BGer 1P.167/2001
 
BGer 1P.167/2001 vom 10.07.2001
[AZA 0/2]
1P.167/2001/bmt
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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10. Juli 2001
Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter
Nay, Ersatzrichterin Geigy-Werthemann und Gerichtsschreiber Störi.
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In Sachen
A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Hugo Feuz, Justingerweg 18, Postfach 195, Bern,
gegen
a.o. Generalprokurator des Kantons Bern, Kassationshof des Kantons Bern,
betreffend
Art. 9, 32 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK
(Strafverfahren), hat sich ergeben:
A.- Am 4. November 1999 verurteilte die 1. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern A.________ wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu 30 Monaten Zuchthaus und Fr. 10'000.-- Busse. Sie hielt für erwiesen, dass er, gemeinsam mit D.________, in der Zeit von 1990 bis ca. Mitte 1994 über ein Kilogramm Kokaingemisch lagerte, 1991 160 Gramm davon an K.________ verkaufte und im Herbst 1993 ausserdem den Erwerb von 100 Gramm Kokaingemisch finanzierte. Auf die von A.________ gegen dieses Urteil erhobene staatsrechtliche Beschwerde und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde trat der Kassationshof des Bundesgerichts mit Urteil vom 10. Juni 2000 nicht ein.
B.- Am 10. Oktober 2000 reichte A.________ dem Kassationshof des Obergerichts des Kantons Bern ein Gesuch um Revision ein. Als Revisionsgründe nannte er Beweismittel, die der 1. Strafkammer des Obergerichts bei der Fällung ihres Urteils vom 4. November 1999 nicht bekannt gewesen seien und die geeignet seien, seinen Freispruch oder eine erheblich geringere Bestrafung zu erwirken. Ferner machte er geltend, es sei durch strafbare Handlungen auf das Urteil der 1. Strafkammer eingewirkt worden. Als Beweismittel berief sich der Gesuchsteller auf eine schriftliche Erklärung des K.________ vom April 2000, worin dieser wegen Gewissensbissen seine im Verfahren zu Lasten des Gesuchstellers gemachten Aussagen mit der Begründung widerrief, es habe sich bei diesen Aussagen um einen Racheakt gehandelt. Ferner legte der Gesuchsteller ein Schreiben von M.________ vom 25. September 2000 vor, worin dieser seine ihn belastenden Aussagen mit der gleichen Begründung widerrief. Da M.________ im Strafverfahren gegen A.________ als Zeuge einvernommen worden war, erachtete der Gesuchsteller aufgrund des Widerrufs von dessen Aussagen den Tatbestand des falschen Zeugnisses gemäss Art. 307 StGB für erfüllt.
C.- Mit Entscheid vom 28. Dezember 2000 wies der Kassationshof des Kantons Bern das Revisionsgesuch ab. Er erachtete die schriftliche Widerrufserklärung des K.________ für unglaubhaft und daher unbeachtlich, da dieser am 10. Mai 2000 Untersuchungsrichter X.________ angerufen und ihm mitgeteilt habe, er sei von mehreren Männern unter Todesdrohung zur Abgabe dieser Widerrufserklärung gezwungen worden. Dem Widerrufsschreiben des M.________ sowie einer telefonischen Bestätigung dieses Widerrufs M.________s gegenüber einem Mitarbeiter des Anwalts des Beschwerdeführers mass der Kassationshof im Hinblick auf die ausführlichen, differenzierten und detaillierten Aussagen des M.________ im Strafverfahren keine Bedeutung zu, womit auch der Revisionsgrund des falschen Zeugnisses entfiel.
D.- Diesen Entscheid des Kassationshofs des Kantons Bern ficht A.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 5. März 2001 an mit den Anträgen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Ferner seien der Vollzug der Strafe und die Einforderung der dem Beschwerdeführer darin auferlegten Verfahrenskosten bis zum Entscheid über die staatsrechtliche Beschwerde auszusetzen. Der Beschwerdeführer beruft sich auf Art. 9 und Art. 32 Abs. 1 BV sowie auf Art. 6 Ziff. 2 EMRK. Er macht geltend, der Kassationshof habe den Widerruf von M.________ willkürlich gewürdigt. Indem er vom Beschwerdeführer den Beweis für die Richtigkeit des Widerrufs von M.________ verlangt habe, habe der Kassationshof gegen die Unschuldsvermutung verstossen.
E.- Mit Eingabe vom 26. März 2001 ersucht der Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
F.- Die Staatsanwaltschaft sowie der Kassationshof des Kantons Bern verzichten auf Vernehmlassung.
G.- Mit Verfügung vom 3. April 2001 hat der Präsident der 1. öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der staatsrechtlichen Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt, nachdem der Kassationshof dagegen keine Einwendungen erhoben hatte.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- a) Beim angefochtenen Urteil des Kassationshofs handelt es sich um einen letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer ist durch die Abweisung seines Revisionsgesuches in seinen rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG) und er macht die Verletzung von verfassungsmässigen Rechten geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. b OG). Da diese und die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten.
b) Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss die Beschwerdeschrift die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Erlass oder Entscheid verletzt worden sind. Im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren prüft das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene und, soweit möglich, belegte Rügen. Überdies ist in Auseinandersetzung mit den Erwägungen des angefochtenen Entscheids im Einzelnen darzulegen, worin die Verletzung der angerufenen Verfassungsrechte bestehen soll (BGE 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c; 122 IV 8 E. 2a).
2.- Gemäss Art. 368 Abs. 1 Ziff. 1 des Gesetzes über das Strafverfahren des Kantons Bern vom 15. März 1995 (StrV/BE) kann gegen alle rechtskräftigen Endurteile die Revision des Verfahrens beantragt werden, wenn Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die dem urteilenden Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt gewesen sind und die, allein oder zusammen mit den früher festgestellten Tatsachen, geeignet sind, den Freispruch oder eine erheblich geringere Bestrafung einer verurteilten oder die Verurteilung einer freigesprochenen Person zu bewirken. Gemäss Art. 368 Abs. 1 Ziff. 2 StrV/BE kann die Revision ferner verlangt werden, wenn durch eine strafbare Handlung auf das Ergebnis des Strafverfahrens eingewirkt worden ist, was in der Regel durch Strafurteil festgestellt sein muss.
3.- Der Beschwerdeführer hat sein Revisionsgesuch auf zwei Beweismittel gestützt, die der 1. Strafkammer des Obergerichts bei ihrem Entscheid vom 4. November 1999 nicht bekannt waren. Es sind dies einerseits das Widerrufsschreiben des K.________ vom April 2000 und andererseits das Widerrufsschreiben des M.________ vom 25. September 2000. Beide Widerrufserklärungen hat der Kassationshof als unglaubhaft erachtet. K.________ hat anlässlich eines Anrufs vom 10. Mai 2000 an Untersuchungsrichter X.________ seine Widerrufserklärung wiederum widerrufen und an seinen den Beschwerdeführer belastenden Aussagen, die er im Strafverfahren gemacht hatte, festgehalten. Obwohl K.________ gemäss Eingabe des Vertreters des Beschwerdeführers an den Kassationshof des Kantons Bern vom 30. Januar 2001 diesen am 23. Januar 2000 angerufen und an seinem Widerruf festgehalten habe, hat der Beschwerdeführer hinsichtlich der Würdigung dieses Beweismittels auf Rügen verzichtet und ausdrücklich erklärt, der Kassationshof habe diesbezüglich die Schwelle zur Willkür nicht überschritten. Auf den Widerruf von K.________ ist somit nicht näher einzugehen.
4.- Der Beschwerdeführer rügt, die Beweiswürdigung des Kassationshofs hinsichtlich des von M.________ erklärten Widerrufs seiner ihn belastenden Aussagen sei willkürlich und verletze die Unschuldsvermutung.
a) Die Schuld des Beschwerdeführers wurde mit dem Entscheid des Obergerichts vom 4. November 1999 rechtskräftig festgestellt (Art. 32 Abs. 1 BV) bzw. gesetzlich bewiesen (Art. 6 Ziff. 2 EMRK), weshalb er aus diesen für das Verfahren vor der Verurteilung massgebenden Bestimmungen für das Revisionsverfahren grundsätzlich nichts zu seinen Gunsten ableiten kann (BGE 114 IV 138 E. 2b; 104 Ia 179; Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. A.
1996, S. 183 Rz. 49, S. 195; Mark E. Villiger, Handbuch der europäischen Menschenrechtskonvention, 2. A. 1999, S. 257 Rz. 406). Für die Überprüfung der Beweiswürdigung erwächst ihm daraus allerdings insofern kein Nachteil, als sich aus der Unschuldsvermutung in Bezug darauf ohnehin keine über Art. 9 BV hinausgehenden Rechte ableiten lassen (BGE 120 Ia 31 E. 2e und 4b zu Art. 4 aBV).
b) Bei der Beurteilung von Fragen der Beweiswürdigung beschränkt sich das Bundesgericht auf eine Willkürüberprüfung.
Willkür liegt nach der Rechtsprechung nicht schon vor, wenn eine andere Lösung in Betracht zu ziehen oder sogar vorzuziehen wäre. Das Bundesgericht weicht vom Entscheid der kantonalen Behörde nur ab, wenn dieser offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtssatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 124 I 208 E. 4a; 122 I 61 E. 3a S. 66; 120 Ia 31 E. 4b, mit Hinweisen).
5.- a) M.________ hat in einem Schreiben vom 25. September 2000 erklärt, er widerrufe damit seine Aussagen, die er gegen H.________ und A.________ gemacht habe. Er und andere ihm bekannte Personen seien am 16. August 1994 wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz verhaftet worden. Im Gefängnis habe er erfahren, dass H.________ sie an die Polizei verraten habe, was ihn wütend gemacht habe. Um sich für den Verrat des H.________ zu rächen, habe er die Geschichte über H.________ und dessen Bruder A.________ erzählt. Seine Anschuldigungen gegen H.________ und A.________ seien nicht wahr. Er habe sie nur erfunden, um an H.________ und seiner Familie Rache zu nehmen. Seine Aussage bei Untersuchungsrichter X.________, dass er dabei gewesen sei, als D.________ Kokain von H.________ zu A.________ gebracht habe, sei falsch.
Mit Eingabe vom 7. November 2000 teilte der Vertreter des Beschwerdeführers dem Kassationshof des Kantons Bern mit, anlässlich eines Telefongesprächs vom 31. Oktober 2000 habe M.________ einem seiner Mitarbeiter die Richtigkeit dieses Widerrufs bestätigt und erklärt, er habe seinen Widerruf auf Anfrage von A.________ freiwillig geschrieben, nachdem er gehört habe, dass dieser wegen seiner Aussagen zu einer hohen Strafe verurteilt worden sei.
b) Der Kassationshof hat diesen Widerruf und dessen Bestätigung als unglaubhaft qualifiziert. In der Begründung des angefochtenen Entscheids wird der Widerruf als allgemein und pauschal gehalten bezeichnet. Es wird ausgeführt, ganz im Gegensatz dazu stünden die seinerzeitigen belastenden Aussagen des M.________, die ausführlich, differenziert und detailliert ausgefallen, so nicht erfindbar gewesen seien und zahlreiche Realitätskriterien aufweisen würden. Im weiteren würden die belastenden Aussagen des M.________ mit denjenigen des K.________ und des B.________ übereinstimmen, ohne jedoch mit ihnen identisch zu sein und den Eindruck von etwas Abgesprochenem zu erwecken. Bezeichnenderweise würden denn auch seitens des Gesuchstellers auf Seite 7 des Revisionsgesuches im Rahmen der Aufzählung der Grundlagen des Urteils der 1. Strafkammer die Akten bzw. Aussagen des B.________ nicht erwähnt. Im Weiteren verwies der Kassationshof auf die Erwägungen der 1. Strafkammer des Obergerichts auf den Seiten 18 ff. und 21 ff. ihres Urteils vom 4. November 1999.
c) Auf den Seiten 20 und 21 ihres Urteils vom 4. November 1999 hat die 1. Strafkammer des Obergerichts die Aussagen von B.________ betreffend die Herausgabe des Kokains durch A.________ an D.________ im Restaurant W.________ zusammengefasst. Danach schilderte B.________, wie D.________ ein Coci und einen Hamburger bestellte, der Angeschuldigte (A.________) hierauf im unteren Stock verschwand und mit dem Bestellten sowie einem Zigarettenpäckli, in welchem sich Kokain befand, wieder erschien. Hinsichtlich M.________ führte die 1. Strafkammer des Obergerichts auf Seite 21 ihres Urteils vom 4. November 1999 aus, auch er habe über das Drogendepot im Restaurant W.________ Bescheid gewusst. Die Drogengeschäfte seien bis ca. 1 bis 2 Jahre vor der Polizeiaktion vom 16. August 1994 über das Restaurant W.________ abgewickelt worden. Danach sei es dem Angeschuldigten zu "heiss" geworden.
Der Beschwerdeführer hat sich mit den diesbezüglichen Ausführungen des Kassationshofs und insbesondere mit den auf Seiten 20 und 21 des Urteils der 1. Strafkammer des Obergerichts wiedergegebenen Aussagen von B.________, auf die der Kassationshof im angefochtenen Entscheid hingewiesen hat, nicht auseinandergesetzt und nur geltend gemacht, die Behauptung, der Widerruf von M.________ sei zu pauschal, stehe mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch.
Das genügt den Anforderungen an eine substantiierte Rüge nicht (vgl. oben E. 1b). Wenn der Beschwerdeführer dem Kassationshof willkürliche Beweiswürdigung hinsichtlich des Widerrufs von M.________ vorwerfen will, so wäre er gehalten, sich mit den diesbezüglichen Ausführungen substantiiert auseinander zu setzen und den Widerruf des M.________ vor dem Hintergrund der Aussagen des B.________ zu würdigen. Das gilt auch für seinen Einwand, die Begründung im angefochtenen Urteil sei zirkelschlüssig und widersprüchlich. Auf diese Rüge ist daher nicht einzutreten.
6.- Der Beschwerdeführer macht ferner geltend, der Kassationshof habe ihm den Beweis für die Richtigkeit des Widerrufs von M.________ auferlegt und damit gegen die Unschuldsvermutung als Beweislastregel verstossen. Wie bereits dargelegt, kann sich der Beschwerdeführer im Revisionsverfahren nicht auf die Unschuldsvermutung berufen (oben E. 4a), weshalb auf die Rüge nicht einzutreten ist.
Der Vorwurf trifft im Übrigen auch keineswegs zu.
Der Kassationshof hat den Widerruf des M.________ geprüft und ist in willkürfreier Beweiswürdigung zum Ergebnis gelangt, er sei unglaubhaft (oben E. 5b). Damit war dieser als Revisionsgrund geltend gemachte Widerruf von vornherein nicht geeignet, die Grundlagen des Urteils der 1. Strafkammer des Obergerichts vom 4. November 1999 zu erschüttern.
Der Kassationshof konnte unter diesen Umständen ohne Verfassungsverletzung davon ausgehen, der vorgebrachte Revisionsgrund sei nicht belegt im Sinne von Art. 370 Abs. 1 StrV/BE. 7.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
Bei diesem Ausgang hat der Beschwerdeführer die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG). Dem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann nicht entsprochen werden, da die Beschwerde von vorneherein aussichtslos war (Art. 152 Abs. 1 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.- Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.- Dem Beschwerdeführer wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- auferlegt.
4.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie dem a.o. Generalprokurator und dem Kassationshof des Kantons Bern schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 10. Juli 2001
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: