Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5P.401/2002 /bnm
Urteil vom 9. Dezember 2002
II. Zivilabteilung
Bundesrichter Bianchi, Präsident,
Bundesrichter Raselli, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Zbinden.
Z.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Herrn Stephan Schneider, Chürzistrasse 19, 8600 Dübendorf,
gegen
Y.________,
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Walter Furrer, Bleicherweg 27, 8002 Zürich,
Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde, Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
Art. 9 BV etc. (Besuchsrecht; Entzug der aufschiebenden Wirkung, Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde, vom 27. September 2002.
Sachverhalt:
A.
Z._________ und Y.________ lebten ab November 1998 im Konkubinat. Am 16. Juli 1999 anerkannte Y.________ den am 28. Juli 1999 geborenen Knaben X.________ als sein Kind. Die Eltern des Knaben lösten das Konkubinat Ende März 2001 auf. Umstritten blieb der persönliche Verkehr des Vaters mit dem Kind. Mit Beschluss vom 15. Juli 2002 berechtigte die Vormundschaftsbehörde A.________ den Vater, seinen Sohn ab dem 1. September 2002 bis zu dessen erreichtem 5. Altersjahr jeweils am 1. Sonntag des Monats zu besuchen oder mit sich auf Besuch nehmen. Nach dem zurückgelegten 5. Altersjahr des Sohnes steht dem Vater ein Besuchsrecht während des ersten Wochenendes pro Monat zu. Einer allfälligen Beschwerde entzog die Vormundschaftsbehörde die aufschiebende Wirkung und ernannte dem Kind einen Beistand nach Art. 308 Abs. 2 ZGB.
B.
Z.________ beantragte dem Bezirksamt Muri als vormundschaftlicher Aufsichtsbehörde mit Beschwerde, ein bis Ende 2002 auf knapp einen halben Tag pro Monat beschränktes und begleitetes Besuchsrecht anzuordnen und danach das Besuchsrecht neu zu regeln. Weiter ersuchte sie um unentgeltliche Rechtspflege und darum, dass ihrer Beschwerde aufschiebende Wirkung erteilt werde. Y.________ und die Vormundschaftsbehörde A.________ beantragten die Abweisung der Beschwerde. Mit Verfügung vom 22. August 2002 wies das Bezirksamt Muri das Gesuch um aufschiebende Wirkung ab.
Z.________ gelangte mit Beschwerde an die Kammer des Obergerichts des Kantons Aargau für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde (nachfolgend: Obergericht) und verlangte, die Verfügung vom 22. August 2002 sei aufzuheben; ihrer vor dem Bezirksamt Muri hängigen Beschwerde in der Sache sei sofort aufschiebende Wirkung zu erteilen. Zudem ersuchte sie um unentgeltliche Rechtspflege. Das Obergericht wies die Beschwerde mit Entscheid vom 27. September 2002 ab, gab auch dem Gesuch von Z.________ um Verfahrenshilfe nicht statt und auferlegte ihr die Verfahrenskosten.
C.
Z.________ führt staatsrechtliche Beschwerde und beantragt dem Bundesgericht, den obergerichtlichen Entscheid bezüglich der Verweigerung sowohl der aufschiebenden Wirkung als auch der unentgeltlichen Rechtspflege aufzuheben.
Es sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden.
D.
Mit Rücksicht auf das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ist mit Verfügung vom 30. Oktober 2002 auf die Erhebung eines Kostenvorschusses verzichtet worden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beschwerdeführerin hat ihren vor Bundesgericht neu hinzugezogenen Rechtsvertreter mit Urkunde vom 16. Oktober 2002 rechtsgültig bevollmächtigt (vgl. BGE 117 Ia 440 E. 1a S. 443 f.). Dass der Rechtsbeistand möglicherweise nicht über ein Anwaltspatent verfügt, schadet nicht: Da Art. 29 Abs. 2 Satz 1 OG lediglich verlangt, dass in Zivil- und Strafsachen nur patentierte Anwälte vor Bundesgericht auftreten können, dürfen im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde auch Nichtanwälte Parteivertreter sein (BGE 105 Ia 67 E. 1a).
2.
Auf die Eingaben, welche die Beschwerdeführerin dem Bundesgericht nach Ablauf der Beschwerdefrist (Art. 89 Abs. 1 OG) eingereicht hat, ist nicht einzutreten. Das gilt auch für zahlreiche Tatsachenschilderungen in der Beschwerdeschrift, zu denen dem angefochtenen Urteil nichts entnommen werden kann. Im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde sind neue tatsächliche Vorbringen unzulässig (BGE 119 II 6 E. 4a; 124 I 208 E. 4b S. 212). Die Beschwerdeführerin legt auch nicht dar, sie habe die fraglichen Tatsachenbehauptungen vor Obergericht vorgetragen bzw. entsprechende Beweise seien nicht oder willkürlich gewürdigt worden. Unbeachtlich sind auch die zahlreichen Aktenverweise, hat doch die Begründung aus der Beschwerdeschrift selbst hervorzugehen (BGE 115 Ia 27 E. 4a S. 30).
3.
Das Obergericht hält zunächst fest, Voraussetzung sowohl für die Aufhebung der Suspensivwirkung einer Beschwerde gegen den Beschluss der Vormundschaftsbehörde vom 15. Juli 2002 betreffend Regelung des Besuchsrechts als auch für die Anordnung einer Begleitung sei eine Gefährdung des Kindeswohls. Die Beschwerdeführerin habe in beiden Punkten nicht glaubhaft machen können, dass das Kindeswohl durch den persönlichen Verkehr zwischen dem Beschwerdegegner und dem Kind gefährdet sei. Auch aus den Akten würden sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Beschluss vom 15. Juli 2002 das Kindeswohl gefährde und dass einer Beschwerde gegen diesen Entscheid die aufschiebende Wirkung gewährt und eine Begleitung der Besuche angeordnet werden müsse. Das tiefe Zerwürfnis zwischen den Kindeseltern habe die Beschwerdeführerin veranlasst, gegen das von der Vormundschaftsbehörde angeordnete Besuchsrecht anzugehen. Ein tiefer Streit zwischen den Kindeseltern könne nicht die Suspendierung, bzw. Einschränkung des Besuchsrechts, sondern die Anordnung einer Beistandschaft nach Art. 308 Abs. 2 ZGB zur Regelung der Übergabemodalitäten und der Ausübung des Besuchsrechts erforderlich machen. Darüber sei hier aber nicht zu entscheiden. Das Begehren um Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung müsse als offensichtlich unbegründet abgewiesen werden.
3.1 Die Beschwerdeführerin ruft zwar Art. 8 BV an, macht in der Sache aber eine Verletzung von Art. 9 BV geltend. Willkür liegt nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn ein Entscheid mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft (BGE 126 III 438 E. 3 S. 440; 127 I 54 E. 2b S. 56). In der staatsrechtlichen Beschwerde ist unter Auseinandersetzung mit den Entscheidmotiven des angefochtenen Urteils aufzuzeigen, inwiefern dieses gegen die Verfassung verstösst. Appellatorische Kritik ist unzulässig (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 125 I 71 E. 1c S. 76; 125 I 492 E. 1b S. 495).
3.2 Die Beschwerdeführerin schildert über viele Seiten ihrer Eingabe hinweg Vorfälle aus der Zeit, in der sie mit dem Beschwerdegegner zusammenlebte. Mit diesen will sie sowohl das ausgesprochen angespannte Verhältnis der Parteien als auch eine Gefährdung des Kindeswohls belegen. Auf diese Rügen ist nicht einzutreten: Zum einen beruhen sie nicht auf den im angefochtenen Entscheid festgestellten Tatsachen (dazu E. 2). Zum andern stellt das Obergericht fest, dass die Parteien seit Ende März 2001 getrennt leben, weshalb allein mit Ereignissen aus der Zeit des Konkubinats der Parteien für den Zeitpunkt des angefochtenen Urteils (27. September 2002) Willkür nicht begründet werden kann (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG). Die Beschwerdeführerin bestätigt mit ihren Rügen bloss die festgestellte Tatsache, dass die Parteien sehr zerstritten sind.
3.3
3.3.1 Die Beschwerdeführerin rügt, der Beschwerdegegner habe sie von April bis September 2001 mehrmals getroffen, um sie zurückzugewinnen. Vom Kind habe er in diesem Zeitraum keine Notiz genommen. Als der Beschwerdegegner gemerkt habe, dass sie sich von ihm endgültig trennen werde, habe er ihr mehrmals (auch nachts) aufgelauert, sie massiv bedroht und damit das zuweilen anwesende Kind sehr verängstigt. Nach begleiteten Besuchen im Dezember 2001 und im Januar 2002 sei das Kind jeweils total verstört gewesen. Der Beschwerdegegner wolle sich nicht als Vater um seinen Sohn kümmern. Das Kind fühle sich bei ihr und ihrem neuen Lebenspartner wohl, mit dem sie seit Beginn des Novembers 2002 einen gemeinsamen Haushalt aufbaue. Mit der stabilen Beziehung zum neuen Partner sei die Identitätsfindung des Sohnes gewährleistet.
3.3.2 Auch diese Rügen beruhen weitgehend, insbesondere was die neue Partnerschaft der Beschwerdeführerin betrifft, auf Tatsachenschilderungen, zu denen im angefochtenen Urteil nichts steht. Deshalb kann auf sie insoweit nicht eingetreten werden (dazu E. 2). Unzulässig sind die Rügen aber auch deshalb, weil sie überdies am angefochtenen Entscheid vorbei zielen: Das Obergericht hat darin bloss bestätigt, dass einer Beschwerde gegen den Entscheid über das Besuchsrecht der Vormundschaftsbehörde vom 15. Juli 2002 keine aufschiebende Wirkung zukommen soll. Indem die Beschwerdeführerin von den Streitigkeiten zwischen ihr und dem Beschwerdegegner und von dessen Versagen als Vater berichtet, schildert sie bloss ihre eigene Sichtweise und setzt sich nicht mit dem angefochtenen Urteil auseinander (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 120 Ia 369 E. 3a). Sodann verliert sie kein Wort darüber, dass es für Kinder von grossem Wert ist, auch zum jeweils anderen Elternteil persönlichen Kontakt zu pflegen. Dieser spielt für die Identitätsfindung eines über drei Jahre alten Kindes eine bedeutende Rolle (BGE 120 II 229 E. 4a S. 235; allgemein BGE 122 III 404 E. 3a S. 407; 126 III 219 E. 2b S. 221). Es dient gewiss dem Wohl des Kindes, wenn es vom neuen Lebenspartner der Beschwerdeführerin gut aufgenommen wird. Doch spielt dies für das hier massgebliche Verhältnis zwischen dem Beschwerdegegner und dem Kind keine Rolle.
3.4
3.4.1 Die Beschwerdeführerin rügt sodann, das Kind werde durch den unbegleiteten Kontakt zum Beschwerdegegner in unlösbare Loyalitätskonflikte gestürzt; angesichts der ausgeprägten Spannungen sei es unverhältnismässig, keine Begleitung anzuordnen und ihrer Beschwerde die Suspensivwirkung zu entziehen. Sie begründet aber nicht (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG), weshalb es ihr und dem Beschwerdegegner unmöglich sein sollte, ihren Streit vom gemeinsamen Kind fern zu halten und ihm in seinem Interesse einen Kontakt zu beiden Elternteilen zu ermöglichen. Mit dem blossen Verweis auf die erheblichen Spannungen zwischen den Parteien kann auch eine Einschränkung des Besuchsrechts nicht begründet werden. Denn zwecks Fernhaltung der Streitigkeiten vom Kind hat die Vormundschaftsbehörde eine Beistandschaft nach Art. 308 Abs. 2 ZGB angeordnet. Die Beschwerdeführerin begründet nicht, weshalb diese Massnahme einstweilen nicht genügt.
3.4.2 Weiter macht die Beschwerdeführerin eine Entfremdung zwischen dem Sohn und dem Beschwerdegegner geltend. Sie übersieht aber, dass sie damit nicht begründen kann (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG), weshalb einer allfälligen Beschwerde willkürlich die Suspensiveffekt entzogen wurde. Denn nur der Entzug der aufschiebenden Wirkung kann dazu beitragen, dass bei heftig streitenden und den Instanzenzug beanspruchenden Eltern der Kontakt zwischen dem Kind und dem nicht sorgeberechtigten Elternteil nicht ganz erlischt.
3.5 Schliesslich rügt die Beschwerdeführerin vergeblich, das Obergericht hätte wegen des Untersuchungsgrundsatzes weitere Abklärungen treffen, Gutachten einholen und Zeugen befragen müssen. Sie begründet nicht (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG), weshalb im vorliegenden Verfahren, in dem es gar nicht um die Regelung des Besuchsrechts geht, weitere Sachverhaltsabklärungen erforderlich sein sollten.
4.
4.1 Das Obergericht hat der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege verweigert mit der Begründung, ihre Beschwerde sei von vornherein aussichtslos gewesen. Die Beschwerdeführerin habe nämlich nicht dargetan, weshalb das Kindeswohl gebiete, die aufschiebende Wirkung zu gewähren, bzw. den Kontakt zwischen dem Kind und dem Beschwerdegegner sofort aufzuheben oder einzuschränken; eine entsprechende Gefährdung bestehe auch nach den Akten klar nicht.
4.2 Die Beschwerdeführerin macht zusammengefasst geltend, das Kindeswohl sei durch den Entzug der Suspensivwirkung und die nicht angeordnete Begleitung gefährdet. Es müsse ernsthaft damit gerechnet werden, dass sie vor dem Bezirksamt in der Sache obsiegen werde. Auf diese Rügen kann mangels hinreichender Begründung (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG) nicht eingetreten werden: Die Beschwerdeführerin verwechselt einmal mehr das vorliegende Verfahren mit demjenigen über die Regelung des Besuchsrechts. Ob ihre Beschwerde in der Sache, die vor dem Bezirksamt Muri hängig ist, Aussicht auf Erfolg hat, interessiert hier nicht. Die Beschwerdeführerin hätte unter Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Entscheid begründen müssen, weshalb ihre Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksamts Muri vom 22. August 2002, mit der ihr Gesuch um aufschiebende Wirkung abgewiesen worden war, nicht aussichtslos schien; sie hätte dartun müssen, weshalb die Gewinnaussichten ihres gegenteiligen Standpunktes ernsthaft sind (BGE 125 II 265 E. 4b S. 275). Dafür genügen Argumente zur Gestaltung des Besuchsrechts offensichtlich nicht.
5.
Nach dem Dargelegten kann auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden. So wie diese begründet worden ist, konnte ihr von vornherein keine Aussicht auf Erfolg beigemessen werden, weshalb das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen ist (Art. 152 Abs. 1 OG). Somit hat die unterliegende Beschwerdeführerin die Gerichtsgebühr zu tragen (Art. 156 Abs. 1 OG); sie schuldet aber dem Beschwerdegegner keine Parteientschädigung, da er nicht zur Vernehmlassung angehalten worden ist und ihm somit keine Kosten entstanden sind (Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.
2.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 9. Dezember 2002
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: