BGer I 199/2002
 
BGer I 199/2002 vom 20.08.2002
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 199/02
Urteil vom 20. August 2002
IV. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Ackermann
Parteien
M.________, 1993, Beschwerdeführerin, vertreten durch Herr und Frau W.________,
gegen
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdegegnerin,
Vorinstanz
Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen und IV-Stellen, Basel
(Entscheid vom 13. Dezember 2001)
Sachverhalt:
A.
M.________, geboren 1993, erhält seit Geburt diverse Leistungen der Invalidenversicherung und befand sich in den Jahren 1995 bis 2001 in der Obhut einer Pflegefamilie. Am 22. März 2001 beantragten die Pflegeeltern - anlässlich einer Abklärung vor Ort - die Ausrichtung von Pflegebeiträgen. Mit Verfügung vom 25. April 2001 stellte die IV-Stelle Basel-Stadt fest, dass M.________ zwar ab Januar 1997 Anspruch auf einen Pflegebeitrag für Hilflosigkeit leichten Grades und ab Januar 1999 für Hilflosigkeit mittleren Grades habe, die Pflegebeiträge wegen verspäteter Anmeldung jedoch erst ab März 2000 gewährt werden könnten.
B.
Die von M.________ dagegen erhobene Beschwerde wies die Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen und die IV-Stellen Basel-Stadt (heute: Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt) mit Entscheid vom 13. Dezember 2001 ab.
C.
M.________, vertreten durch ihre (ehemaligen) Pflegeeltern, führt Verwaltungs-gerichtsbeschwerde mit dem sinngemässen Antrag, unter Aufhebung des vorin-stanzlichen Entscheides und der Verwaltungsverfügung seien ihr Pflegebeiträge mittleren Grades auch für den Zeitraum vor März 2000 auszurichten.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet. Im Weiteren lässt sich die ehemalige Beiständin der M.________ vernehmen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen über den Anspruch auf Pflegebeiträge für die Betreuung hilfloser Minderjähriger (Art. 20 IVG, Art. 13 IVV), den Anspruch auf Nachzahlung von Leistungen der Invalidenversicherung (Art. 48 Abs. 1 IVG) und auf Ausrichtung von Leistungen bei verspäteter Anmeldung (Art. 48 Abs. 2 IVG) unter Hinweis auf die Rechtsprechung, insbesondere zur Kenntnis des anspruchsbegründenden Sachverhalts (BGE 120 V 94 Erw. 4b, 102 V 113 Erw. 1a; ZAK 1984 S. 404 Erw. 1), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
2.
Zunächst ist zu prüfen, ob die Pflegebeiträge über den in Art. 48 Abs. 2 IVG vorgesehenen Zeitraum von zwölf Monaten hinaus auszurichten sind, wie es die Versicherte beantragt. Das kantonale Gericht hat dies verneint, da die Pflegebeiträge nicht explizit verlangt worden seien und die IV-Stelle nicht um die Hilflosigkeit der Beschwerdeführerin hätte wissen müssen.
2.1 Die IV-Stelle hat im Rahmen der Untersuchungsmaxime auf Grund einer rechtsgenüglichen Anmeldung alle in Betracht fallenden Leistungsansprüche zu prüfen, selbst wenn sie vom Versicherten im Anmeldeformular nicht im Einzelnen angegeben werden. Die Abklärungspflicht erstreckt sich dabei indes nicht auf alle überhaupt möglichen Leistungen, sondern nur auf die vernünftigerweise mit dem vorgetragenen Sachverhalt und allfälligen bisherigen oder neuen Akten im Zusammenhang stehenden Leistungen (BGE 121 V 197 Erw. 2, 111 V 264 Erw. 3b; ZAK 1980 S. 540 Erw. 1; SVR 2001 Nr. IV 24 S. 74 Erw. 4a). Da in den diversen Anmeldungen nie ausdrücklich Pflegebeiträge verlangt worden sind, gilt für den vorliegenden Fall, dass eine weitergehende Nachzahlung nur dann geschuldet ist, wenn die IV-Stelle aus den Umständen auf einen möglichen Anspruch auf Pflegebeiträge schliessen musste.
Die in den Akten der IV-Stelle liegenden Arztberichte geben jeweils die Diagnose an (Sacraldermoid [Kinderspital G.________ vom 5. Mai 1993]; spastische cerebrale Bewegungsstörungen [GgV 395; Spital B.________ vom 3. Februar 1994]; vor allem die beiden unteren Extremitäten betreffende spastisch-ataktische Cerebralparese, verbunden mit neurogenen Knick-Senk-Füssen, psychomotorischer Entwicklungsrückstand sowie deutlicher sprachlicher Rückstand [Spital B.________ vom 3. März 1995]; spastisch-ataktische Cerebralparese, psychomotorischer und sprachlicher Entwicklungsrückstand [Dr. med. K.________, Kinderarzt FMH, vom 6. April 1995]; generalisierte symptomatische Epilepsie [Dr. med. X.________, Spezialarzt FMH für Pädiatrie, speziell Neuropädiatrie, vom 28. Dezember 1995]; generalisierte Epilepsie [Dr. med. X.________ vom 25. Januar 1999]). Im Weiteren verneinen die Ärzte - soweit ein Formularbericht vorliegt - durchwegs die Hilflosigkeit der Versicherten, indem auf die entsprechende Frage im Formular jeweils die Antwort "nein" angekreuzt worden ist. Dr. med. X.________ führt diesbezüglich im Rahmen des Vorbescheidverfahrens in seinem Bericht vom 7. April 2001 aus, er sei "selbstverständlich von der Voraussetzung ausgegangen, dass im Zusammenhang mit den Verhaltensauffälligkeiten und der kognitiven Schwäche, welche nicht in einem direkten Kausalzusammenhang mit der Epilepsie stehen, durch die sozial betreuenden Instanzen ... die der betreuenden Familie zustehenden Ausgleichsleistungen für behinderungsbedingten Mehraufwand geregelt sind." Dieses Missverständnis ändert jedoch nichts daran, dass die IV-Stelle im - für das anzurechnende Wissen massgebenden - Zeitraum vor der im März 2001 erfolgten Anmeldung aufgrund der vorliegenden Arztberichte nicht davon ausgehen musste, dass die Versicherte einer weitergehenden Betreuung bedurfte als Minderjährige des gleichen Alters (BGE 113 V 19 Erw. 1a; AHI 1998 S. 210 Erw. 4b) und somit die Voraussetzungen für Pflegebeiträge gemäss Art. 20 IVG abzuklären seien (anders z.B. nicht veröffentlichtes Urteil G. vom 24. September 1991, I 111/90, wo die Verwaltung aufgrund der Diagnose "Paraplegie" auf eine Hilflosenentschädigung hätte schliessen müssen). Die im vorinstanzlichen Verfahren von den Pflegeeltern eingereichten ausführlicheren Berichte des Spitals B.________ von 1993 bis 1995 - insbesondere derjenige vom 13. September 1995, in dem von "intensiver Betreuung" die Rede ist - sind der IV-Stelle nicht eingereicht worden und können ihr aus diesem Grund nicht als Wissen angerechnet werden.
Im Übrigen ergibt sich auch aus den anderen, bis zum Zeitpunkt der Anmeldung im März 2001 vorhandenen Akten kein Anhaltspunkt für das Vorliegen einer Hilflosigkeit. Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Verwal-tung nicht über genügend Angaben verfügte, welche die Annahme erlaubten, Pflegebeiträge könnten in Frage kommen; folglich war sie nicht gehalten, die Frage der Hilflosigkeit der Versicherten von Amtes wegen zu prüfen. Der Anspruchsbeginn für die Pflegebeiträge kann deshalb nicht auf einen Zeitpunkt früher als zwölf Monate vor Gesuchseinreichung zurückgehen (AHI 1998 S. 210 f. Erw. 4b).
2.2 Die Beschwerdeführerin macht weiter geltend, dass ihre Pflegeeltern nie auf den Anspruch auf Pflegeleistungen aufmerksam gemacht worden seien. Damit wird sinngemäss auf Art. 48 Abs. 2 Satz 2 IVG verwiesen, wonach weitergehende Nachzahlungen erbracht werden, wenn der Versicherte den anspruchsbegründenden Sachverhalt nicht kennen konnte und die Anmeldung innert zwölf Monaten seit Kenntnisnahme vornimmt.
Mit der Kenntnis des anspruchsbegründenden Sachverhalts ist nicht das subjektive Einsichtsvermögen der Versicherten oder - wie hier infolge der Handlungsunfähigkeit der Beschwerdeführerin - ihres Vertreters gemeint, sondern es geht vielmehr darum, ob der anspruchsbegründende Sachverhalt objektiv feststellbar ist oder nicht (BGE 100 V 120 Erw. 2c; ZAK 1984 S. 404 f. Erw. 1). Einem Nachzahlungsanspruch für mehr als zwölf Monate vor der Anmeldung steht der Umstand nicht entgegen, dass die in Art. 66 IVV genannten Drittpersonen - hier die Pflegeeltern - den leistungsbegründenden Sachverhalt bereits in einem früheren Zeitpunkt gekannt haben (BGE 108 V 228 Erw. 3; ZAK 1984 S. 405 Erw. 1; Urteil K. vom 29. März 2001, I 71/00). Dass die Hilflosigkeit der Versicherten lange vor der Anmeldung zum Bezug von Hilflosenentschädigung objektiv erkennbar gewesen ist, muss auf Grund des Abklärungsberichtes Pflegebeiträge vom 23. März 2001 sowie der Angaben der Pflegeeltern im Vorbescheid- und vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren bejaht werden, auch wenn die damalige Beiständin der Beschwerdeführerin die Sachlage anders eingeschätzt hat. Jedoch kommt es allein auf die Kenntnis des anspruchsbegründenden Sachverhalts, also auf die Kenntnis des entsprechenden Gesundheitszustandes und nicht etwa darauf an, ob sich daraus ein Anspruch auf einen Pflegebeitrag ableiten lässt (BGE 102 V 113); genau dies wird jedoch geltend gemacht, indem die Versicherte vorbringt, die Pflegeeltern seien nie auf den entsprechenden Anspruch aufmerksam gemacht worden. Überdies kann nach einem auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz niemand Vorteile aus seiner eigenen Rechtsunkenntnis ableiten (BGE 124 V 220 Erw. 2b/aa mit Hinweisen), weshalb diese keinen Hinderungsgrund bezüglich Wissen um den anspruchsbegründenden Sachverhalt darstellt (Urteil M. vom 8. Juli 2002, H 22/02).
Was den Einwand der mangelnden Instruktion durch andere Behörden betrifft, ist festzuhalten, dass weder die Heilstätten noch die Ärzte eine spezielle gesetzliche Aufklärungspflicht bezüglich des Anmeldungserfordernisses trifft. Schliesslich kann die Frage, welche Konsequenzen sich aus einem etwaigen fehlerhaften Verhalten der Vormundschaftsbehörde ergeben (so sei die damalige Beiständin jeweils über den Gesundheitszustand informiert gewesen), nicht Gegenstand dieses Sozialversicherungsprozesses sein (Urteil M. vom 8. Juli 2002, H 22/02).
3.
Da der Anspruch auf Pflegebeiträge nur für die zwölf der Anmeldung von März 2001 vorangehenden Monate besteht, kann die Höhe der Hilflosenentschädigung für die vorherige Zeit offen bleiben; aus den eingereichten Rechtsschriften ist im Übrigen nicht deutlich ersichtlich, ob die Beschwerdeführerin die Höhe des Beitrages gemäss den Feststellungen des Abklärungsberichtes von März 2001 bestreitet, oder ob sie bloss eine nicht anspruchsbeeinflussende Änderung in der Begründung der Verfügung erwirken möchte, was jedoch rechtsprechungsgemäss nicht möglich ist (BGE 115 V 147 Erw. 3b/aa).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Beistand J.________, c/o Vormundschaftsbehörde Basel-Stadt, der Ausgleichskasse Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 20. August 2002
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: