BGer U 187/1999
 
BGer U 187/1999 vom 05.03.2001
[AZA 7]
U 187/99 Gr
I. Kammer
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Schön, Spira, Rüedi
und Bundesrichterin Widmer; Gerichtsschreiberin Berger
Urteil vom 5. März 2001
in Sachen
E.________, 1977, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin
Cordula Spörri, St. Urbangasse 2, Zürich,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Luzern,
Beschwerdegegnerin,
und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
A.- Der 1977 geborene E.________ war seit 22. August
1994 als Elektromonteurlehrling in der Firma G.________
tätig und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die
Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am
30. April 1995 stürzte er im Rahmen einer Freizeitveranstaltung
bei der Abfahrt auf der Passstrasse, nachdem er
mit seinem Rollbrett den Rollschuh eines überholenden Rollschuhfahrers
gestreift hatte. Der erstbehandelnde Dr. med.
H.________, Assistenzarzt, Departement Chirurgie des
Spitals Z.________, diagnostizierte am 1. Mai 1995 ein
Schädel-Hirntrauma mit Kalottenfraktur occipital, Kontusionen
parietal und frontobasal links, einen Verdacht auf
Felsenbeinfraktur links sowie Prellungen/Schürfungen am
linken Knie und Beckenkamm. Die SUVA anerkannte grundsätzlich
ihre Leistungspflicht, kürzte jedoch mit Verfügung
vom 12. September 1995 die Geldleistungen wegen Vorliegens
eines Wagnisses um 50 %. Daran hielt sie auf Einsprache hin
fest (Einspracheentscheid vom 5. Juni 1996).
B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich ab (Entscheid vom
14. April 1999).
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt E.________
beantragen, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei das
Vorliegen eines Wagnisses zu verneinen und die SUVA sei zu
verpflichten, die gesetzlich geschuldeten Geldleistungen
ungekürzt auszurichten.
Die SUVA verzichtet unter Hinweis auf den vorinstanzlichen
Entscheid auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für
Sozialversicherung lässt sich nicht vernehmen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen
zum Begriff des Wagnisses (Art. 39 UVG in Verbindung
mit Art. 50 Abs. 2 UVV), welcher mit jenem identisch ist,
der unter der Herrschaft des bis 31. Dezember 1983 in Kraft
gestandenen KUVG gültig war, sowie die dazu entwickelte
Rechtsprechung, welche zwischen absoluten und relativen
Wagnissen unterscheidet (BGE 112 V 47 Erw. 2a und 300 Erw.
1b, je mit Hinweisen; siehe auch BGE 113 V 223 Erw. 3c und
SVR 1997 UV Nr. 81 S. 294 Erw. 3a), zutreffend dargelegt.
Darauf kann verwiesen werden.
2.- a) Nach der Rechtsprechung zu verschiedenen gefährlichen
Sportarten gelten zunächst solche als absolute
Wagnisse, die wettkampfmässig betrieben werden und bei
denen es auf die Geschwindigkeit ankommt (Motocross-Rennen:
RKUV 1991 Nr. U 127 S. 221; Auto-Bergrennen: BGE 113 V 222,
112 V 44; Karting-Rennen: nicht veröffentlichtes Urteil N.
vom 4. November 1964, U 23/64). Im Weitern gelten Boxwettkämpfe
als absolutes Wagnis, da die Angriffe direkt auf den
Körper zielen (EVGE 1962 S. 280). Die Ausübung anderer
Sportarten kann je nach Beeinflussbarkeit des Risikos einmal
ein absolutes, ein andermal - bei weiteren gegebenen
Umständen - ein relatives Wagnis darstellen (Canyoning:
BGE 125 V 312; Auto-Rallye: BGE 106 V 45; Deltasegeln:
BGE 104 V 19, nicht veröffentlichte Urteile J. vom 1. Juli
1980, U 45/79, und D. vom 27. September 1978, U 5/78; Höhlentauchen:
BGE 96 V 100; Klettern: BGE 97 V 72 und 86;
Schlitteln mit aufgeblasenen Auto- und Lastwagenschläuchen:
RKUV 1999 Nr. U 348 S. 473).
b) Abfahrten mit dem Rollbrett, wie unter anderem auch
solche mit Skiern, mit dem Snowboard oder mit dem Velo,
bergen gewisse Verletzungsgefahren. Insoweit Rollbrettabfahrten
allerdings nicht wettkampfmässig und auf Geschwindigkeit
betrieben werden, stellen diese im Lichte der in
Erw. 2a hievor dargelegten Praxis kein absolutes Wagnis
dar. Es sprechen auch keine Gründe gegen die Bejahung des
schützenswerten Charakters einer solchen sportlichen Betätigung.
3.- a) Gemäss dem Bericht der Polizei des Kantons
X.________ vom 4. Juni 1995 und den Aussagen des Koordinators
des Anlasses anlässlich der Befragung durch die
Bezirksanwaltschaft Z.________ vom 28. März 1996 sind am
Morgen des 30. April 1995 43 Jugendliche mit einem Reisecar
in A.________ eingetroffen, um mit Rollbrettern, Rollschuhen
und Ähnlichem einen ungefähr drei Kilometer langen Abschnitt
der - zu jener Zeit (Wintersaison) für den motorisierten
Verkehr geschlossenen - asphaltierten, sieben bis
acht Meter breiten, stetig abfallenden Passstrasse hinunterzufahren.
Vorgängig hatte ein Mitveranstalter den Streckenabschnitt
zu Fuss besichtigt, um zu überprüfen, ob er
für Rollbrett- und Rollschuhfahrer benutzbar sei, insbesondere,
ob Geröll und Äste auf der Strasse lagen. Kurz vor
dem 30. April 1995 erkundigte sich der Koordinator, welcher
diese Plauschfahrt zum dritten Mal mitorganisierte und die
Strecke seit einer Abfahrt mit den Rollschuhen im Jahr 1985
oder 1986 kennt, bei der Polizei in A.________ nochmals
über den Zustand der Strasse. In der schriftlichen Einladung
und auf der Fahrt nach A.________ wurden die Teilnehmenden
aufgefordert, Schutzhelm, Ellbogenschützer, Knieschoner
und gute Sportkleidung zu tragen. Die Abfahrt selber
konnte jede Person ihren Fähigkeiten entsprechend
gestalten, ohne Gruppeneinteilung und ohne Zeitvorgaben.
b) Am 30. April 1995 war das Wetter für eine Abfahrt
mit dem Rollbrett gut. Der fragliche Strassenabschnitt war
trocken und für den motorisierten Verkehr gesperrt. Die
Ausrüstung des Versicherten, welche ein Slalom-Rollbrett,
einen Helm, Ellbogen-, Knieschoner, Handschuhe und strapazierfähige
Kleidung umfasste, gab zu keinen Beanstandungen
Anlass. Nachdem die erste Abfahrt ohne Zwischenfälle verlaufen
war, startete er das zweite Mal als einer der letzten,
langsameren Teilnehmer, fuhr allein, kontrolliert, und
führte zahlreiche kleine Links- und Rechtskurven aus, welche
das Erreichen höherer Geschwindigkeiten verhinderten.
Er war zudem ein routinierter Rollbrettfahrer, der diesen
Sport gut beherrschte. Es ist der Vorinstanz beizupflichten,
dass die Verletzungsgefahr durch den Umstand, dass
Personen mit unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln (mehrheitlich
mit Rollbrettern und Rollschuhen, aber auch mit
einem Gokart und mit einem "Migros-Einkaufswagen"), Fahrtgeschwindigkeiten
und Bewegungsrhythmen an der Veranstaltung
teilgenommen haben, erhöht war. Durch seinen späten
Einzelstart und seine vorsichtige Fahrweise konnte der
Beschwerdeführer allerdings das Risiko, mit Personen zusammenzustossen,
welche die Abfahrt mit hohem Tempo absolvieren
wollten oder mit einem für das Vorhaben ungeeigneten
Gefährt unterwegs waren, auf ein vertretbares Mass reduzieren.
Mit Blick auf diese konkreten Verhältnisse ist das
Vorliegen eines relativen Wagnisses zu verneinen. Entgegen
den Ausführungen im angefochtenen Entscheid ändert daran
nichts, dass der Versicherte stürzte, weil er mit seinem
Rollbrett den Rollschuh eines Überholenden gestreift hatte.
Denn es ergeben sich nicht nur bei Abfahrten mit dem Rollbrett,
sondern auch bei ganz alltäglichen Verrichtungen
häufig Situationen, in denen eine Person vom Wohlverhalten
eines Mitmenschen abhängig ist, ohne sich damit einem Wagnis
auszusetzen. Massgebend ist, dass der Beschwerdeführer
auf Grund seiner Vorbereitung auf die Veranstaltung und
seines umsichtigen Verhaltens während der Abfahrt lediglich
ein geringes Restrisiko in Kauf genommen hat.
4.- Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG).
Dem Prozessausgang entsprechend steht dem Beschwerdeführer
eine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden
der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des
Kantons Zürich vom 14. April 1999 und der Einspracheentscheid
der SUVA vom 5. Juni 1996 aufgehoben.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung
von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer)
zu bezahlen.
IV. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird
über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren
entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.
V. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 5. März 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer:
Die Gerichtsschreiberin: