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Original
 
[AZA 7]
I 597/00 Vr
III. Kammer
Bundesrichter Schön, Spira und Bundesrichterin Widmer;
Gerichtsschreiber Hochuli
Urteil vom 22. März 2001
in Sachen
T.________, 1960, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Werner Ritter, Auerstrasse 2, Heerbrugg,
gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, St. Gallen, Beschwerdegegnerin,
und
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
A.- T.________, geboren 1960, verheiratet und Mutter dreier Kinder (geboren 1980, 1987 und 1988) reiste kurze Zeit nach der Eheschliessung aus dem Heimatland Türkei in die Schweiz ein und trat drei Monate später eine Arbeitsstelle als Sortiererin in der Firma B.________ AG an, wo sie vom 26. November 1979 bis zum 15. Februar 1997 arbeitstätig war. Seit Frühjahr 1997 ist T.________ aus gesundheitlichen Gründen der Arbeit fast ununterbrochen ferngeblieben.
Der 30. April 1997 war der letzte, effektiv geleistete Arbeitstag, bevor das Arbeitsverhältnis per 31.
Januar 1998 infolge stark veränderter Marktsituation aufgelöst wurde. Am 9. Dezember 1997 meldete sich T.________ bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an.
Mit Vorbescheid vom 22. September 1998 teilte ihr die IV-Stelle des Kantons St. Gallen u.a. gestützt auf ein Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle am Spital X.________ (MEDAS) vom 2. September 1998 mit, ein Anspruch auf eine Invalidenrente müsse verneint werden, da die Erwerbsfähigkeit nur zu 30 % eingeschränkt sei. Die IV-Stelle bestätigte den Vorbescheid mit Verfügung vom 14. Dezember 1998.
B.- Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 23. August 2000 ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt T.________ beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und sie sei durch nicht vorbefasste Ärzte physisch und psychisch nochmals gründlich zu untersuchen, bevor über das Leistungsgesuch neu zu entscheiden sei; eventualiter sei die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner sei ihr die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen. In formeller Hinsicht wird die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.
Während die IV-Stelle die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Die Beschwerdeführerin beantragt die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Sofern dieses Begehren als Antrag auf Durchführung einer öffentlichen Verhandlung verstanden werden muss, gilt Folgendes: Nach der Rechtsprechung (BGE 122 V 54 Erw. 3 mit Hinweisen) ist die von Art. 6 Ziff. 1 EMRK geforderte Öffentlichkeit der Verhandlung - in Übereinstimmung mit der Praxis der Konventionsorgane - primär im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren zu gewährleisten. Wie in BGE 122 V 55 Erw. 3a weiter dargelegt wurde, setzt die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung im Sozialversicherungsprozess grundsätzlich einen - im erstinstanzlichen Verfahren zu stellenden - Parteiantrag voraus. Versäumt eine Partei die rechtzeitige Geltendmachung des Anspruchs auf öffentliche Verhandlung, hat dieser grundsätzlich als verwirkt zu gelten (BGE 122 V 56 Erw. 3b/bb).
Die Beschwerdeführerin hat im vorinstanzlichen Verfahren keinen Antrag auf öffentliche Verhandlung gestellt. Da ein solcher - wenn überhaupt - erstmals in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ausdrücklich gestellt wurde, ist der Anspruch verspätet geltend gemacht worden und hat damit als verwirkt zu gelten. Von der Durchführung einer öffentlichen Verhandlung vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht ist daher abzusehen.
Soweit es sich beim Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung um einen Beweisantrag handelt mit dem Zweck, dass "sich das Eidgenössische Versicherungsgericht ein eigenes Bild von [der Beschwerdeführerin] und ihrem schlechten Gesundheitszustand machen" könne, ist er abzuweisen, da die Sache ohnehin an die Vorinstanz zur weiteren Abklärung zurückzuweisen ist, wie aus den nachstehenden Erwägungen erhellt.
2.- a) Die Vorinstanz hat die massgebenden Gesetzesbestimmungen über den Invaliditätsbegriff (Art. 4 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs und die Bemessung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
b) Für die richterliche Beurteilung eines Falles sind grundsätzlich die tatsächlichen Verhältnisse zur Zeit des Erlasses der Verwaltungsverfügung massgebend (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweisen). Tatsachen, die sich erst später verwirklichen, sind jedoch insoweit zu berücksichtigen, als sie mit dem Streitgegenstand in engem Sachzusammenhang stehen und geeignet sind, die Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu beeinflussen (BGE 99 V 102 mit Hinweisen).
c) Die Verwaltung als verfügende Instanz und - im Beschwerdefall - das Gericht dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von ihrem Bestehen überzeugt sind (Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts,
4. Aufl. , Bern 1984, S. 136). Im Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen nicht. Der Richter und die Richterin haben vielmehr jener Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die sie von allen möglichen Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigen (BGE 125 V 195 Erw. 2, 121 V 47 Erw. 2a, 208 Erw. 6b mit Hinweis).
3.- a) Das MEDAS-Gutachten vom 2. September 1998 bildete die Grundlage für den ablehnenden Rentenvorbescheid der IV-Stelle vom 22. September 1998. Es beruht auf sämtlichen Akten zum umfangreich dokumentierten Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin sowie auf den eigenen Untersuchungsergebnissen des Spezialarztes Dr. med. M.________, Innere Medizin/Rheumatologie FMH, und einem psychiatrischen Konsilium des Dr. med. S.________. Aufgrund der umfassenden und sorgfältigen Beurteilung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin gelangten die Experten zur Auffassung, die Arbeitsfähigkeit der Versicherten werde bestimmt durch ein wenig objektivierbares generalisiertes Schmerzsyndrom.
Es liege eine enge Verflechtung von somatisch wenig objektivierbaren funktionellen Beschwerden und psychischen Faktoren vor. Unter Berücksichtigung aller Aspekte werde die Minderung für eine bisher ausgeübte, körperlich eher leichte, wechselbelastende Tätigkeit auf 30 % geschätzt.
Die bereits mit Stellungnahme zum MEDAS-Gutachten am 3. Dezember 1998 geäusserte Kritik der Beschwerdeführerin zielt ins Leere. Unzutreffend ist insbesondere die Auffassung, eine bezifferte Arbeitsunfähigkeit aufgrund somatischer Beschwerden sei stets zusätzlich zu einer allenfalls aufgrund psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen eingeschätzten Arbeitsunfähigkeit aufzuaddieren. Vielmehr kann oft gerade eine aus psychiatrischer Sicht festgesetzte Arbeitsunfähigkeit gleichzeitig und im gleichen oder ähnlichen Umfang auch die somatisch bedingte Beeinträchtigung mitumfassen. Weiter erweist sich die Kritik der Beschwerdeführerin am psychiatrischen Konsilium durch Dr. med.
S.________, der letztere sei durch sein Vorverständnis über das Zusammenleben in einer türkischen Familie einer Fehlbeurteilung erlegen, als haltlos. Wenn die Beschwerdeführerin während der gut 17-jährigen vollzeitlichen Erwerbstätigkeit auch noch drei Kinder zur Welt brachte und diese mindestens im gleichen Ausmass betreute wie ihr Ehemann, der in dieser Zeit ebenfalls vollzeitlich arbeitete (in der Gegenschicht zur Schicht der Beschwerdeführerin), dann zeugt es nur vom umsichtigen Verständnis des Dr.
S.________, diese Situation als "Mehrfachbelastung" zu bezeichnen.
Schliesslich verweist die Versicherte immer wieder auf die abweichenden Beurteilungen ihres Hausarztes, Dr. med.
H.________, Facharzt FMH für Allgemeine Medizin. Insbesondere dessen Kritik am MEDAS-Gutachten gemäss Schreiben vom 25. September 1998 vermag nicht zu überzeugen, zumal er nicht die Feststellungen der Experten an sich bestreitet, sondern lediglich deren Schlussfolgerungen pauschal als zu "harte" Haltung kritisiert. Während Dr. S.________ zur abschliessenden Überzeugung gelangt, eine Rente, ein Attest für Arbeitsunfähigkeit, Operationen und andere medizinische Massnahmen bestärkten die Explorandin bloss in der Annahme, schwer krank zu sein, und förderten damit die Chronifizierung, vertritt Dr. H.________ die Auffassung, die harte Haltung der MEDAS zwinge die Beschwerdeführerin dazu, jetzt erst recht beweisen zu müssen, dass sie krank sei. Dabei gilt es indessen zu beachten, dass der behandelnde Hausarzt Dr. H.________ in einer auftragsrechtlichen Vertrauensstellung zur Beschwerdeführerin steht, weshalb seinen Aussagen nicht der gleiche Beweiswert zuerkannt werden kann wie denjenigen der zur neutralen Begutachtung durch die Verwaltung beauftragten Spezialärzte (vgl. BGE 125 V 353 Erw. 3b/cc). Die Administrativgutachter haben die Beschwerdeführerin persönlich untersucht und auch die von Dr.
H.________ vertretene Auffassung gemäss Bericht vom 19.
Dezember 1997 mitberücksichtigt (vgl. dazu BGE 125 V 352 f.
Erw. 3b mit Hinweisen). Demnach ist nicht zu beanstanden, wenn die IV-Stelle für den Vorbescheid vom 22. September 1998 in medizinischer Hinsicht massgeblich auf das MEDAS-Gutachten abgestellt hatte.
b) Wenn die Beschwerdeführerin wegen des ablehnenden Rentenvorbescheides der IV-Stelle vom 22. September 1998 gemäss Überweisungsschreiben des Dr. H.________ vom 25.
September 1998 notfallmässig in der psychiatrischen Klinik Y.________ angemeldet werden musste und in der Folge auch auf eigenen Wunsch dort stationär aufgenommen wurde, so handelt es sich dabei um eine Tatsache, die sich noch vor Erlass der Verwaltungsverfügung verwirklicht hat und daher von der IV-Stelle mitzuberücksichtigen war (vgl. Erw. 2b hievor). Mit Stellungnahme vom 3. Dezember 1998 zum Vorbescheid vom 22. September 1998 legte die Beschwerdeführerin auch ein ärztliches Zeugnis auf, womit die Klinik Y.________ eine vollständige Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum vom 25. September bis 11. November 1998 (Dauer der stationären Behandlung) bescheinigte. Die IV-Stelle hatte somit Kenntnis von dieser neuen Tatsache, als sie mit Verfügung vom 14. Dezember 1998 den Vorbescheid vom 22. September 1998 bestätigte. Dabei unterliess sie es offensichtlich, eigene Abklärungen zu dieser Behandlungsbedürftigkeit der Beschwerdeführerin zu tätigen. Mit Beschwerde vom 29.
Januar 1999 liess die Versicherte sodann einen Bericht des Kantonalen Spitals A.________ vom 1. Dezember 1998 auflegen, woraus hervorgeht, dass sie am 16. Oktober 1998 anlässlich einer akuten Tablettenintoxikation habe hospitalisiert und während 48 Stunden überwacht werden müssen, bevor die Rückverlegung in die Psychiatrische Klinik Y.________ erfolgen konnte. Dabei dürfte es sich um einen Suizidversuch gehandelt haben. Gemäss Bericht der Klinik Y.________ vom 22. April 1999 musste die Beschwerdeführerin bereits ab 30. Januar 1999 wiederum für gut zwei Monate in der Psychiatrischen Klinik Y.________ stationär behandelt werden. Obwohl Austrittsberichte der Klinik fehlen, ist doch bereits dem zuletzt genannten Bericht vom 22. April 1999 zu entnehmen, dass die Arbeitsfähigkeitseinschätzung durch diese Ärzte erheblich von den Angaben der MEDAS abweicht. Obwohl sich diese Tatsachen nach Erlass der Verwaltungsverfügung verwirklicht haben, stehen sie in einem engen Sachzusammenhang mit den vorliegend zu beurteilenden Fragen nach dem Gesundheitszustand, dem Ausmass der Arbeitsunfähigkeit und der daraus resultierenden Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit. Die Beantwortung dieser Fragen ist im Ergebnis geeignet, die Beurteilung im Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu beeinflussen, weshalb diese Tatsachen zu berücksichtigen sind (vgl. Erw. 2b hievor).
Angesichts dieser Ausgangslage scheint es verfehlt, die Anzeichen für eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin aufgrund der jüngsten Entwicklung nicht im vorliegenden Verfahren zu beurteilen, sondern dafür gemäss vorinstanzlichem Entscheid die erneute Anmeldung zum Leistungsbezug zu verlangen. Vielmehr nimmt die psychische Fehlentwicklung jetzt anscheinend denjenigen Verlauf, der bereits im Bericht des sozialpsychiatrischen Dienstes Z.________ vom 20. Oktober 1987 vorgezeichnet worden war: die Beschwerdeführerin scheine an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu gehen und bei einem Fortbestehen dieser Überforderungssituation drohe ihr ein dauernder schwerer Schaden an ihrer Gesundheit in Form einer schweren depressiven Entwicklung mit der Gefahr einer Chronifizierung.
Gestützt auf die Ergebnisse einer neuen Begutachtung wird die Vorinstanz die neueste Entwicklung des Gesundheitszustandes soweit zu berücksichtigen haben, als Veränderungen im Vergleich zum MEDAS-Gutachten vom 2. September 1998 festgestellt werden, die einen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit und daraus resultierende Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit haben. Hernach wird sie über die Beschwerde neu entscheiden.
4.- Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht der Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG); damit erweist sich ihr Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung als gegenstandslos.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne
gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts
des Kantons St. Gallen vom 23. August 2000
aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen
wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im
Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu entscheide.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung (einschliesslich
Mehrwertsteuer) von Fr. 2500.- zu bezahlen.
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 22. März 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der III. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: