BGer K 152/2001
 
BGer K 152/2001 vom 30.04.2002
[AZA 7]
K 152/01 Vr
I. Kammer
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Rüedi, Bundesrichterin
Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiberin
Kopp Käch
Urteil vom 30. April 2002
in Sachen
S.________, 1981, Beschwerdeführerin, vertreten durch die Praxis Q.________,
gegen
Universa Krankenkasse, Verwaltung, Rue du Nord 5, 1920 Martigny, Beschwerdegegnerin,
und
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
A.- Die 1981 geborene S.________ ist bei der Universa Krankenkasse (nachfolgend Universa) krankenversichert. Am 26. März 1999 ersuchte Dr. med. et Dr. med. dent.
W.________, Klinik und Poliklinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie des Spitals X.________, um Kostengutsprache für die operative Behandlung der bei S.________ diagnostizierten Retromaxillie und des offenen Bisses. Die Universa teilte der Versicherten mit Schreiben vom 23. April 1999 mit, sie könne keine Leistungen erbringen. Nach diverser Korrespondenz und nach Rücksprache mit ihrem Vertrauensarzt sowie mit einem beigezogenen Kieferchirurgen hielt die Krankenkasse an ihrem Standpunkt fest und lehnte mit Verfügung vom 16. November 1999 die Übernahme der Kosten von Fr. 5422. 20 für die inzwischen vorgenommene Behandlung der Versicherten ab. Die dagegen erhobene Einsprache wies die Universa mit Entscheid vom 26. Januar 2000 ab.
B.- Mit Beschwerde liess S.________ die Übernahme der Kosten für die kieferchirurgische Behandlung durch die Universa beantragen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zog die Akten der Invalidenversicherung bei und wies die Beschwerde mit Entscheid vom 23. Oktober 2001 ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ wiederum beantragen, die Universa sei zu verpflichten, die Kosten für die kieferchirurgische Behandlung im Spital X.________ vom 1. bis 9. September 1999 als Pflichtleistung zu übernehmen.
Die Universa schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- a) Die Leistungen, deren Kosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei Krankheit zu übernehmen sind, werden in Art. 25 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) in allgemeiner Weise umschrieben.
Im Vordergrund stehen die Leistungen der Ärzte und Ärztinnen, dann aber auch der Chiropraktoren und Chiropraktorinnen sowie der Personen, die im Auftrag von Ärzten und Ärztinnen Leistungen erbringen.
Die zahnärztlichen Leistungen sind in der genannten Bestimmung nicht aufgeführt. Die Kosten dieser Leistungen sollen im Krankheitsfalle der obligatorischen Krankenpflegeversicherung - wie die Vorinstanz zutreffend darlegt - nur in eingeschränktem Masse überbunden werden, nämlich wenn die zahnärztliche Behandlung durch eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG) oder durch eine schwere Allgemeinerkrankung oder ihre Folgen bedingt (Art. 31 Abs. 1 lit. b KVG) oder zur Behandlung einer schweren Allgemeinerkrankung oder ihrer Folgen notwendig ist (Art. 31 Abs. 1 lit. c KVG).
b) Gestützt auf Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. d der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) hat das Departement - wie das kantonale Gericht ebenfalls zutreffend darlegt - in der Verordnung über Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenpflege-Leistungsverordnung [KLV]) zu jedem der erwähnten Unterabsätze von Art. 31 Abs. 1 KVG einen eigenen Artikel erlassen, nämlich zu lit. a den Art. 17 KLV, zu lit. b den Art. 18 KLV und zu lit. c den Art. 19 KLV. In Art. 17 KLV werden die schweren, nicht vermeidbaren Erkrankungen des Kausystems aufgezählt, bei denen daraus resultierende zahnärztliche Behandlungen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen sind. In Art. 18 KLV werden die schweren Allgemeinerkrankungen und ihre Folgen aufgelistet, die zu zahnärztlicher Behandlung führen können und deren Kosten von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu tragen sind. In Art. 19 KLV hat das Departement die schweren Allgemeinerkrankungen aufgezählt, bei denen die zahnärztliche Massnahme notwendiger Bestandteil der Behandlung darstellt. Art. 19a KLV schliesslich betrifft die zahnärztlichen Behandlungen, die durch ein Geburtsgebrechen bedingt sind.
c) In BGE 124 V 185 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht entschieden, dass die in Art. 17-19 KLV erwähnten Erkrankungen, welche von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmende zahnärztliche Behandlungen bedingen, abschliessend aufgezählt sind. Daran hat es in ständiger Rechtsprechung festgehalten (BGE 127 V 332 Erw. 3a und 343 Erw. 3b).
2.- Unbestritten und aus den Akten ersichtlich ist, dass die Beschwerdeführerin an einem offenen Biss und einer Retromaxillie litt und sich deswegen einem operativen Eingriff bei einem Kieferchirurgen unterzog. Streitig und zu prüfen ist, ob die Kosten dieser Behandlung durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung zu übernehmen sind.
3.- a) Die Krankenkasse verneinte von vornherein eine Leistungspflicht im Wesentlichen mit der Begründung, die gesetzlichen Voraussetzungen für die Übernahme der Zahnbehandlung durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung gemäss Art. 31 Abs. 1 KVG in Verbindung mit Art. 17-19a KLV seien nicht erfüllt.
b) Die Beschwerdeführerin liess im vorinstanzlichen Verfahren zunächst geltend machen, ihre Beschwerden seien sowohl unter Art. 17 lit. f KLV (Dysgnathie) wie auch unter Art. 19a Abs. 2 Ziff. 21 und 22 KLV (Mordex apertus und Prognathia) zu subsumieren, weshalb die daraus hervorgehenden zahnärztlichen Behandlungen von der Krankenkasse zu übernehmen seien. In ihrer abschliessenden Stellungnahme sodann qualifizierte sie den streitigen Eingriff als allgemeinchirurgische Behandlung, welche die Krankenkasse nach Massgabe von Art. 25 KVG zu übernehmen habe.
c) Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich legte in seinem Entscheid zunächst dar, dass - wie die Versicherte inzwischen selber einräume - weder ein Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 19a KLV noch eine Dysgnathie, die zu Störungen mit Krankheitswert geführt habe, vorliege, weshalb eine Leistungspflicht für eine zahnärztliche Behandlung zu verneinen sei. Eine Leistungspflicht für eine allfällige ärztliche Behandlung gemäss Art. 25 KVG sei sodann wegen Fehlens des Krankheitswertes nicht gegeben. Da der erfolgte kieferchirurgische Eingriff demnach weder als ärztliche noch als zahnärztliche Behandlung von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmen wäre, könne die Frage, ob eine ärztliche oder eine zahnärztliche Behandlung vorliege, offen bleiben.
d) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beruft sich die Beschwerdeführerin auf eine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für eine ärztliche Behandlung gemäss Art. 25 KVG, wobei der erforderliche Krankheitswert gegeben sei. Die Beschwerdegegnerin vertritt demgegenüber den Standpunkt, dass nur eine Leistungspflicht für eine zahnärztliche Behandlung im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 lit. f KLV in Frage kommen könne, wobei die entsprechenden Voraussetzungen für eine Leistungspflicht nicht erfüllt seien.
4.- a) Die im Vordergrund stehenden Kriterien für die Abgrenzung zwischen ärztlicher und zahnärztlicher Behandlung sind der Ansatzpunkt und die therapeutische Zielsetzung der Behandlung.
aa) Stellt man zunächst auf den Ansatzpunkt ab, sind zahnärztliche Behandlungen - wie bereits gemäss konstanter Rechtsprechung zum KUVG - grundsätzlich therapeutische Vorkehren am Kausystem. Darunter fallen die Behandlung der Zähne, des Zahnhalteapparates sowie die Behandlung an den Organbereichen, die ein künstliches Gebiss aufzunehmen haben (BGE 120 V 195 Erw. 2b).
bb) Als weiteres entscheidendes Kriterium dient die therapeutische Zielsetzung, die sich danach bestimmt, welcher Körperteil oder welche Funktion unmittelbar therapiert oder verbessert werden soll (vgl. Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Fn 333).
cc) Einige Beispiele mögen der Veranschaulichung dienen:
Während etwa bei der Überkronung eines schadhaften Zahnes Ansatzpunkt und therapeutische Zielsetzung den gleichen Zahn betreffen, können sie auch verschiedene Bereiche erfassen. Eine Aufbissschiene beispielsweise, die nicht zur Verbesserung der Funktion der Zähne bei der Zerkleinerung der Nahrung, sondern zur Entlastung arthrotischer Kiefergelenke angebracht wird, setzt zwar am Zahnapparat an, bezweckt aber die Therapierung der Kieferarthrose.
In solchen Fällen wird im Allgemeinen der therapeutischen Zielsetzung das grössere Gewicht beizumessen sein, was bedeutet, dass das Anbringen einer solchen Aufbissschiene als ärztliche Massnahme anzusehen ist. Umgekehrt liegt eine zahnärztliche Behandlung vor, wenn sie die Zähne als solche oder ihre vordringliche Funktion zur Zerkleinerung der Nahrung (Verbesserung der Bissverhältnisse) betrifft. Daran ändert auch nichts, wenn der Ansatzpunkt der Behandlung im Kieferbereich ausserhalb des Zahnapparates und des Parodonts liegt. Die therapeutische Zielsetzung, die auf eine Verbesserung dieser Funktion gerichtet ist, gibt den Ausschlag und macht die Behandlung zu einer zahnärztlichen.
b) Die genannten Kriterien dürften im Allgemeinen zur Unterscheidung zwischen zahnärztlicher und ärztlicher Behandlung ausreichen. Soweit es nötig sein sollte, könnten ergänzend weitere sachdienliche Kriterien herangezogen werden (vgl. zum Ganzen zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenes Urteil K. vom 22. April 2002, K 172/00).
c) Während die Kosten für eine ärztliche Behandlung von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei gegebenem Krankheitswert nach Massgabe von Art. 25 KVG zu übernehmen sind, richtet sich die Leistungspflicht für eine zahnärztliche Behandlung nach Art. 31 Abs. 1 KVG in Verbindung mit Art. 17 ff. KLV.
5.- Ansatzpunkt der streitigen operativen Behandlung des offenen Bisses und der Retromaxillie sind der Zahnapparat und der Kieferbereich. Die therapeutische Zielsetzung bedarf einer differenzierten Betrachtung.
a) Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, der operative Eingriff habe dazu gedient, ihre äussere Erscheinung im Gesichtsbereich ästhetischer zu machen und damit ihre Hemmungen abzubauen, an denen sie seit ihrer Kindheit leide, beruft sie sich auf eine therapeutische Zielsetzung, die im psychischen Bereich liegt. Zur Diskussion steht damit eine ärztliche Massnahme. Der Krankheitswert, der erforderlich wäre, damit die Behandlung die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung gemäss Art. 25 KVG zu begründen vermöchte, ist indessen nicht gegeben. Die Angabe in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, wonach die Versicherte mit einem Antidepressivum behandelt worden sei, ist zu vage, als dass daraus auf eine psychische Erkrankung mit Krankheitswert geschlossen werden könnte. Der Vollständigkeit halber ist diesbezüglich darauf hinzuweisen, dass auch im von der Beschwerdeführerin aufgelegten Bericht des Prof. Dr. Dr. G.________, Klinik und Poliklinik für Kiefer- und Gesichtschirurgie des Spitals X.________ vom 29. November 2001, nichts auf eine solche Erkrankung hindeutet.
b) Soweit die Beschwerdeführerin indessen geltend macht, die Operation habe einer Verbesserung der Bissverhältnisse gedient, handelt es sich von der therapeutischen Zielsetzung her um eine zahnärztliche Massnahme. Eine schwere, nicht vermeidbare Erkrankung im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 lit. f KLV liegt indessen nicht vor. In den Akten finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin an einer Dysgnathie, die zu Störungen mit Krankheitswert, namentlich zu einer schweren Schädel-Gesichts-Asymmetrie, geführt hätte, litt. Der offene Biss und die Retromaxillie, welche bei der Versicherten zu wenig ausgeprägt gewesen sind, als dass sie ein Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG dargestellt hätten, mögen wohl der äusseren Erscheinung Abbruch tun; von einer schweren Schädel-Gesichts-Asymmetrie kann indessen nicht die Rede sein. Diesbezüglich kann auch auf den Bild-Atlas der Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Kausystem (SSO-Atlas), herausgegeben von der Schweizerischen Zahnärztegesellschaft SSO, 1996, verwiesen werden, wo unter Asymmetrie im Sinne von Art. 17 lit. f Ziff. 3 KLV der offene Biss und die Retromaxillie nicht aufgeführt sind.
c) Ist demzufolge die Beschwerdegegnerin weder für die Kosten einer ärztlichen noch einer zahnärztlichen Behandlung leistungspflichtig, ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 30. April 2002
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer:
Die Gerichtsschreiberin: