenes, weil nur die im Gesetz abschliessend aufgezählten Anfechtungsgründe vorgebracht werden können und bei Verneinung eines solchen die Nichtigkeitsbeschwerde entfällt ungeachtet dessen, ob Bundesrecht richtig angewendet worden ist; die in verfassungswidriger Weise erfolgte Rechtsanwendung ist hier mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen (Messmer/Imboden, a.a.O., N. 128 S. 177 und N. 131 S. 181 bei und in Anm. 8; Poudret/Sandoz-Monod, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, II, Bern 1990, N. 2.1 S. 626 f., Abs. 3 und 4). Da die Beschwerdeführer gegenüber Ziffer 1 des angefochtenen Urteils keine Nichtigkeitsgründe geltend machen und vielmehr eine uneingeschränkte rechtliche Überprüfung verlangen, kann auf ihre Nichtigkeitsbeschwerde nicht eingetreten werden. Diese kann mangels inhaltlich und formell tauglicher Rügen nicht als staatsrechtliche Beschwerde entgegengenommen werden (Art. 84 Abs. 1 lit. a und Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 112 II 366 E. 2 S. 368), soweit eine derartige Umdeutung des Rechtsmittels hier überhaupt in Betracht fiele (vgl. zu den Voraussetzungen allgemein: BGE 120 II 270 E. 2 S. 272).
4.- Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 68 Abs. 1 lit. a OG; Art. 49 Abs. 1 BV). Die obergerichtliche Fristansetzung zwinge sie bereits innert zehn Tagen Beschwerde zu erheben, weil die Gewährung der aufschiebenden Wirkung nicht auf einen früheren Zeitpunkt zurückzuwirken vermöge als auf denjenigen der Antragstellung und die Beurteilung des entsprechenden Gesuchs die Prüfung der Erfolgsaussichten der Beschwerde selber voraussetze (unter Verweis auf Birchmeier, Bundesrechtspflege, Zürich 1950, N. 2 zu Art. 70 OG) und weil die Erhebung eines Rechtsmittels nach Ablauf der gesetzten Frist mangels Rechtsschutzinteresses erfolglos bleiben müsste. Die Ansetzung einer Frist von zehn Tagen ab Zustellung des Urteils vereitle den Anspruch der Beschwerdeführer auf Ergreifung eines Rechtsmittels an das Bundesgericht innerhalb einer Frist von dreissig Tagen (Art. 69 Abs. 1 und Art. 89 Abs. 1 OG).
a) Im Prozess vorgebrachte Begehren sind nur zu beurteilen, wenn sie auf einem hinreichenden Rechtsschutzinteresse gründen. Das gilt auch für die Beurteilung von Rechtsmitteln, auch von ausserordentlichen. Dabei erschöpft sich das rechtlich geschützte Interesse daran nicht einfach in der sogenannten Beschwer, d.h. darin, dass einzelnen Begehren des Rechtsmittelklägers nicht oder nicht voll entsprochen worden ist. Erforderlich ist vielmehr, dass der Entscheid über das Rechtsmittel geeignet ist, dem Kläger den angestrebten materiellrechtlichen Erfolg zu verschaffen. Damit soll Prozessen und Verfahren vorgebeugt werden, die von vornherein oder mit Rechtsmitteln Unerreichbares anstreben, die selbst dann, wenn die vorgebrachte Rechtsauffassung begründet ist, dem Richter nicht erlauben, die Rechtslage entsprechend zu gestalten (BGE 114 II 189 E. 2 S. 190; 121 IV 317 E. 1a S. 320). Das Rechtsschutzinteresse an der Aufhebung der Nachfristansetzung gemäss Ziffer 2 des angefochtenen Urteils ist entfallen, nachdem der Beschwerde antragsgemäss die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden ist. Inwiefern - statt des aktuellen - ausnahmsweise ein bloss virtuelles Interesse an der Beschwerdeführung ausreichte (Poudret/Sandoz-Monod, N. 5.4 zu Art. 53 i.V.m. N. 5 zu Art. 71 OG; BGE 118 II 108 E. 2c S. 111), kann aus nachstehenden Gründen offen bleiben.
b) Der Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts verpflichtet die Kantone, ihr Verfahren so auszugestalten, dass dadurch Bundesrechtsmittel nicht vereitelt werden (z.B. kantonale Zuständigkeitsvorschriften und eidgenössische Berufung: BGE 119 II 183 E. 4 S. 185 und 241 E. 5c S. 247). Gemäss Art. 54 Abs. 2 OG tritt die Rechtskraft der Endentscheide nicht ein vor Ablauf der Berufungs- und Anschlussberufungsfrist, d.h. allein nach Bundesrecht bestimmt sich, wann die mit Berufung an das Bundesgericht weiterziehbaren Urteile der obern kantonalen Gerichte oder sonstigen Spruchbehörden rechtskräftig werden (zuletzt: BGE 126 III 261 E. 3b S. 264). Andere Bundesrechtsmittel haben keinen oder nur teilweisen Suspensiveffekt kraft Gesetzes; es bleibt dem Präsidenten des Bundesgerichts oder der urteilenden Abteilung überlassen, dem Rechtsmittel die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen (Art. 70 Abs. 2 OG, Art. 80 Abs. 2 OG i.V.m. Art. 36 SchKG und Art. 111 Abs. 2 OG) oder vorsorgliche Massnahmen zu treffen (Art. 94 und Art. 142 OG).
Verleiht das Bundesrechtspflegegesetz der Einlegung eines Rechtsmittels keinen Suspensiveffekt, wird der kantonale Entscheid rechtskräftig und vollziehbar. Der Bundesgesetzgeber unterstellt damit, dass die Vollstreckung des kantonalen Entscheids höher zu bewerten ist als der Anspruch des Bürgers auf Überprüfung durch das Bundesgericht. An diesen gesetzgeberischen Wertungsentscheid ist das Bundesgericht gebunden (Birchmeier, N. I/1 zu Art. 94 OG, vgl. N. 1 zu Art. 70 OG; Poudret/Sandoz-Monod, N. 1 zu Art. 70 OG; Kälin, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2.A. Bern 1994, S. 378; Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2.A. Bern 1983, S. 244). Es verstösst daher nicht gegen den Vorrang des Bundesrechts, in einem lediglich der staatsrechtlichen Beschwerde und der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde unterliegenden Urteil eine Frist anzusetzen, die eingehalten werden muss, bevor die entsprechenden Rechtsmittelfristen abgelaufen sind.
c) Was die Nachfristansetzung des Obergerichts anbetrifft, ist der behauptete Nichtigkeitsgrund aus den dargelegten Gründen nicht erfüllt. Die Nichtigkeitsbeschwerde muss diesbezüglich abgewiesen werden, soweit sie infolge Wegfalls des Rechtsschutzinteresses nicht gegenstandslos geworden ist. Offen bleiben kann bei diesem Ergebnis, ob die Annahme der Beschwerdeführer richtig ist, die Gewährung des Suspensiveffekts als vorsorgliche Massnahme wirke nicht auf den Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids zurück. Dieses Fehlen der Rückwirkung wird zwar teilweise - ohne Grundangabe - behauptet (Birchmeier, N. 2 zu Art. 70 OG, und ihm folgend: Poudret/Sandoz-Monod, N. 2 zu Art. 70 OG, Abs. 1 a.E.), doch findet sich zu vergleichbaren Fällen praktisch einhellig die gegenteilige Auffassung (ausführlich: von Castelberg, Zur aufschiebenden Wirkung bei der Zürcher Kassationsbeschwerde, FS Walder, Zürich 1994, S. 287 ff., S. 291-295, und ihm folgend z.B. Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3.A. Zürich 1997, N. 4 zu § 286 ZPO; für Art. 36 SchKG: Cometta, in:
Kommentar zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, Basel 1998, N. 11, Jaeger/Walder/Kull/Kottmann, Bundesgesetz über Schuldbetreibung und Konkurs, 4.A. Zürich 1997, N. 5 zu Art. 36 SchKG).
5.- Die unterliegenden Beschwerdeführer werden kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 und 7 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist und soweit sie nicht gegenstandslos geworden ist.
2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird den Beschwerdeführern unter solidarischer Haftbarkeit auferlegt.
3.- Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern und dem Obergericht (3. Zivilkammer) des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 21. Dezember 2000
Im Namen der II. Zivilabteilung
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
Der Präsident:
Der Gerichtsschreiber: