BGer C 247/1999
 
BGer C 247/1999 vom 11.06.2001
[AZA 7]
C 247/99 Gb
IV. Kammer
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger;
Gerichtsschreiberin Berger
Urteil vom 11. Juni 2001
in Sachen
Firma X.________ AG, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jost Gross, Rosenbergstrasse 22, 9000 St. Gallen,
gegen
1. Amt für Wirtschaft und Arbeit, Abteilung Rechtsdienst und Entscheide, Verwaltungsgebäude, 8510 Frauenfeld,
2. Staatssekretariat für Wirtschaft, Abteilung Arbeitsmarkt und Arbeitslosenversicherung, Bundesgasse 8, 3003 Bern,
Beschwerdegegner,
und
Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung, Eschlikon/TG
A.- Die Firma X.________ AG ist eine private Leistungserbringerin im Bereich der stationären Akut- und Langzeitrehabilitation, der Akut- und Langzeitpflege sowie der Psychogeriatrie mit rund 200 Mitarbeitern bei 15'000 Stellenprozenten. Am 30. Januar 1998 reichte sie dem Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit des Kantons Thurgau (neu: Amt für Wirtschaft und Arbeit, nachfolgend AWA) eine Voranmeldung von Kurzarbeit für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Abteilungen ab 9. Februar 1998 ein. Zur Begründung gab sie im Wesentlichen an, im Leistungsbereich der Geriatrie sei sie auf der Spital- bzw. Pflegeheimliste des Kantons Thurgau und damit zur Leistungserbringung im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zugelassen. Mehr als die Hälfte der Patienten komme allerdings aus dem Kanton Zürich. In der ersten provisorischen Pflegeheimliste des Kantons Zürich sei sie nur mit Vorbehalt aufgeführt. Die Unsicherheit bezüglich des ausserkantonalen Patientengutes habe sich in den letzten Monaten einschneidend auf die Bettenbelegung ausgewirkt. Angesichts der voraussehbaren Probleme im Zusammenhang mit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes seien schon im Jahr 1995 die Weichen für eine angemessene Diversifizierung des Leistungsangebotes gestellt worden. Im Rahmen der notwendigen Restrukturierung sei ein Hotel geplant und der bisherige Tea Room-/Restaurantbetrieb werde vorübergehend eingestellt. Die Eröffnung des Hotels Y.________ mit 98 Betten und Tagungszentrum sei auf Mai 1998 vorgesehen. Der Pflegebereich werde nicht in die Kurzarbeit einbezogen, da acht Mitarbeiter durch natürlichen Abgang ausgeschieden und nicht mehr ersetzt worden seien (Stellenabbau wegen rückgängiger Bettenauslastung). Mit fünf Verfügungen vom 20. Februar 1998 teilte das AWA mit, dass es gegen die Auszahlung von Kurzarbeitsentschädigung für die Zeit vom 9. Februar bis 8. Mai 1998 betreffend die Bereiche ZfP Schulung, Küche, Betriebsdienst, Wäscherei und Hausdienst keinen Einspruch erhebe.
B.- In Gutheissung der dagegen vom Bundesamt für Wirtschaft und Arbeit (BWA, ab 1. Juli 1999 Staatssekretariat für Wirtschaft, nachfolgend seco) erhobenen Beschwerde stellte die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung fest, es bestehe kein Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung (Entscheid vom 3. Juni 1999).
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die Firma X.________ AG beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides vom 3. Juni 1999 seien die fünf Verfügungen des AWA vom 20. Februar 1998 zu bestätigen.
Die Rekurskommission und das AWA beantragen Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das seco lässt sich nicht vernehmen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- In formeller Hinsicht wird unter Hinweis auf die lange Verfahrensdauer vor der Vorinstanz sinngemäss eine unzulässige Rechtsverzögerung geltend gemacht. Auf diese Rüge ist mangels eines schutzwürdigen aktuellen und praktischen Feststellungsinteresses nicht einzutreten (Art. 103 lit. a in Verbindung mit Art. 132 OG; vgl. BGE 125 V 374 Erw. 1 sowie SVR 1998 UV Nr. 11 S. 32 Erw. 5a und b mit Hinweisen auf Rechtsprechung und Lehre). Dasselbe gilt für den Einwand, der angefochtene Entscheid sei fälschlicherweise nicht dem Vertreter der Beschwerdeführerin, sondern dieser direkt zugestellt worden.
2.- Die Rekurskommission hat die gesetzlichen Bestimmungen über den Bezug von Kurzarbeitsentschädigung (Art. 31 Abs. 1 lit. b und d AVIG), insbesondere die Voraussetzungen der Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalles gemäss Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG (wirtschaftliche Gründe; Unvermeidbarkeit) sowie Art. 33 Abs. 1 lit. a und b AVIG (normales Betriebsrisiko; Branchen-, Berufs- oder Betriebsüblichkeit; saisonale Beschäftigungsschwankungen), zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden.
3.- Im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren gab das seco zur Begründung seiner ablehnenden Haltung bezüglich der Einführung von Kurzarbeit an, die fraglichen Arbeitsausfälle seien strukturell bedingt. Der Umstand, dass die Firma X.________ AG nur noch mit Vorbehalt auf der Pflegeheimliste des Kantons Zürich figuriere, gehöre zum normalen Betriebsrisiko des Unternehmens. Die Erweiterung des medizinischen Betriebes durch ein Hotel, welches das bereits bestehende Tagungs- und Ausbildungszentrum ergänzen solle, stelle eine Ausweitung des bisherigen Leistungsangebotes dar. Die Gründe, die dazu geführt hätten, seien an dieser Stelle ohne Bedeutung, weil sie jedenfalls nicht wirtschaftlicher Art im Sinne von Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG seien. Die Rekurskommission hat im Wesentlichen erwogen, das Gesundheitswesen sei auf Grund der rasant steigenden Kosten seit einigen Jahren im Umbruch und das neue Krankenversicherungsgesetz habe markante Veränderungen gebracht. Der allgemeine Strukturwandel, welcher in erster Linie für die rückläufige Bettenbelegung verantwortlich sei, wirke sich jedoch nicht nur im Betrieb der Beschwerdeführerin aus, sondern betreffe sämtliche in diesem Bereich tätigen Anbieter. Die behördliche Massnahme der nur beschränkten Aufnahme der Leistungserbringerin in die Pflegeheimliste des Kantons Zürich stehe dabei nicht im Vordergrund. Unwägbarkeiten bei Investitionen und Umstrukturierungen bildeten das klassische Unternehmerrisiko. Die aus der Erweiterung des medizinischen Betriebes um ein Hotel resultierenden Arbeitsausfälle seien die Folge einer erforderlichen Strukturanpassung, weshalb dafür keine Kurzarbeitsentschädigung zu gewähren sei.
4.- a) Soweit Rekurskommission und seco davon ausgehen, für die in Frage stehenden Arbeitsausfälle entfalle ein Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung, weil sie strukturell bedingt seien, kann ihnen nicht gefolgt werden.
Vorrangiges Ziel der Kurzarbeitsentschädigung bildet nebst der Ausrichtung des Erwerbsersatzes (Art. 31 Abs. 1 lit. b AVIG) die Verhütung von Arbeitslosigkeit durch die Erhaltung von Arbeitsplätzen (Art. 31 Abs. 1 lit. d AVIG; BGE 120 V 526 mit Hinweisen; vgl. ferner BGE 111 V 382 ff. sowie die bundesrätliche Botschaft zum AVIG vom 2. Juli 1980, BBl 1980 III 501, 531). Dass dieses Ziel unter einem grundsätzlichen strukturpolitischen Vorbehalt stünde, geht aus dem Gesetz und seiner Entstehungsgeschichte nicht hervor. Auch soweit Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG für die Anrechenbarkeit des Arbeitsausfalles "wirtschaftliche Gründe" voraussetzt, kann darin keine Ausgrenzung struktureller Gesichtspunkte erblickt werden. Vielmehr erfasst jener in der Praxis weit ausgelegte Begriff (vgl. ARV 1996/97 Nr. 40 S. 222 Erw. 2a, 1989 Nr. 12 S. 122 Erw. 2a, 1987 Nr. 8 S. 83 Erw. 2b mit Hinweisen; SVR 1998 ALV Nr. 9 S. 27 Erw. 3a) sowohl konjunkturelle als auch strukturelle Gründe (ARV 2000 Nr. 10 S. 56 Erw. 4a), wie auch im Schrifttum zu Recht ausgeführt wird (Nussbaumer, Arbeitslosenversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, S. 151 N 392, Gerhards, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, Bd. 1, Bern 1987, N 41 f. zu Art. 32-33; a.M. Stauffer, Die Kurzarbeitsentschädigung, in: SJZ 81/1985 S. 177 f.). Abgesehen davon, dass die Organe der Arbeitslosenversicherung und die beurteilenden Gerichte gleichermassen überfordert wären, wenn sie im Einzelfall zwischen den beiden ohnehin kaum trennbaren, sich mitunter gar überlappenden Aspekten zu unterscheiden hätten (vgl. BGE 104 V 112 f. Erw. 4a), erwiese sich der generelle Ausschluss strukturell bedingter Arbeitsausfälle von der Kurzarbeitsentschädigung auch in sozialer Hinsicht als fragwürdig (SVR 1998 ALV Nr. 9 S. 28 Erw. 3a; Nussbaumer, a.a.O., S. 151 N 392). Dies soll nicht heissen, dass strukturellen Mängeln im Bereich der Kurzarbeitsentschädigung jede Bedeutung abzusprechen wäre. Dem stünden nicht nur die Erfordernisse dervorübergehendenDauer(Art. 31Abs. 1lit. dAVIG)undderUnvermeidbarkeitdesArbeitsausfalles(Art. 32Abs. 1lit. a AVIG), sondern auch die Begrenzung der Anspruchsdauer (Art. 35 AVIG) entgegen, in welchem Rahmen ausgebliebenen Reformen angemessen Rechnung getragen werden kann, soweit sie geboten und möglich gewesen wären.
Vorliegend hat sich die Beschwerdeführerin auf Grund der neuen Situation im Zusammenhang mit dem am 1. Januar 1996 in Kraft getretenen Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung (KVG), namentlich wegen des sich daraus ergebenden verstärkten Konkurrenzkampfes im Pflegebereich, und zufolge der Unsicherheiten bezüglich der Aufnahme in die provisorische Pflegeheimliste des Kantons Zürich, für eine Diversifizierung ihres Betriebes entschieden. Mit Blick auf die dargelegte Rechtsprechung ist ihr beizupflichten, dass die Anpassung ihres Betriebes an die veränderten gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen und die neuen Erfordernisse am Markt auf Gründe zurückzuführen sind, welche von Art. 32 Abs. 1 lit. a AVIG erfasst werden. Die Frage, ob die geltend gemachten Arbeitsausfälle allenfalls auf behördlichen Massnahmen (Art. 32 Abs. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 51 AVIV) beruhen könnten, erübrigt sich demnach.
b) Der Strukturwandel im Gesundheitswesen, die damit zusammenhängende Verschärfung des Konkurrenzkampfes unter den Leistungserbringern sowie die Tatsache, dass der Kanton Zürich den Geriatriebereich kantonsintern vergrösserte und deshalb die Beschwerdeführerin schliesslich nur mit Vorbehalt in ihre provisorische Pflegeheimliste aufgenommen hat, veranlassten die Beschwerdeführerin, ihre Institution für ein breiteres Publikum zu öffnen. Die Ursachen, welche Anlass zur Umgestaltung des Restaurantbetriebes in ein Hotel gaben, sind auf Grund ihres kombinierten Auftretens als aussergewöhnlich einzustufen. Durch das nicht vorhersehbare Zusammentreffen der erwähnten Umstände war die Leistungserbringerin anfangs 1998 in ihrem Wirkungskreis in besonderer Weise betroffen, weshalb die fraglichen Arbeitsausfälle weder als branchenüblich qualifiziert noch dem normalen Betriebsrisiko zugeschrieben werden können. Schliesslich steht ausser Frage, dass die Arbeitnehmer die Voraussetzungen gemäss Art. 31 Abs. 1 lit. a und c AVIG erfüllen. Ebenso bestehen keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der betreffende Ausfall voraussichtlich nicht bloss vorübergehender Natur sein könnte (vgl. BGE 121 V 373 f. Erw. 2a mit Hinweisen), weshalb Anspruch auf Ausrichtung einer Kurzarbeitsentschädigung für die gemeldeten Arbeitsausfälle in der Zeit vom 9. Februar bis 8. Mai 1998 besteht.
5.- Im vorliegenden Verfahren geht es um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten abzusehen ist (Art. 134 OG). Dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses entsprechend steht der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu Lasten des seco, das gegen die zutreffende Verfügung des AWA Beschwerde erhoben hatte, zu (Art. 135 in
Verbindung mit Art. 159 OG).
Angesichts des Ausganges des vorinstanzlichen Verfahrens hat die Rekurskommission keine Parteientschädigung zugesprochen. Weil auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung kein bundesrechtlicher Anspruch auf Parteientschädigung für das erstinstanzliche Verfahren besteht (vgl. Art. 103 AVIG), ist davon abzusehen, die Akten zum allfälligen Entscheid über eine Parteientschädigung der Rekurskommission zuzustellen. Hingegen ist es der letztinstanzlich obsiegenden Beschwerdeführerin unbenommen, mit Blick auf den Ausgang des Prozesses vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht bei der Vorinstanz einen entsprechenden Antrag zu stellen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I. In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, wird der Entscheid der
Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung vom 3. Juni 1999 aufgehoben.
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Das Staatssekretariat für Wirtschaft hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500. - (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
IV. Dieses Urteil wird den Parteien, der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit, Abteilung Arbeitslosenkasse, Frauenfeld, zugestellt.
Luzern, 11. Juni 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer:
Die Gerichtsschreiberin: