BGer H 283/2000
 
BGer H 283/2000 vom 04.09.2001
[AZA 7]
H 283/00 Vr
II. Kammer
Präsident Lustenberger, Bundesrichter Meyer und Ferrari;
Gerichtsschreiberin Riedi Hunold
Urteil vom 4. September 2001
in Sachen
Kantonale Ausgleichskasse Glarus, Sandstrasse 29, 8750 Glarus, Beschwerdeführerin,
gegen
A.________, 1944, Beschwerdegegner, vertreten durch die Treuhand X.________ AG,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Glarus, Glarus
A.- A.________ (geboren 1944) ist seit 1. November 1990 als Selbstständigerwerbender der Kantonalen Ausgleichskasse Glarus angeschlossen. Mit Verfügungen vom 10. Februar 1998 setzte die Ausgleichskasse die Beiträge von A.________ für die Beitragsjahre 1993 bis 1997 auf Grund der von den Steuerbehörden gemeldeten Einkommen der Jahre 1993 und 1994 fest. Da das Einkommen der Jahre 1992 und 1993 erheblich von jenem des ersten Geschäftsjahrs (1991) abwich, verschob sie in Anwendung von Art. 25 Abs. 4 AHVV in der bis 31. Dezember 1994 geltenden Fassung den Übergang von der Gegenwartsbemessung in die ordentliche Vergangenheitsbemessung vom Jahr 1993 ins Jahr 1995, womit die Beitragsperiode 1996/97 erste ordentliche Beitragsperiode wurde. Am 11. Februar 1998 teilte die Gemeindezweigstelle der Ausgleichskasse die neue Geschäftsadresse von A.________ mit. Nachdem sich A.________ auf Grund der eingegangenen Nachtragsrechnungen bei der Ausgleichskasse nach den entsprechenden Verfügungen erkundigte, wurden ihm diese mit Poststempel vom 19. März 1998 nochmals zugestellt.
B.- A.________ liess hiegegen am 4. Mai 1998 Beschwerde erheben, welche das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus mit Entscheid vom 26. Oktober 1999 in dem Sinne guthiess, als es die Beitragsfestsetzung bezüglich des Beitragsjahres 1995 aufhob und an die Ausgleichskasse zurückwies, damit diese die Beiträge für 1995 auf Grund der am 1. Januar 1995 geltenden Fassung von Art. 25 Abs. 4 AHVV neu festsetze.
C.- Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
Während das Verwaltungsgericht des Kantons Glarus auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, lassen sich A.________ und das Bundesamt für Sozialversicherung nicht vernehmen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Vorweg ist zu prüfen, ob die Beschwerde vom 4. Mai 1998 fristgerecht erhoben wurde und das kantonale Gericht zu Recht auf sie eingetreten ist.
a) Nach der Rechtsprechung obliegt der Beweis der Tatsache sowie des Zeitpunktes der Zustellung einer Verfügung der Verwaltung. Weil der Sozialversicherungsprozess von der Untersuchungsmaxime beherrscht wird, handelt es sich dabei nicht um die subjektive Beweisführungslast (Art. 8 ZGB), sondern in der Regel nur um die so genannte objektive Beweislast in dem Sinne, dass im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweis).
Wird die Tatsache oder das Datum der Zustellung uneingeschriebener Sendungen bestritten, muss daher im Zweifel auf die Darstellung der Empfängerin oder des Empfängers abgestellt werden (BGE 124 V 402 Erw. 2a, 103 V 66 Erw. 2a; RKUV 1997 Nr. U 288 S. 444 Erw. 2b mit Hinweisen).
b) Es ist unbestritten, dass die Verfügungen vom 10. Februar 1998 von der Ausgleichskasse uneingeschrieben an die alte Geschäftsadresse verschickt wurden. Die Ausgleichskasse kann den Nachweis für die Zustellung dieser Verfügungen nicht erbringen, weshalb auf die Angaben des Versicherten abzustellen ist. Demnach ist davon auszugehen, dass die Beschwerdefrist erst mit der zweiten und massgebenden Zustellung zu laufen begann. Die Beschwerde vom 4. Mai 1998 wurde somit - unter Berücksichtigung des Fristenstillstandes von Art. 22a lit. a VwVG in Verbindung mit Art. 96 AHVG - innert der 30tägigen Frist von Art. 84 Abs. 1 AHVG eingereicht.
2.- Da keine Versicherungsleistungen streitig sind, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche Entscheid Bundesrecht verletzt, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
Ferner ist Art. 114 Abs. 1 OG zu beachten, wonach das Eidgenössische Versicherungsgericht in Abgabestreitigkeiten an die Parteibegehren nicht gebunden ist, wenn es im Prozess um die Verletzung von Bundesrecht oder um die unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhalts geht.
3.- Vorliegend ist streitig, ob für das Beitragsjahr 1995 Art. 25 Abs. 4 AHVV in der von 1. Januar 1988 bis
31. Dezember 1994 oder von 1. Januar 1995 bis 31. Dezember 2000 in Kraft gewesenen Fassung (AS 1994 2162, AS 2000 1441) zur Anwendung gelangt.
a) Gemäss Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts wird in übergangsrechtlicher Hinsicht für die Anwendung des alten oder des neuen Art. 25 Abs. 4 AHVV darauf abgestellt, ob sich der rechtserhebliche Sachverhalt (das erste Geschäftsjahr nach Aufnahme der selbstständigen Erwerbstätigkeit und die darauf folgenden beiden Geschäfts- und Beitragsjahre) schwergewichtig vor dem Inkrafttreten der neuen Fassung des Art. 25 Abs. 4 AHVV verwirklicht hat oder nicht (AHI 1995 S. 3 ff. mit Hinweisen). Diese für die auf den 1. Januar 1988 in Kraft getretene Änderung von Art. 25 Abs. 4 AHVV entwickelte übergangsrechtliche Regel gilt in gleicher Weise für die mit Wirkung ab 1. Januar 1995 gültige Novellierung (nicht publiziertes Urteil G. vom 15. Januar 1998 [H 151/97]; vgl. auch Urteil I. vom 4. Oktober 2000 [H 163/99] und Urteil N. vom 3. August 2000 [H 189/00]).
b) Die Vorinstanz stellte sich in ihrem Entscheid auf den Standpunkt, dass entgegen der geltenden Praxis nicht darauf abzustellen sei, ob die für den Einkommensvergleich massgebenden Geschäftsjahre vor oder nach dem Inkrafttreten der revidierten Fassung von Art. 25 Abs. 4 AHVV abgeschlossen waren; denn für die Beitragsberechnung für ein bestimmtes Beitragsjahr seien einheitlich die zum gleichen Zeitpunkt geltenden Rechtsnormen anzuwenden. Es könne nicht auf einen Teilbereich - vorliegend die Erstreckung des Wechsels von der Gegenwarts- zur Vergangenheitsbemessung - jüngeres Recht gelten als jenes, welches für die Beitragsbemessung zur Anwendung komme. Daraus folge, dass die Beiträge für das Jahr 1995 sich nach dem durchschnittlichen reinen Erwerbseinkommen der Geschäftsjahre 1991/92 bemessen, da die ab dem 1. Januar 1995 zusätzlichen Voraussetzungen von Art. 25 Abs. 4 lit. a und b AHVV nicht erfüllt seien.
In seiner Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde führt das kantonale Gericht aus, dass es an der Ansicht, das Beitragsjahr und nicht das Bemessungsjahr müsse intertemporalrechtlicher Anknüpfungspunkt sein, festhalte, und verwies auf die ähnliche Problemstellung im Bereich des Steuerrechts, wo niemand die Auffassung vertrete, das während der Bemessungsperiode gültige Recht sei in der nachfolgenden Veranlagungsperiode auch dann noch anwendbar, wenn inzwischen neues Recht in Kraft getreten sei.
c) Diese Auffassung steht im Widerspruch zur dargelegten Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgericht, weshalb zu prüfen ist, ob sich eine Änderung der Rechtsprechung aufdrängt.
Sprechen keine entscheidenden Gründe zu Gunsten einer Praxisänderung, ist die bisherige Praxis beizubehalten.
Gegenüber dem Postulat der Rechtssicherheit lässt sich eine Praxisänderung grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht. Nach der Rechtsprechung ist eine bisherige Praxis zu ändern, wenn sie als unrichtig erkannt oder wenn deren Verschärfung wegen veränderter Verhältnisse oder zufolge zunehmender Missbräuche für zweckmässig gehalten wird (BGE 124 V 124 Erw. 6a, 387 Erw. 4c, je mit Hinweisen).
d) aa) Verwaltung und Gericht haben ihrem Handeln jene Rechtssätze zugrunde zu legen, welche zur Zeit des für die Rechtsfolge massgebenden Sachverhaltes in Kraft waren. Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht uneingeschränkt; aus intertemporalrechtlichen Gründen sind Abweichungen möglich. So sind einerseits die Grundsätze bezüglich Vor- und Rückwirkung des neuen Rechts zu beachten; andererseits wird das alte Recht mit seiner Aufhebung nicht einfach unanwendbar, sondern es bleibt weiterhin massgeblich für Tatbestände, die sich vor der Aufhebung erfüllt haben, und es kann auch auf später eingetretene Fakten nachwirken, sofern die später eingetretenen Tatbestandselemente gegenüber den früher sich verwirklichten nebensächliche Bedeutung haben (so genannte "unechte Nachwirkung", Martin, Leitfaden für den Erlass von Verfügungen, Zürich 1996, Rz 12.5; vgl. auch Imboden/Rhinow, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Band I: Allgemeiner Teil, Basel/Frankfurt a.M. 1986, Nr. 15 S. 95 f.; Kölz, Intertemporales Verwaltungsrecht, in: ZSR NF 102 II/1983 S. 175).
bb) Anlässlich der Neufassung des Art. 25 Abs. 4 AHVV auf 1. Januar 1995 wurde keine übergangsrechtliche Regelung vorgesehen, weshalb die allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätze massgebend sind.
Gemäss konstanter Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts und des Bundesgerichts gilt der intertemporalrechtliche Grundsatz, wonach der Beurteilung einer Sache jene Rechtsnormen zu Grunde zu legen sind, die in Geltung standen, als sich der zu den materiellen Rechtsfolgen führende und somit rechtserhebliche Sachverhalt verwirklichte.
Bei zusammengesetzten Tatbeständen, d.h. bei Rechtsnormen, welche den Eintritt der in ihr vorgesehenen Rechtsfolge von der Verwirklichung mehrerer subsumtionsrelevanter, im Verlaufe einer bestimmten Zeitspanne eintretender Sachverhaltselemente abhängig machen, hat die Rechtsprechung erkannt, dass für die intertemporalrechtliche Anwendbarkeit massgeblich ist, unter der Herrschaft welcher Norm sich der Sachverhaltskomplex schwergewichtig oder überwiegend ereignet hat (BGE 126 V 136 Erw. 4b mit Hinweisen).
cc) Bei Art. 25 Abs. 4 AHVV handelt es sich um einen solchen zusammengesetzten Tatbestand. Demnach ist aus übergangsrechtlicher Sicht ausschlaggebend, unter welchem Recht sich der für die Rechtsfolge (Beitragsfestsetzung im ausserordentlichen Bemessungsverfahren bis zur übernächsten ordentlichen Beitragsperiode) massgebliche Sachverhalt (über 25 % Abweichung des Einkommens des ersten Geschäftsjahres von den beiden nächsten Geschäftsjahren) verwirklicht hat. Der von der Vorinstanz vorgeschlagene Weg, wonach das Beitragsjahr massgebend sein soll, widerspricht diesem allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsatz, da dieser nicht an den massgeblichen Sachverhalt, sondern an die Rechtsfolge anknüpft.
dd) Gibt es keine "nächste ordentliche Beitragsperiode", so gibt es auch kein "Vorjahr" dazu (AHI 1993 S. 248 Erw. 2a). Folgerichtig muss der "nächsten ordentlichen Beitragsperiode" bei der erstmaligen Beitragsfestsetzung im ordentlichen Verfahren in jedem Fall ein "Vorjahr" vorangehen (vgl. Art. 25 Abs. 3 AHVV in der bis 31. Dezember 2000 massgeblichen Fassung, AS 1441). Die vorinstanzliche Auffassung widerspricht auch diesem Grundsatz; denn bei ihrer Lösung würden die Beiträge der Jahre 1993 und 1994 im Rahmen der ausserordentlichen Gegenwartsbemessung auf Grund des Einkommens des jeweiligen Jahres, jene von 1995 jedoch gemäss der ordentlichen Vergangenheitsbemessung auf der Basis der Jahre 1991/92 festgesetzt, sodass gar kein Vorjahr als Übergang zum ordentlichen Verfahren gegeben wäre, was mit der Verordnungsregelung unvereinbar ist.
4.- Nach dem Gesagten liegen keine überzeugenden Gründe für eine Praxisänderung vor, weshalb an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten ist. Dies führt ohne weiteres zur Aufhebung des kantonalen Entscheides in Bezug auf die für 1995 geschuldeten Beiträge und zur Bestätigung der für dieses Beitragsjahr erlassenen Verwaltungsverfügung.
5.- Da es vorliegend nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen, sondern um eine Beitragsstreitigkeit geht, ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Der unterliegende Beschwerdegegner hat demnach die Gerichtskosten zu tragen.
Der obsiegenden Ausgleichskasse steht keine Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird
der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons
Glarus vom 26. Oktober 1999 aufgehoben, soweit damit
eine Rückweisung der Sache zur Neufestsetzung der
Beiträge für das Jahr 1995 sowie eine Parteientschädigung
zu Gunsten des Beschwerdegegners angeordnet
wird.
II.Die Gerichtskosten von Fr. 600.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
III. Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.- wird der
Kantonalen Ausgleichskasse Glarus zurückerstattet.
IV.Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Glarus und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 4. September 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer:
Die Gerichtsschreiberin: