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Original
 
[AZA 0/2]
1P.219/2001/sta
I. OEFFENTLICHRECHTLICHE ABTEILUNG
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12. Juli 2001
Es wirken mit: Bundesgerichtsvizepräsident Aemisegger,
Präsident der I. öffentlichrechtlichen Abteilung, Bundesrichter
Catenazzi, Ersatzrichterin Pont Veuthey und Gerichtsschreiber Kölliker.
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In Sachen
P.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Robert Frauchiger, Alte Bahnhofstrasse 1, Postfach 1548, Wohlen,
gegen
Bezirksgericht Baden, Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer,
betreffend
Art. 9 BV (Beweiswürdigung im Strafverfahren),
hat sich ergeben:
A.- P.________ besuchte am Abend des 22. Mai 1998 in Baden eine Disco. Dabei kam es zwischen ihm und einem Türsteher zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung.
P.________ holte daraufhin in seinem Personenwagen eine Pistole, kehrte in das Tanzlokal zurück und gab nach einem weiteren Wortwechsel aus kurzer Distanz mehrere Schüsse auf den Türsteher ab. Dieser wurde durch einen Bauchschuss tödlich getroffen; ein weiterer Schuss verletzte einen unbeteiligten Dritten am Bein. Das Bezirksgericht Baden verurteilte P.________ am 29. März 2000 wegen vorsätzlicher Tötung, Gefährdung des Lebens, Körperverletzung mit einer Waffe und weiteren Delikten unter anderem zu einer Zuchthausstrafe von dreizehn Jahren. Bei der Strafzumessung ging das Gericht gestützt auf ein Gutachten der Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau davon aus, dass der Angeklagte bei Verübung des Tötungsdelikts voll zurechnungsfähig gewesen sei.
B.- Am 19. Juni 2000 erhob P.________ Berufung. In der Sache beantragte er in mehreren Nebenpunkten Freisprüche oder die Einstellung des Verfahrens; zudem stellte er einen Beweisantrag auf Anordnung eines Obergutachtens zur Frage seiner Zurechnungsfähigkeit anlässlich der Straftaten vom 22. Mai 1998.
Das Obergericht des Kantons Aargau hiess die Berufung in Nebenpunkten gut und setzte die gegen den Angeklagten ausgesprochene Zuchthausstrafe auf zwölf Jahre herab. Im Übrigen wies es das Rechtsmittel ab, ebenso den Antrag auf Einholung eines psychiatrischen Obergutachtens.
C.- P.________ hat gegen das Urteil des Obergerichts am 21. März 2001 eine staatsrechtliche Beschwerde eingereicht.
Er beantragt, das Urteil sei aufzuheben, soweit damit eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren festgesetzt und die Berufung im Übrigen abgewiesen wurde (Ziff. 3 und 4 des Urteilsdispositivs).
Mit der staatsrechtlichen Beschwerde rügt er einen Verstoss gegen Art. 9 BV. Das Obergericht habe zu Unrecht auf ein nicht schlüssiges psychiatrisches Gutachten abgestellt bzw. von einer ergänzenden neuen Begutachtung abgesehen.
Dadurch habe es die Beweiswürdigung willkürlich vorgenommen. P.________ ersucht gleichzeitig um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung für das bundesgerichtliche Verfahren.
D.- Das Bezirksgericht Baden und das Obergericht des Kantons Aargau haben unter Hinweis auf die Erwägungen in ihren Urteilen auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau beantragt mit Eingabe vom 3. Mai 2001 die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.- Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und in welchem Umfang auf eine staatsrechtliche Beschwerde einzutreten ist (BGE 126 I 207 E. 1 S. 209).
a) aa) Nach Art. 84 Abs. 2 OG ist die staatsrechtliche Beschwerde nur zulässig, wenn die behauptete Rechtsverletzung nicht sonstwie durch Klage oder Rechtsmittel beim Bundesgericht oder einer andern Bundesbehörde gerügt werden kann. Es ist deshalb zu prüfen, ob der Beschwerdeführer Fragen aufwirft, die Gegenstand einer Nichtigkeitsbeschwerde gemäss Art. 268 ff. BStP sein können.
bb) Mit Nichtigkeitsbeschwerde kann beim Kassationshof des Bundesgerichts geltend gemacht werden, ein letztinstanzliches kantonales Strafurteil verletze eidgenössisches Recht (Art. 268 Ziff. 1 und Art. 269 Abs. 1 BStP).
Zum Bundesrecht im Sinne dieser Vorschriften gehören die Bestimmungen des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB).
Nach dessen Art. 10 ist der zur Tatzeit unzurechnungsfähige Täter nicht strafbar; bei verminderter Zurechnungsfähigkeit des Täters kann der Richter die Strafe nach freiem Ermessen mildern (Art. 11 StGB). Die Frage, ob die kantonalen Instanzen einen Angeklagten für die ihm vorgeworfenen Taten zu Recht als voll zurechnungsfähig eingestuft haben, ist somit eine solche des materiellen Strafrechts, die dem Bundesgericht mit Nichtigkeitsbeschwerde zu unterbreiten ist. Eine mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügende Tatfrage ist dagegen, ob die kantonalen Gerichte die Beweise willkürlich gewürdigt haben (BGE 106 IV 236 E. 2a S. 238, mit Hinweisen).
cc) Soweit der Beschwerdeführer eine willkürliche Beweiswürdigung durch das Obergericht rügt, ist auf seine Beschwerde einzutreten. Soweit er jedoch zu behaupten scheint, das Obergericht hätte ihm entgegen der im Gutachten erhobenen medizinischen Befunde eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zubilligen und die Zuchthausstrafe entsprechend dem Grad der Verminderung reduzieren müssen, kritisiert er die Anwendung von Art. 11 StGB. Dies ist eine Rechtsfrage, die dem Bundesgericht mit Nichtigkeitsbeschwerde zu unterbreiten ist. Gleiches gilt, soweit der Beschwerdeführer geltend macht, bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit sei zu Unrecht der Milderungsgrund von Art. 64 letzter Absatz StGB nicht berücksichtigt worden. Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde ist auf diese Rügen nicht einzutreten.
b) Der Beschwerdeführer macht weiter eine Verletzung von § 114 Abs. 2 des kantonalen Gesetzes über die Strafrechtspflege geltend. Er legt jedoch nicht in einer Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Weise dar, inwiefern das Obergericht kantonales Recht verletzt haben soll (vgl.
BGE 125 I 492 E. 1b S. 495, mit Hinweisen). Auf diese Rüge ist ebenfalls nicht einzutreten.
2.- a) Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist die Beweiswürdigung im angefochtenen Entscheid willkürlich, weil das Obergericht gestützt auf das Gutachten der Psychiatrischen Dienste des Kantons Aargau bezüglich des Tötungsdelikts vom 22. Mai 1998 eine verminderte Zurechnungsfähigkeit verneint habe. Das Gutachten sei nicht schlüssig und in sich widersprüchlich, weshalb ein Obergutachten hätte angeordnet werden müssen.
b) Willkür in der Beweiswürdigung liegt nach ständiger Praxis des Bundesgerichts vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen. Dabei genügt es nicht, wenn der angefochtene Entscheid sich nur in der Begründung als unhaltbar erweist; eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis verfassungswidrig ist. An diesem aus Art. 4 aBV abgeleiteten Willkürbegriff hat sich durch den am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen Art. 9 BV inhaltlich nichts geändert (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41, mit Hinweis).
Ein Verstoss gegen das Verbot willkürlicher Beweiswürdigung kann namentlich dann vorliegen, wenn der Richter auf ein nicht schlüssiges Gutachten abstellt oder er auf gebotene zusätzliche Beweiserhebungen verzichtet. Solche sind zu treffen, wenn dem Richter die Schlüssigkeit einer Expertise in wesentlichen Punkten zweifelhaft erscheint. Nach der Rechtsprechung darf der Richter in Sachfragen nur aus triftigen Gründen von der Expertise abweichen (BGE 118 Ia 144 E. 1c S. 146 f., mit Hinweisen).
c) aa) Die gerichtlich eingesetzten Experten haben beim Beschwerdeführer gestützt auf dessen Biografie, die Fremdangaben sowie die aktuellen psychiatrischen und psychologischen Untersuchungen eine Störung des Sozialverhaltens bei einer inneren Verwahrlosung festgestellt. Gemäss der ICD-10-Klassifikation psychischer Krankheiten sei eine derartige Störung durch ein sich wiederholendes und andauerndes Muster dissozialen, aggressiven oder aufsässigen Verhaltens charakterisiert (Gutachten S. 28). Diese aus psychiatrischer Sicht diagnostizierte Störung entspreche dem rechtlichen Begriff einer geistig mangelhaften Entwicklung. Sie habe die Einsichtsfähigkeit des Beschwerdeführers in das Unrecht der Tat nicht beeinflusst. Die Störung habe wohl die Steuerungsfähigkeit des Beschwerdeführers beeinträchtigt, doch dürfe dies allein noch keine forensisch relevante Verminderung der Zurechnungsfähigkeit zur Folge gehabt haben. Erst die Kombination mit Kokain- und Alkoholkonsum habe zu einer maximal leichtgradig verminderten Zurechnungsfähigkeit führen können (Gutachten S. 31).
bb) Das Obergericht hat zu dieser Expertise festgehalten, sie entspreche vollumfänglich den von der Praxis an psychiatrische Gutachten gestellten Anforderungen, beruhe auf mehreren eingehenden körperlichen und testpsychologischen Untersuchungen und berücksichtige sowohl die Vorakten wie auch fremdanamnestische und eigene Angaben des Angeklagten.
Die Beurteilung sei inhaltlich sachgerecht und widerspruchsfrei, die Schlussfolgerungen seien begründet, schlüssig und nachvollziehbar. Es bestehe kein Anlass, an den gutachterlichen Ausführungen zu zweifeln.
Diese Erwägungen sind nicht offensichtlich unhaltbar.
Bei der Beantwortung der Frage nach einer allfälligen Verminderung der Zurechnungsfähigkeit im Sinne von Art. 11 StGB haben die Gutachter ausdrücklich die von ihnen diagnostizierte Störung des Sozialverhaltens erwähnt. Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers haben demnach die Gutachter die Ergebnisse ihrer testpsychologischen Untersuchungen bei der Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit berücksichtigt. Die Gutachter haben sodann mit einleuchtender Begründung verneint, dass die diagnostizierte Störung des Sozialverhaltens allein eine Verminderung der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers im Tatzeitpunkt hätte bewirken können. Die Ausführungen des Beschwerdeführers bieten schliesslich keinen hinreichenden Grund anzunehmen, er leide an einem weitergehenden, von den Gutachtern nicht erkannten psychischen Gesundheitsschaden. Das Obergericht durfte unter diesen Umständen von der Anordnung eines Obergutachtens absehen und die Frage einer verminderten Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers gestützt auf das vorliegende psychiatrische Gutachten prüfen, ohne dadurch in Willkür zu verfallen.
Die Rüge der Verletzung von Art. 9 BV erweist sich als unbegründet.
Die staatsrechtliche Beschwerde ist aus den genannten Gründen abzuweisen, soweit auf sie eingetreten werden kann.
3.- Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Beiordnung eines Rechtsanwalts gemäss Art. 152 OG. Seine Bedürftigkeit kann aufgrund der Akten angenommen werden und sein Rechtsbegehren ist nicht von vornherein aussichtslos. Dem Gesuch ist daher zu entsprechen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.
2.- Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
a) Es werden keine Kosten erhoben;
b) Fürsprecher Frauchiger wird als amtlicher Anwalt des Beschwerdeführers bezeichnet und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.
3.- Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bezirksgericht Baden sowie der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
______________
Lausanne, 12. Juli 2001
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des SCHWEIZERISCHEN BUNDESGERICHTS
Der Präsident:
Der Gerichtsschreiber: