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Original
 
[AZA 7]
H 372/00 Vr
II. Kammer
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Meyer und Ferrari;
Gerichtsschreiber Arnold
Urteil vom 31. Juli 2001
in Sachen
1. A.________,
2. B.________, Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwalt Werner Farrèr, Regierungsplatz 30, 7000 Chur,
gegen
Ausgleichskasse des Kantons Graubünden, Ottostrasse 24, 7000 Chur, Beschwerdegegnerin,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, Chur
In Erwägung,
dass A.________ Präsident und B.________ Mitglied des Verwaltungsrates der in X.________ domizilierten, im Bereich der Ingenieur- und Vermessungstechnik tätigen C.________ AG waren,
dass die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden, welcher die Firma für die sozialversicherungsrechtlichen Belange ihrer Mitarbeiter angeschlossen war, im Konkurs der Gesellschaft - eröffnet am 24. Februar 1999 - eine Forderung im Betrag von Fr. 123'713. 55 zur Kollokation anmeldete (Eingabe vom 17. Juni 1999),
dass die Kasse, nachdem sie am 16. August 1999 vom Konkursamt die telefonische Auskunft erhalten hatte, ihre Forderung werde voraussichtlich ungedeckt bleiben, A.________ und B.________ gestützt auf Art. 52 AHVG ins Recht fasste und zur Leistung von Schadenersatz in Höhe von Fr. 123'713. 55 für entgangene paritätische bundes- und kantonalrechtliche Sozialversicherungsbeiträge samt dazugehörigen Folgekosten verpflichtete (Verfügungen vom 18. Oktober 1999),
dass das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden die von der Ausgleichskasse auf Einspruch der Betroffenen hin erhobenen Klagen auf Zahlung von Schadenersatz im Betrag von Fr. 100'723. 75 gegen Abtretung einer allfälligen Konkursdividende guthiess (Entscheid vom 4. Juli 2000),
dass A.________ und B.________ Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren führen, in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides seien die Klagen vollumfänglich, eventuell teilweise, abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne,
dass die Ausgleichskasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, währenddem sich das Bundesamt für Sozialversicherung nicht vernehmen lässt,
dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde unzulässig ist, soweit der vorinstanzlich zugesprochenen Schadenersatzforderung entgangene Beiträge an die Familienausgleichskasse zu Grunde liegen (Art. 128 OG e contrario; BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis),
dass es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, weshalb das Eidgenössische Versicherungsgericht nur prüft, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG),
dass den Beschwerdeführern nicht gefolgt werden kann, soweit sie rügen, die Vorinstanz sei zu Unrecht auf die Schadenersatzklagen eingetreten, weil diese nicht wie in Art. 109 AHVV vorgesehen vom Kassenleiter unterschrieben wurden, sondern gestützt auf die Unterschriftenregelung des Art. 6 der Geschäftsordnung der AHV-Ausgleichskasse des Kantons Graubünden (vom 3. April 1995) vom Leiter des Rechtsdienstes der Sozialversicherungsanstalt und seinem juristischen Mitarbeiter,
dass es im Lichte von Art. 109 AHVV einzig darum geht, zur Wahrung der Rechtssicherheit zu gewährleisten, dass Dritten gegenüber eröffnete Akte (Verfügungen, Abrechnungen usw.) tatsächlich der Ausgleichskasse zugerechnet werden können, was zu bejahen ist, wenn der Leiter des Rechtsdienstes der Sozialversicherungsanstalt und sein juristischer Mitarbeiter die Klagen unterzeichnen, wobei selbst ein allfälliger Verstoss gegen Vorschriften des kasseninternen oder kantonalen Rechts betreffend die Zeichnungsberechtigung keine Bundesrechtsverletzung darstellen würde (Art. 104 lit. a OG; vgl. Urteile A. und B. vom 31. Mai 2001, H 359/99 und H 372/99, sowie Urteil W. vom 31. Januar 2001, H 151/00),
dass das kantonale Gericht die in materiellrechtlicher Hinsicht massgebenden Normen (Art. 52 AHVG, Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) und die Rechtsprechung zur subsidiären Haftbarkeit der Organe (vgl. auch BGE 123 V 15 Erw. 5b), zur Haftungsvoraussetzung des zumindest grobfahrlässigen Verschuldens (BGE 108 V 186 Erw. 1b, 193 Erw. 2b) sowie bezüglich dem dabei zu berücksichtigenden - differenzierten - Sorgfaltsmassstab (BGE 108 V 202 Erw. 3a; vgl. auch Thomas Nussbaumer, Die Haftung des Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, in: AJP 9/96, S. 1081) korrekt wiedergegeben hat, worauf verwiesen werden kann,
dass in verschuldensmässiger Hinsicht zu beachten ist, dass das absichtliche oder grobfahrlässige Missachten von Vorschriften einen Normverstoss von einer gewissen Schwere verlangt, wogegen beispielsweise die relativ kurze Dauer des Beitragsausstandes spricht (BGE 121 V 243 Erw. 4),
dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und insbesondere die Liquiditätsprobleme der am 24. Februar 1999 in Konkurs gefallenen Aktiengesellschaft ausweislich der Akten auf die Jahre 1996/1997 zurückgehen, wobei der Kurzbericht der Treuhand Y.________ vom 29. April 1997 zwar wohl insgesamt zu einer "positiven Gesamtbeurteilung" gelangt, indes betont, negative Überraschungen wie der Jahresabschluss 1996 könnten durch die Firma im Wiederholungsfalle nicht mehr verkraftet werden, ferner eine Reihe struktureller Mängel auflistet und Abhilfemassnahmen nennt, deren Beseitigung beziehungsweise Realisierung damals gänzlich im Ungewissen blieb,
dass die Unternehmung für das Jahr 1996 einen Verlust von Fr. 306'316. 35 auswies,
dass in dieser Situation seitens der Firmenverantwortlichen realistischerweise nicht damit gerechnet werden konnte, durch Nichtbezahlung der Sozialversicherungsbeiträge die Existenz ihres Unternehmens zu bewahren, weshalb Rechtfertigungsgründe für die nachfolgend erwähnten Verstösse gegen die Beitragsablieferungspflicht (BGE 108 V 183) fehlen, woran die Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts ändern,
dass nach den Akten die Beitragszahlungen jedenfalls ab Mitte 1997 schleppend geleistet wurden und die fälligen Betreffnisse wiederholt gemahnt werden mussten sowie regelmässig Betreibungen nach sich zogen,
dass die "Beitragsübersicht ab 1997" (vom 29. Dezember 1999) allein hinsichtlich der Beiträge für am (Haupt-)Sitz in X.________ geleistete Entgelte über 20 Mahnungen und damit zusammenhängende Kosten in Höhe von Fr. 1360. 10 sowie wiederholte Betreibungen und damit verbundene Unkosten im Betrag von Fr. 1799. 70 ausweist,
dass Aktiengesellschaft und Ausgleichskasse am 23. Juni 1998 über die Tilgung der Beitragsausstände per Juni 1998 in Höhe von Fr. 140'888. 95 zuzüglich Zinsen verhandelten und die Firma am 10. Juli 1998 einen Zahlungsplan vorschlug,
dass dieser Plan unbestrittenermassen nicht eingehalten wurde, wobei ausweislich der Akten bereits die per Ende Juli 1998 in Aussicht gestellte erste Zahlung in Höhe von Fr. 70'000.- nicht geleistet wurde, statt dessen erst am 3. September 1998 ein Betrag von Fr. 30'000.- bezahlt wurde,
dass gemäss der "Beitragsübersicht ab 1997" (vom
29. Dezember 1999) nach der eben genannten Zahlung vom 3. September 1998 keinerlei weitere Einzahlungen mehr erfolgten,
dass mit Blick auf die Verhältnisse im Juni/Juli 1998, insbesondere auf die "Mittelplanung, Stand 16. Juli 1998", welche einen Bedarf an neuen Mitteln von Fr. 1'661'000.- ausweist, fraglich ist, ob nicht ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass die von der Gesellschaft am 10. Juli 1998 vorgeschlagene Zahlungsvereinbarung nicht eingehalten werden könnte,
dass eine entsprechende Vereinbarung diesfalls nicht geeignet wäre, die ins Recht gefassten formellen Organe der Gesellschaft zu entlasten (vgl. BGE 124 V 255 Erw. 4b),
dass diese Frage indes offen bleiben kann, da bei mehrmonatigen bis mehrjährigen Beitragsausständen, zumal wenn sie Mahnungen und Betreibungen nach sich zogen, einem Zahlungsaufschub mit Tilgungsplan keine entlastende Wirkung zukommt, da sich die Verschuldensfrage primär nach den Umständen beurteilt, die zum Zahlungsrückstand geführt haben (BGE 124 V 254 Erw. 3b; vgl. auch Nussbaumer, a.a.O., S. 1080),
dass die Haftungsvoraussetzungen nach Art. 52 AHVG (Organstellung, Schaden, Widerrechtlichkeit, Verschulden, Kausalität, Nichtverwirkung) somit erfüllt sind, weshalb die Ersatzpflicht der Beschwerdeführer für den Schaden der Ausgleichskasse mit der Vorinstanz im Grundsatz zu bejahen ist,
dass eine Herabsetzung oder Aufhebung der Schadenersatzpflicht wegen Mitverschuldens der Verwaltung (BGE 122 V 185; SZS 2000 S. 91) nicht in Frage kommt, hat doch die Ausgleichskasse das ihr Mögliche getan, um die fälligen Beiträge beizubringen,
dass die vorinstanzliche Feststellung, wonach der Schaden Fr. 100'723. 75 betrage, das Eidgenössische Versicherungsgericht nicht bindet, da der Sachverhalt insoweit im Lichte der bereits im kantonalen Verfahren erhobenen und letztinstanzlich erneuerten Einwendungen der Beschwerdeführer unvollständig im Sinne des Art. 105 Abs. 2 OG in Verbindung mit Art. 132 OG festgestellt ist,
dass, auch mit Blick auf die letztinstanzliche Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin, insbesondere ausräumungsbedürftige Unklarheiten dazu bestehen, ob die Beitragszahlungen der Gesellschaft vom 17. November 1997,
23. Januar und 3. April 1998 bei der Ermittlung des Schadens korrekt berücksichtigt wurden (vgl. bereits vorinstanzliche Klageantwort vom 3. April 2000, S. 4), dass nach Lage der Akten nicht plausibel ist, weshalb die fraglichen PTT-Einzahlungen im Rahmen der - Klagefundament bildenden - "Beitragsübersicht ab 1997" vom 29. Dezember 1999 einerseits und der "Beitragsübersicht ab 1996" vom 23. Juni 1999 andererseits unter der Rubrik "Zahlungen" unterschiedlich erfasst wurden, zumal ebenfalls im Rahmen der "Beitragsübersicht ab 1997" (vom 29. Dezember 1999) - vgl. dritter und letzter Teil derselben - die Tilgung früherer Schulden in nachvollziehbarer Weise durch einen entsprechenden Abzug ("davon für frühere Jahre") vermerkt worden war,
dass die Sache an die Ausgleichskasse zurückgeht (ZAK 1987 S. 426), damit diese nach Ausräumung der Unklarheiten in masslicher Hinsicht neu über den Schadenersatz verfüge,
dass im Hinblick auf den weiteren Verfahrensgang festzuhalten ist, dass für die Ermittlung der unter dem Titel von Art. 52 AHVG geschuldeten (bundesrechtlichen) Beiträge einzig auf die von der Arbeitgeberin effektiv geleisteten Entgelte abzustellen ist,
dass demgegenüber Insolvenzentschädigungen, für welche die Arbeitslosenversicherung die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen hat (Art. 52 Abs. 2 AVIG), und Lohnbestandteile, wie etwa ein 13. Monatslohn, die nicht ausbezahlt wurden, nicht Substrat für eine Schadenersatzforderung nach Art. 52 AHVG zu bilden vermögen,
dass im vorinstanzlichen Entscheid, offensichtlich anknüpfend an den Bericht des Revisors der Ausgleichskasse (vom 1. Mai 2000), in missverständlicher Weise die Rede davon ist, die "durch die Insolvenzentschädigungen ausgerichteten Anteile am 13. Monatslohn (seien) in die Schadenersatzforderung einbezogen (worden) ...", welche Unklarheit ebenfalls auszuräumen sein wird,
dass das Verfahren kostenpflichtig ist (Art. 134 OG e contrario),
dass die Beschwerdeführer im Grundsatz unterliegen und die Rückweisung nur das Massliche betrifft, wobei der Schaden letztinstanzlich im überwiegenden Umfang betragsmässig unbestritten ist, weshalb die Gerichtskosten ermessensweise je zur Hälfte den Parteien aufzuerlegen sind (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1 und 3 OG) und die Beschwerdeführer Anspruch auf eine reduzierte Parteientschädigung haben (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 3 OG),
erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird, soweit darauf
einzutreten ist, in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichtes des Kantons Graubünden
vom 4. Juli 2000 aufgehoben, die Schadenersatzpflicht
der Beschwerdeführer im Grundsatz festgestellt
und die Sache an die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden
zurückgewiesen wird, damit diese, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Schadenersatz
neu befinde.
II.Die Gerichtskosten von Fr. 5000.- werden je zur Hälfte den Beschwerdeführern und der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden auferlegt.
III. Die geleisteten Kostenvorschüsse von je Fr. 5000.- werden den Beschwerdeführern im Umfang von je Fr. 3750.- zurückerstattet.
IV.Die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden hat den Beschwerdeführern für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung
von Fr. 1250.- (einschliesslich Mehrwertsteuer)
zu bezahlen.
V.Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wird
über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren
entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.
VI.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 31. Juli 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: