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Original
 
[AZA 0/2]
6S.765/2000/hev
KASSATIONSHOF
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29. März 2001
Es wirken mit: Bundesrichter Schubarth, Präsident des
Kassationshofes, Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger,
Kolly, Bundesrichterin Escher und Gerichtsschreiber Näf.
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In Sachen
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecherin Birgit Biedermann, Länggass-Strasse 7, Bern,
gegen
Generalprokurator des Kantons Bern,
betreffend
Widerhandlungen gegen das BetmG, Strafzumessung; Zusatzstrafe (Art. 68 Ziff. 2 StGB) zu
einem ausländischen Abwesenheitsurteil, hat sich ergeben:
A.- 1. Das Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F verurteilte den kolumbianischen Staatsangehörigen X.________ am 9. Juni 1998 wegen Betäubungsmittel- und Zolldelikten, begangen im Juli 1997, zu zehn Jahren Freiheitsstrafe.
2. Das Kreisgericht IX Schwarzenburg-Seftigen sprach X.________ am 28. April 2000 schuldig der Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel und psychotropen Stoffe, mehrfach, mengenmässig qualifiziert, gewerbs- und bandenmässig begangen gemeinsam mit Y.________ durch Entgegennahme, Ausfuhr, Durchfuhr, Beförderung, Einfuhr, Abgabe, Verkauf und Anstaltentreffen hiezu von mindestens 13,330 kg Kokaingemisch in der Zeit von Dezember 1996 bis zum 21. Februar 1999, und verurteilte ihn deswegen zu acht Jahren Zuchthaus unter Anrechnung von 433 Tagen erstandener Untersuchungshaft und vorzeitigen Strafantritts seit
23. November 1999, sowie zu 15 Jahren Landesverweisung.
Gegen dieses Urteil reichten X.________ Appellation und der Generalprokurator i.V. Anschlussappellation ein. Das Appellationsverfahren beschränkte sich auf die Strafzumessung.
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte X.________ am 31. August 2000 gestützt auf den rechtskräftigen erstinstanzlichen Schuldspruch in Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils zu einer Zuchthausstrafe von acht Jahren und zu 15 Jahren Landesverweisung.
B.- X.________ führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Der a.o. Generalprokurator beantragt die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.-Der Beschwerdeführer hat die Gegenstand des angefochtenen Urteils bildenden Taten auf zehn Reisen aus Kolumbien nach Europa in der Zeit von Dezember 1996 bis Februar 1999 begangen, wobei er bei jeder Reise durchschnittlich 800 g (und seine Begleiterin 500 g) Drogen als so genannter Body-Packer bei sich hatte.
Vom angefochtenen Entscheid nicht erfasst wird die Beteiligung des Beschwerdeführers an einem Drogendelikt in Frankreich im Jahre 1997. Wegen dieser Tat wurde er durch Abwesenheitsurteil des Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Das Bundesamt für Polizeiwesen bewilligte am 18. Februar 2000 das diesbezügliche Auslieferungsersuchen Frankreichs; das Bundesgericht wies die vom Beschwerdeführer dagegen erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde am 10. April 2000 ab.
2.-Hat der Richter eine mit Freiheitsstrafe bedrohte Tat zu beurteilen, die der Täter begangen hat, bevor er wegen einer anderen Tat zu Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, so bestimmt der Richter die Strafe so, dass der Täter nicht schwerer bestraft wird, als wenn die mehreren strafbaren Handlungen gleichzeitig beurteilt worden wären (Art. 68 Ziff. 2 StGB).
a) Der Beschwerdeführer vertritt wie bereits im Appellationsverfahren die Auffassung, vorliegend sei ein Fall von teilweiser retrospektiver Konkurrenz im Sinne von Art. 68 Ziff. 2 StGB gegeben, da er einen Teil der Gegenstand des angefochtenen Urteils bildenden Straftaten vor seiner Verurteilung durch das französische Gericht begangen habe. Er macht unter Berufung auf BGE 115 IV 17 E. 5b geltend, in Fällen dieser Art sei grundsätzlich eine Gesamtstrafe auszusprechen. Wenn die vor der ersten Verurteilung begangene Tat schwerer wiege als die nachher begangene, sei die Dauer der für die frühere Tat ausgesprochenen (Zusatz-)Strafe unter Berücksichtigung der späteren Tat angemessen zu erhöhen. Wenn dagegen die nach der ersten Verurteilung begangene Tat schwerer wiege, dann sei von der für diese Tat verwirkten Strafe auszugehen und deren Dauer wegen der vor der ersten Verurteilung begangenen Tat angemessen zu erhöhen, und zwar unter Berücksichtigung des Umstandes, dass für die frühere Tat eine Zusatzstrafe auszufällen sei. Werde vorliegend das Urteil des französischen Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 berücksichtigt, so sei auf die Ausfällung einer Zusatzstrafe für die zeitlich vor diesem Urteil verübten Taten zu verzichten und eine Strafe lediglich für die nach diesem Urteil begangenen Taten auszusprechen, wenn der Richter, der das zweite Urteil fälle, zum Schluss gelange, dass im ersten Urteil auch bei Kenntnis aller vor dessen Ausfällung begangenen Taten keine höhere Strafe ausgesprochen worden wäre. Im vorliegenden Fall sei davon auszugehen, dass das Strafmass des ersten Urteils auch bei Kenntnis der fünf Reisen des Beschwerdeführers vor Juni 1998 bestimmt nicht über die tatsächlich verhängte Freiheitsstrafe von zehn Jahren hinausgegangen wäre. Dies ergebe sich schon daraus, dass diese Strafe über dem Antrag des Staatsanwalts für sämtliche Straftaten liege. Eine Berücksichtigung von Art. 68 Ziff. 2 StGB bei der Strafzumessung müsse eine erhebliche Herabsetzung der Freiheitsstrafe sowie auch der Nebenstrafe der Landesverweisung zur Folge haben.
b) Nach der Auffassung der Vorinstanz bildet das Urteil des Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 keine hinreichend feste Grundlage für eine allfällige (teilweise) Zusatzstrafe. Durch diesen Entscheid sei der Beschwerdeführer nicht im Sinne von Art. 68 Ziff. 2 StGB "verurteilt" worden. Der französische Abwesenheitsentscheid sei mangels hinreichender Beständigkeit kein Ersturteil. Er könne nach dem französischen Prozessrecht, wie sich auch aus einem Schreiben des Procureur de la République du Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 16. Juli 1999 ergebe, durch ein blosses Wiederaufnahmebegehren ("opposition") des Beschwerdeführers innert einer noch anzusetzenden Frist ohne weiteres aufgehoben werden. Dass der Beschwerdeführer nach seiner Auslieferung nach Frankreich ein solches Gesuch stellen werde, habe er bereits deutlich kundgetan. In diesem Fall werde aber in Sachen des Beschwerdeführers nach dessen Auslieferung eine neue, ordentliche Gerichtsverhandlung stattfinden. Das französische Gericht werde einen neuen Entscheid fällen, in welchem der Beschwerdeführer zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werde, die voraussichtlich deutlich unter der im Abwesenheitsurteil festgelegten Freiheitsstrafe von zehn Jahren liegen werde. Dies ergebe sich einerseits aus dem Vergleich dieser Strafe mit den Strafen, zu welchen die beiden Mitangeschuldigten des Beschwerdeführers durch das französische Gericht verurteilt worden seien, und andererseits daraus, dass es sich bei der Freiheitsstrafe von zehn Jahren um die zulässige Höchststrafe handle. Demnach sei für sämtliche überwiesenen Straftaten, die der Beschwerdeführer teils vor, teils nach seiner Verurteilung durch das französische Gericht begangen habe, eine selbstständige Strafe ohne Berücksichtigung von Art. 68 Ziff. 2 StGB und der diesbezüglichen Rechtsprechung auszufällen. Es werde am französischen Gericht liegen, gegebenenfalls in seinem neuen Urteil eine Zusatzstrafe auszufällen, wobei offen bleiben könne, ob das französische Recht eine Art. 68 Ziff. 2 StGB entsprechende Bestimmung kenne. Es könne auch dahingestellt bleiben, ob im internationalen Verhältnis eine Art. 350 Ziff. 2 StGB entsprechende Norm bestehe und wie diese anzuwenden wäre (angefochtenes Urteil S. 14 f.).
c) Art. 68 Ziff. 2 StGB gilt auch im Fall einer im Ausland ausgesprochenen Grundstrafe (BGE 109 IV 90 E. 2b), und zwar auch, wenn sie Taten betrifft, die nicht unter die schweizerische Gerichtsbarkeit fallen (BGE 115 IV 17 E. 5a). Der Täter ist im Sinne von Art. 68 Ziff. 2 StGB "verurteilt", wenn das Urteil gefällt worden ist, unter der Voraussetzung, dass es später rechtskräftig wird (BGE 109 IV 87 E. 2a). Allerdings hat der Richter, bevor er eine Zusatzstrafe ausfällt, die Rechtskraft des ersten Urteils abzuwarten.
Denn nur ein rechtskräftiges Urteil bildet eine hinreichend feste Grundlage für eine Zusatzstrafe. Ist beispielsweise gegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung eingelegt worden, muss zuerst der Ausgang des Berufungsverfahrens abgewartet werden; denn dieses könnte ergeben, dass der Beschuldigte freigesprochen oder lediglich zu einer Busse verurteilt wird, womit die Voraussetzung für eine Zusatzstrafe entfiele (BGE 102 IV 242 E. 4a, mit Hinweis).
aa) Das Abwesenheitsurteil des Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 (kant.
Akten p. 1423 ff.) wird auf ein blosses Wiederaufnahmegesuch ("opposition") des Beschwerdeführers hin ohne weitere Bedingungen aufgehoben. Im Auslieferungsersuchen vom 16. Juli 1999 hat der Procureur de la République beim Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F unter anderem Folgendes festgehalten (kant. Akten p. 1451 ff., 1455):
"Si Monsieur ... (X.________) ... est remis
aux autorités françaises suite à la présente
demande d'extradition, le mandat
d'arrêt recevra exécution. Le jugement par
défaut lui sera notifié et il aura la possibilité
de former opposition.
S'il forme opposition, le jugement du 9 juin 1998 sera consideré comme non avenue.
Monsieur ... (X.________) ... comparaîtra
dans le délai maximum de 8 jours
devant le Tribunal Correctionnel de
Bobigny en état de détention provisoire et
avec l'assistance d'un avocat s'il en fait
la demande. Il sera jugé à nouveau par
cette juridiction. "
Nicht zuletzt auch in Anbetracht dieser Erklärung hat das Bundesgericht mit Entscheid vom 10. April 2000 die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Beschwerdeführers gegen den Auslieferungsentscheid des Bundesamtes für Polizeiwesen abgewiesen (siehe Urteil des Bundesgerichts vom 10. April 2000, E. 5c).
Der Beschwerdeführer hat auch bereits kundgetan, dass er "opposition" erheben werde. So erklärte er anlässlich der erstinstanzlichen Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht IX Schwarzenburg-Seftigen, dass er das französische Urteil nicht akzeptieren werde, da er unschuldig sei (kant. Akten p. 1545).
Das französische Urteil wird somit aller Voraussicht nach dahinfallen.
bb) Unter diesen Umständen bildet das Abwesenheitsurteil des Tribunal de Grande Instance de Bobigny/F vom 9. Juni 1998 nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanz keine hinreichend feste Grundlage für die Ausfällung einer (teilweisen) Zusatzstrafe. Die Vorinstanz hat demnach ein Vorgehen in (teilweiser) Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB zu Recht abgelehnt.
d) Bei diesem Ergebnis kann offen bleiben, ob die Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB im vorliegenden Fall auch aus weiteren Gründen ausser Betracht fiele (siehe dazu die Vernehmlassung des a.o. Generalprokurators des Kantons Bern).
Insbesondere kann auch dahingestellt bleiben, ob an der Rechtsprechung, wonach Art. 68 Ziff. 2 StGB auch im Fall einer im Ausland rechtskräftig ausgesprochenen Grundstrafe gilt, uneingeschränkt festzuhalten sei.
e) Im vorliegenden Verfahren ist nicht zu prüfen, ob das französische Recht eine Art. 68 Ziff. 2 StGB (betreffend retrospektive Konkurrenz) entsprechende Bestimmung kennt und ob diese gegebenenfalls auch bei einem ausländischen Ersturteil Anwendung findet. Es kann auch dahingestellt bleiben, wie vorzugehen wäre, falls das französische Gericht in einem neuen, ordentlichen Verfahren mangels einer Art. 68 Ziff. 2 StGB entsprechenden Bestimmung oder aus andern Gründen bei der Strafzumessung keine Rücksicht auf die im angefochtenen Urteil ausgefällte Strafe nehmen sollte. Allerdings dürfte im diesem Fall ein Vorgehen gemäss Art. 350 Ziff. 2 StGB schon deshalb ausser Betracht fallen, weil der schweizerische Richter nicht ein ausländisches Urteil aufheben kann. Schliesslich kann auch offen bleiben, wie vorzugehen wäre, wenn das französische Abwesenheitsurteil trotz eines diesbezüglichen Wiederaufnahmebegehrens des Beschwerdeführers nicht aufgehoben werden sollte.
3.-Der Beschwerdeführer ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Seine finanzielle Bedürftigkeit ist ausgewiesen. Die Nichtigkeitsbeschwerde war nicht von vornherein aussichtslos. Das Gesuch ist daher gutzuheissen. Somit werden keine Kosten erhoben und wird der Vertreterin des Beschwerdeführers, Fürsprecherin Birgit Biedermann, Bern, eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.-Die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
2.-Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird gutgeheissen.
3.-Es werden keine Kosten erhoben.
4.-Der Vertreterin des Beschwerdeführers, Fürsprecherin Birgit Biedermann, Bern, wird eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet.
5.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem a.o. Generalprokurator und dem Obergericht (1. Strafkammer) des Kantons Bern sowie der Schweizerischen Bundesanwaltschaft schriftlich mitgeteilt.
--------- Lausanne, 29. März 2001
Im Namen des Kassationshofes
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
Der Präsident:
Der Gerichtsschreiber: