BGer 1A.256/2000
 
BGer 1A.256/2000 vom 27.02.2001
[AZA 0/2]
1A.256/2000/bmt
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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27. Februar 2001
Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter
Féraud, Bundesrichter Catenazzi und Gerichtsschreiber Dreifuss.
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In Sachen
Gemeinde Reichenburg, Beschwerdeführerin, vertreten durch die Fürsorgebehörde, diese vertreten durch Rechtsanwalt Viktor Estermann, Sempacherstrasse 6, Postfach 2070, Luzern,
gegen
Regierungsrat des Kantons Schwyz, Beschwerdegegner, Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz, Kammer III,
betreffend
Opferhilfegesetz, Beschwerdelegitimation, hat sich ergeben:
A.- Gegen die Eheleute X.________ wurden in den Jahren 1997 und 1998 Strafverfahren wegen verschiedenen Delikten gegen die körperliche und sexuelle Integrität ihrer Kinder sowie wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht eingeleitet. Am 18. Juni 1997 entzog ihnen die Vormundschaftsbehörde Reichenburg die elterliche Obhut über die Töchter A.________, B.________, C.________ und D.________ und ordnete deren Unterbringung in Pflegefamilien an. Der Beistand der Kinder reichte am 25. August 1997 beim Amt für Gesundheit und Soziales des Kantons Schwyz ein Gesuch um Ausrichtung von Opferhilfe ein, worin insbesondere um einen Vorschuss zur Übernahme von Pflegekosten ersucht wurde.
Nachdem sich die Eheleute X.________ im März 1998 getrennt hatten wurden am 27. April 1998 auch deren Söhne E.________ und F.________ in einer Pflegefamilie platziert.
Am 23. März 1999 ergänzte der Rechtsvertreter der Kinder das Opferhilfegesuch und machte nebst Anwaltskosten und Genugtuung Fürsorgekosten der Gemeinde Reichenburg in der Höhe von Fr. 390'000.-- geltend.
Am 18. Januar 2000 beschloss der Regierungsrat u.a.
die Zahlung eines Betrages von Fr. 103'334. 65 an die Gemeinde gegen Abtretung ihrer Ansprüche gegenüber den Eheleuten X.________ aus Art. 289 Abs. 2 ZGB und aus der kantonalen Sozialhilfegesetzgebung im selben Betrag.
B.- Gegen diesen Beschluss gelangte die Gemeinde Reichenburg mit Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz. Zur Begründung ihrer Beschwerdelegitimation machte sie geltend, sie werde durch den angefochtenen Beschluss direkt in ihren vermögensmässigen Interessen betroffen, indem sie selbst für die geltend gemachten Kosten aufzukommen habe, falls diese nicht über das Opferhilfegesetz abgegolten würden.
Mit Urteil vom 24. August 2000 verneinte das Verwaltungsgericht die Beschwerdebefugnis der Gemeinde und trat auf das Rechtsmittel nicht ein.
C.- Gegen diesen Entscheid führt die Gemeinde Reichenburg mit Eingabe vom 27. September 2000 Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Sie beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Regierungsrat sei zu verpflichten, ihr sämtliche Selbstkostenanteile für Therapie- und Behandlungskosten, allfällige ungedeckte Behandlungskosten sowie Fremdplatzierungskosten für die sechs Kinder zu erstatten. Eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen.
D.- Das Verwaltungsgericht und der Regierungsrat beantragen, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- a) Gemäss Art. 97 OG i.V.m. Art. 5 VwVG ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig gegen Verfügungen, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen oder hätten stützen sollen, sofern diese von den in Art. 98 OG genannten Vorinstanzen erlassen worden sind und keiner der in Art. 99 bis 102 OG oder in der Spezialgesetzgebung vorgesehenen Ausschlussgründe gegeben ist.
b) Das Verwaltungsgericht ist auf die kantonale Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Beschwerdeführerin gestützt auf kantonales Verfahrensrecht nicht eingetreten.
Nach Art. 98a Abs. 1 und 3 OG haben die Kantone die Beschwerdelegitimation in Angelegenheiten, in denen die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig ist, mindestens im gleichen Umfang wie das Bundesrecht für diese zu gewähren. In der Sache sind vorliegend Leistungen nach dem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz, OHG; SR 312. 5) streitig. Dabei handelt es sich um eine Materie, in der letztinstanzlich das Bundesgericht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde angerufen werden kann (BGE 126 II 237 E. 1 S. 239). Die Beschwerdeführerin macht geltend, das Verwaltungsgericht habe Art. 98a OG in Verbindung mit Art. 17 OHG verletzt, indem es ihr die Beschwerdebefugnis nach der Bestimmung von § 37 der Verordnung des Kantons Schwyz vom 6. Juni 1974 über die Verwaltungsrechtspflege (VRP), die inhaltlich mit der Legitimationsregelung für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht gemäss Art. 103 lit. a OG übereinstimme, verweigert habe. Diese Rüge kann im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den kantonal letztinstanzlichen Entscheid des Verwaltungsgerichts (Art. 98 lit. g OG) erhoben werden (vgl. BGE 125 II 10 E. 2b S. 13 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 123 V 113 E. 5b). Im Rahmen der vorliegenden Beschwerde ist auch die erhobene Rüge zulässig, der Nichteintretensentscheid verstosse gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK (vgl.
BGE 124 II 293 E. 4b S. 307; 123 II 88 E. 1a/bb; 289 E. 1c; 122 II 373 E. 1b S. 375).
Die Beschwerdeführerin hat ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids, mit dem ihr die Beschwerdebefugnis im kantonalen Verfahren aberkannt wurde, und ist somit zur Erhebung der vorliegenden Beschwerde berechtigt (Art. 103 lit. a OG; BGE 124 II 409 E. 1e/bb). Auf die form- und fristgerecht eingereichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist insoweit einzutreten.
c) Nicht eingetreten werden kann auf die Beschwerde, soweit die Beschwerdeführerin eine unrichtige Anwendung des Opferhilfegesetzes in der Sache geltend macht und beantragt, der Regierungsrat sei zur vollen Kostenerstattung zu verpflichten. Das Verwaltungsgericht hat sich im angefochtenen Entscheid ausschliesslich mit der Eintretensfrage bzw.
mit der Frage der Beschwerdelegitimation der Beschwerdeführerin befasst. Einzig diese kann daher Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sein.
2.- a) Die Beschwerdeführerin vermag sich zur Begründung ihrer Beschwerdelegitimation im kantonalen Verfahren nicht auf eine besondere Ermächtigung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Sinne von Art. 103 lit. c OG zu berufen.
Ihre Legitimation kann sich einzig aus der allgemeinen Bestimmung von Art. 103 lit. a OG ergeben (BGE 123 II 425 E. 2b). Danach ist zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde berechtigt, wer durch die angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung oder Änderung hat. Diese Beschwerdelegitimation ist herkömmlicherweise hauptsächlich auf Private zugeschnitten. Nach der Praxis des Bundesgerichts ist jedoch auch ein Gemeinwesen nach Art. 103 lit. a OG zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert, soweit es gleich oder ähnlich wie ein Privater betroffen ist (BGE 123 II 371 E. 2c S. 374, 425 E. 3a; 122 II 33 E. 1b S. 36; 118 Ib 614 E. 1b S. 616; mit Hinweisen).
Das gilt insbesondere dann, wenn es als materieller Verfügungsadressat in seinen vermögensrechtlichen Interessen betroffen ist (BGE 122 II 33 E. 1b S. 36, 382 E. 2b S. 383; 118 Ib 614 E. 1b S. 616). Darüber hinaus ist ein Gemeinwesen legitimiert, wenn es durch die angefochtene Verfügung in seinen hoheitlichen Befugnissen berührt ist und ein schutzwürdiges eigenes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (BGE 125 II 192 E. 2 S. 194; 124 II 409 E. 1e/bb S. 417 f.).
b) Es ist unbestritten, dass den Gemeinden des Kantons Schwyz im Bereich der Opferhilfe keine hoheitlichen Befugnisse zukommen und sich die Beschwerdeführerin insoweit zur Begründung der Legitimation nicht darauf berufen kann, sie sei in hoheitlichen Befugnissen betroffen. Die Beschwerdeführerin macht jedoch sinngemäss geltend, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass sie durch den Beschluss des Regierungsrates vom 18. Januar 2000 in ähnlicher Weise oder gleich wie ein Privater betroffen sei. Da ihr auf dem Gebiet der Opferhilfe im Gegensatz zum Kanton in dem vom Bundesgericht in BGE 123 II 425 beurteilten Fall keine hoheitlichen Befugnisse zustünden, sei sie selbst Rechtsunterworfene. Da der Regierungsrat im angefochtenen Beschluss nur einen Teil der Fremdplatzierungskosten für die sechs Kinder übernommen habe, seien die verbleibenden Kosten von ihr zu tragen. Damit werde massiv in ihr Finanzvermögen eingegriffen, wogegen sie sich zur Wehr setzen können müsse.
c) Wie das Verwaltungsgericht zu Recht erwog, regelt der Beschluss des Regierungsrates vom 18. Januar 2000 einzig die aus dem OHG fliessenden Ansprüche der Kinder gegenüber dem Kanton Schwyz (vgl. Art. 2 OHG). Daran ändert auch nichts, dass der Regierungsrat der Beschwerdeführerin im Beschluss vom 18. Januar 2000 einen Geldbetrag zugesprochen hat. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausführte, kann das vorliegend nur so verstanden werden, dass der Gemeinde Kosten für Opferhilfeleistungen erstattet wurden, die den Opfern zustanden und von der Gemeinde vorgeschossen worden waren. Es ist unbestritten, dass die getroffene Regelung Auswirkungen auf die finanziellen Interessen der Beschwerdeführerin hat, da diese die von der Opferhilfestelle nicht übernommenen Kosten nach der subsidiär zum Tragen kommenden kantonalen Sozialhilfegesetzgebung zu übernehmen hat. Anders als die Beschwerdeführerin geltend macht, ist sie damit aber nicht wie ein Privater betroffen, sondern in ihrer hoheitlichen Tätigkeit als Erbringerin von Fürsorgeleistungen (vgl.
Urteil des Bundesgerichts vom 22. Januar 1996 in ZBl 98/1997 S. 414 ff., E. 1e), und dies lediglich indirekt. Es kann sich demnach einzig fragen, ob ihr in dieser Eigenschaft ein schutzwürdiges Interesse an der Anfechtung des Beschlusses des Regierungsrates hätte zuerkannt werden müssen.
In BGE 123 II 425 ff. verneinte das Bundesgericht die Beschwerdelegitimation eines Kantons, der vom kantonalen Verwaltungsgericht selber zur Erbringung von Leistungen nach dem OHG verpflichtet worden war. Es entschied, dass das allgemeine finanzielle Interesse des in seiner hoheitlichen Stellung berührten Gemeinwesens, die zugesprochenen Opferhilfeleistungen nicht erbringen zu müssen, kein schützenswertes Interesse an der Aufhebung oder Änderung der angefochtenen Verfügung begründe (E. 3c und 4d; vgl. auch BGE 124 II 409 E. 1e/bb S. 418). Dies muss auch im vorliegenden Fall gelten, soweit es um das Interesse der Beschwerdeführerin geht, gesetzliche Fürsorgeleistungen nicht erbringen zu müssen, und zwar umso mehr als der Beschluss des Regierungsrats vom 18. Januar 2000 keinerlei Rechte oder Pflichten der Beschwerdeführerin zum Gegenstand hat und diese nicht direkt zu einer Leistung verpflichtet. Die Versuche der Beschwerdeführerin aus BGE 123 II 425 ff. etwas für ihre Beschwerdeberechtigung abzuleiten, weil es damals um die Legitimation eines in seiner hoheitlichen Funktion betroffenen Kantons und nicht um diejenige einer Gemeinde gegangen sei, sind unbehelflich.
Das Verwaltungsgericht hat sich vorliegend im Übrigen zu Recht auf die in BGE 123 V 113 E. 5b S. 116 publizierte Rechtsprechung bezogen. Nach dieser hat eine Gemeinde nicht schon deshalb ein schützenswertes Interesse an der Anfechtung einer Verfügung mit der einem Sozialhilfebezüger Leistungen der Arbeitslosenversicherung verweigert wurden, weil die Leistungen der Arbeitslosenkasse zu einer Reduktion der von der Gemeinde zu erbringenden Fürsorgeleistungen führen könnten.
Das Verwaltungsgericht hat die Rechtsmittelbefugnis der Beschwerdeführerin somit zu Recht verneint. Die Beschwerde erweist sich insoweit als offensichtlich unbegründet.
3.- Die Beschwerdeführerin rügt sodann, der Nichteintretensentscheid des Verwaltungsgerichts verletze Art. 6 Ziff. 1 EMRK, wonach jedermann Anspruch darauf habe, dass über seine zivilrechtlichen Ansprüche in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist durch ein unabhängiges und unparteiisches, auf dem Gesetz beruhendes Gericht entschieden werde.
Der Begriff der "zivilrechtlichen Ansprüche" umfasst zwar nicht nur zivilrechtliche Streitigkeiten im engeren Sinne, sondern auch Verwaltungsakte einer hoheitlich handelnden Behörde, sofern sie massgeblich in Rechte und Verpflichtungen privatrechtlicher Natur eingreifen (vgl. BGE 125 I 209 E. 7a; 125 II 293 E. 5b S. 312; 122 II 464 E. 3b S. 466 f.; 121 I 30 E. 5c S. 34, je mit Hinweisen). Nach dem in vorstehender Erwägung 2 Ausgeführten greift der Beschluss des Regierungsrats vom 18. Januar 2000 jedoch offensichtlich nicht in Rechte der Beschwerdeführerin in diesem Sinn ein, weshalb sie sich nicht auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK berufen kann.
Davon abgesehen ist es zumindest fraglich, ob sie sich als Trägerin öffentlicher Gewalt überhaupt auf die in der EMRK gewährleisteten Rechte berufen könnte (BGE 121 I 30 E. 5a; Mark E. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention,
2. A., Zürich 1999, Rz. 101; Jochen Abr. Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Kommentar,
2. A., 1996, N. 4 zu Art. 6). Die Beschwerde erweist sich auch insoweit als unbegründet.
4.- Zusammenfassend ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens der in ihrem Vermögensinteresse handelnden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 2 OG). Parteientschädigungen sind keine zuzusprechen (Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.- Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'500.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.- Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.
4.- Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht (Kammer III) des Kantons Schwyz und dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 27. Februar 2001
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
Der Präsident:
Der Gerichtsschreiber: