Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Original
 
[AZA 7]
I 245/99 Vr
IV. Kammer
Präsident Borella, Bundesrichter Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger; Gerichtsschreiber Signorell
Urteil vom 12. Dezember 2001
in Sachen
B.________, 1961, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Schultz, Bahnhofstrasse 8, 9000 St. Gallen,
gegen
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegnerin,
und
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden
A.- Die 1961 geborene und seit September 1993 geschiedene B.________ meldete sich am 3. April 1996 zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an und ersuchte am 28. April 1997 die IV-Stelle des Kantons Thurgau mittels Formular um Auszahlung der IV-Leistungen an die Fürsorgekommission der Stadt X.________. Gestützt auf einen Beschluss der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 30. Januar 1998 sprach die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau der Versicherten am 27. Februar 1998 mit Wirkung ab 1. Dezember 1997 eine ordentliche einfache ganze Teilrente samt Kinderzusatzrente zu. Mit einer weiteren Verfügung vom 30. April 1998 gewährte sie ihr für die Zeit vom 1. Dezember 1995 bis zum 30. November 1997 eine ordentliche einfache halbe Teilrente samt Kinderzusatzrente und ordnete gleichzeitig an, dass der Nachzahlungsbetrag von Fr. 22'104. - der Fürsorgekommission der Stadt X.________ auszuzahlen sei.
B.- Mit Entscheid vom 2. März 1999 hiess die AHV/IV- Rekurskommission eine gegen die Drittauszahlung gerichtete Beschwerde in dem Sinne teilweise gut, "dass die Sache an die IV-Stelle des Kantons Thurgau zurückgewiesen wird. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau wird angewiesen, die Fürsorge der Stadt X.________ zum Nachweis der erbrachten Vorschussleistungen in betragsmässiger und zeitlicher Hinsicht aufzufordern und hernach über die Drittauszahlung erneut zu verfügen" (Dispositiv-Ziffer 1).
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ beantragen, es sei Dispositiv-Ziffer 1 des kantonalen Entscheides aufzuheben sowie festzustellen, dass das thurgauische Sozialhilfegesetz kein eindeutiges Rückforderungsrecht im Sinne von Art. 85bis IVV enthalte und der Nachzahlungsbetrag an die Versicherte auszuzahlen sei. Eventuell sei die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersucht.
Die AHV/IV-Rekurskommission, die IV-Stelle und das - nachträglich als Mitbeteiligte zur Vernehmlassung eingeladene - Fürsorgeamt des Kantons Thurgau schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) lässt sich vernehmen, ohne einen Antrag zu stellen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Streitig und zu prüfen ist, ob die Fürsorge der Stadt X.________ als Erbringerin von Sozialhilfeleistungen an die Beschwerdeführerin gegenüber der Invalidenversicherung gestützt auf Art. 85bis IVV eine Drittauszahlung geltend machen kann.
2.- a) Da es sich bei der Sozialhilfe um eine öffentlich-rechtliche Leistung handelt, fragt sich, ob das thurgauische Gesetz über die öffentliche Sozialhilfe vom 29. März 1984 (nachfolgend: SHG) ein eindeutiges Rückforderungsrecht enthält.
aa) Verfügt jemand nicht über hinreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts für sich und seine Angehörigen mit gleichem Wohnsitz, sorgt die Gemeinde für die notwendige Unterstützung, sofern vom Hilfsbedürftigen nicht verlangt werden kann, sich die Mittel durch eigene Arbeit zu beschaffen, und keine andere Hilfe möglich ist (§ 8 SHG). Gemäss § 19 Abs. 2 SHG ist eine Person, die nach dem vollendeten 20. Altersjahr Unterstützungsbeiträge bezogen hat, zur Rückzahlung verpflichtet, soweit dies zumutbar ist. Schliesslich kann die finanzielle Hilfe davon abhängig gemacht werden, dass der Hilfsbedürftige vermögensrechtliche Ansprüche, die nicht von Gesetzes wegen übergehen, an die Gemeinde abtritt (§ 25 Abs. 2 SHG).
bb) Die kantonale Rekurskommission ist davon ausgegangen, dass § 19 Abs. 2 SHG ein generelles Rückforderungsrecht statuiere für den Fall, dass eine Rückerstattung zumutbar sei. Die Zumutbarkeit werde zwar im Gesetz nicht definiert, doch sei davon auszugehen, dass dies dann gegeben sei, wenn dem Leistungsempfänger rückwirkend für den Zeitraum, in welchem er Fürsorgeleistungen bezogen hat, Rentenleistungen zugesprochen würden. Soweit er solche auch für die Zukunft bekomme, benötige er die Nachzahlung nicht zur Deckung des laufenden Unterhalts.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird vorgebracht, das kantonale Recht unterscheide zwischen einer allgemeinen Unterstützung (§ 8 SHG) und einer Bevorschussung (§ 14 SHG). Die allgemeine Unterstützung durch den Staat sei deshalb keine Bevorschussung. Sie sei auch nur dann zurückzuerstatten, soweit es zumutbar sei. § 19 enthalte kein eindeutiges Rückforderungsrecht gegenüber einer leistenden Ausgleichskasse, sondern nur gegenüber dem Hilfeempfänger.
Das BSV hat in seiner Stellungnahme vom 28. Juni 1999 ausgeführt, dass die Formulierungen von § 19 Abs. 2 SHG den formellen Voraussetzungen zur Verrechnung der Nachzahlung der Rente mit erbrachten Vorschussleistungen der Fürsorgebehörde nicht genüge. Wohl räume das Sozialhilfegesetz den Fürsorgebehörden unter bestimmten Voraussetzungen ein Rückforderungsrecht ein; ein direkter Nachzahlungsanspruch gegenüber Sozialversicherungsträgern werde mit dieser Formulierung aber noch nicht begründet. § 19 Abs. 2 SHG richte sich ausschliesslich gegen fürsorgerisch unterstützte Personen oder ihre Erben.
cc) Art. 85bis Abs. 2 lit. b in fine IVV macht die Anwendung dieser Bestimmung und der sich aus ihr ergebenden bundesrechtlichen Rechtsfolge (Drittauszahlung nach Massgabe des Art. 85bis Abs. 3 IVV) von der Beantwortung einer kantonalrechtlichen Vorfrage abhängig, ob das einschlägige kantonale Sozialhilfegesetz ein "eindeutiges" Rückforderungsrecht enthält. Diese Pflicht zur vorfrageweisen Prüfung einer kantonalrechtlichen Norm, welche solange stattfinden kann, als nicht ein als Tatbestand wirkender Entscheid der hauptfrageweise zuständigen kantonalen Behörde vorliegt, entspricht ständiger Rechtsprechung und Doktrin. Das ändert aber nichts daran, dass mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nur die fehlerhafte Anwendung von Bundesrecht gerügt werden kann (Art. 104 lit. a OG). Der einfache Rechtsfehler, begangen in der Anwendung kantonalen Rechts, bildet als solcher keine Bundesrechtsverletzung. Eine solche liegt erst vor, wenn das kantonale Recht in willkürlicher Weise angewendet wird (BGE 123 V 33 Erw. 5c/cc mit Hinweisen). Davon kann im vorliegenden Fall nicht die Rede sein.
b) Ob dieser kantonalrechtliche Rückforderungsanspruch ein "eindeutiges Rückforderungsrecht" im Sinne von Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV darstellt, ist eine Frage des Bundesrechts, die das Eidgenössische Versicherungsgericht frei prüft (SVR 2001 IV Nr. 13 S. 40 Erw. 5b/bb). § 19 Abs. 2 SHG enthält zwar ein Rückforderungsrecht, doch richtet sich dieses ausdrücklich gegen den Leistungsempfänger (oder dessen Erben) selbst und nicht gegen den ebenfalls Leistungen erbringenden Sozialversicherungsträger. Diesen Rechtsumstand hatte die kantonale Rekurskommission in dem in BGE 123 V 25 beurteilten Fall als für die Verneinung eines 'eindeutigen Rückforderungsrechtes' im Sinne von Art. 85bis Abs. 2 lit. b IVV entscheidend betrachtet, was das Eidgenössische Versicherungsgericht im Rahmen der Willkürprüfung nicht beanstandete. An dieser Betrachtungsweise hielt es in der Folge auch bei freier Prüfung des Bundesrechts (Art. 104 lit. a OG) fest (SVR 2001 a.a.O.). Denn die Drittauszahlung setzt nicht nur die materiellrechtliche Begründetheit der Rückforderung und die Rückkommensvoraussetzungen (BGE 110 V 176) voraus, sondern geht mit einem Schuldner- und Gläubigerwechsel einher, welcher die Verrechnung von Nachzahlung und Rückforderung erst möglich macht. Weder das (thurgauische) Fürsorgegesetz noch die dazu ergangene regierungsrätliche Sozialhilfeverordnung (SHV) kennen eine Norm, die Fürsorgebehörden ermächtigte, eine Drittauszahlung zu verlangen (vgl. auch die Vernehmlassung des Fürsorgeamtes des Kantons Thurgau vom 29. November 2001, S. 2 [zur vorgesehenen Ergänzung des § 28 SHV]).
3.- Gemäss der Rechtsprechung (BGE 123 V 27 Erw. 1; 118 V 92 Erw. 2b) kann der Berechtigte die Zustimmung zur Auszahlung der Invalidenrente an eine Drittperson oder Behörde erst rechtswirksam erteilen, wenn der Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission über den Rentenanspruch ergangen ist. Damit wird dem rechtlichen Umstand Rechnung getragen, dass die Invalidenrentenberechtigung in den gesetzlich nicht abtretbaren Grundanspruch einerseits und das Anrecht auf die einzelnen Rentenraten andererseits unterteilt werden kann. Der Grundanspruch als solcher ist unabtretbar (Art. 50 IVG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 AHVG); das Anrecht auf die einzelne Rentenzahlung dagegen ist einer Disposition des Versicherten zugänglich. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem (bundesgerichtlichen) Urteil B. vom 14. Februar 2001 (2P. 178/2000).
Da die Beschwerdeführerin das Formular 318. 182 "Gesuch um Rentenauszahlung an eine Drittperson oder Behörde" bereits am 28. April 1997 unterzeichnet hatte, während die Rentenverfügung erst am 27. Februar 1998 erging, kann die Fürsorge der Stadt X.________ daraus keinen Anspruch auf Drittauszahlung ableiten.
4.- Da der Streit um die Drittauszahlung einer Invalidenrente nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen betrifft (BGE 121 V 18 Erw. 2), ist das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario).
Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht der Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG); damit erweist sich ihr Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung als gegenstandslos.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 2. März 1999 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 27. Februar 1998, soweit diese eine Drittauszahlung anordnet, aufgehoben.
II.Die Gerichtskosten von Fr. 1000. - werden der IV-Stelle des Kantons Thurgau auferlegt.
III. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500. - (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
IV.Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
V.Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, dem Bundesamt für Sozialversicherung und dem Fürsorgeamt des Kantons Thurgau zugestellt.
Luzern, 12. Dezember 2001
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer:
Der Gerichtsschreiber: