Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 634/01
Urteil vom 15. Januar 2003
II. Kammer
Besetzung
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiber Scartazzini
Parteien
L.________, 1959, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Marc Brügger-Kuret, Bahnhofstrasse 15, 8570 Weinfelden,
gegen
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden
(Entscheid vom 3. September 2001)
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 19. Februar 1998 sprach die IV-Stelle des Kantons Thurgau der 1959 geborenen L.________ wegen polyarthritischen Beschwerden eine ganze Invalidenrente mit Wirkung ab 1. Januar 1996 zu. Auf Grund einer revisionsweisen Überprüfung der Verhältnisse wurde der Anspruch auf die weitere Ausrichtung der ganzen Rente bestätigt (Verfügung vom 15. Februar 1999). Nach vorgenommenen Abklärungen anlässlich eines weiteren Revisionsverfahrens verfügte die IV-Stelle am 26. März 2001 die Aufhebung der Rente auf Ende des nach Zustellung des Verfügungserlasses folgenden Monats mit der Begründung, nach erfolgter Verbesserung des Gesundheitszustandes betrage der Invaliditätsgrad nunmehr noch 35 %.
B.
Hiegegen liess L.________ Beschwerde erheben und die Rechtsbegehren stellen, es sei ihr weiterhin eine ganze Rente auszurichten, eventualiter sei die Sache zur Vornahme ergänzender Abklärungen und zur Neuentscheidung an die Verwaltung zurückzuweisen.
Mit Entscheid vom 3. September 2001 wies die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau die Beschwerde ab und schützte die Revisionsverfügung mit der substituierten Begründung, die ursprüngliche Verfügung sei zweifellos unrichtig gewesen und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung.
C.
L.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und in Aufhebung des kantonalen Entscheides die vorinstanzlichen Rechtsbegehren erneuern. Gleichzeitig lässt sie ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege stellen.
Die IV-Stelle und die AHV/IV-Rekurskommission schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Die kantonale Rekurskommission hat im angefochtenen Entscheid die vorliegend massgeblichen gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs ( Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG ), die Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) und die Rentenrevision (Art. 41 IVG), insbesondere die Revisionsgründe und die hiebei zu vergleichenden Sachverhalte zutreffend dargelegt. Ebenfalls zutreffend hat die Vorinstanz ausgeführt, nach ständiger Rechtsprechung beurteile das Sozialversicherungsgericht die Gesetzmässigkeit der Verwaltungsverfügung in der Regel nach dem Sachverhalt, wie er zur Zeit des Verfügungserlasses gegeben war (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweisen). Das Gleiche gilt für die Rechtsprechung, wonach der Richter eine zu Unrecht ergangene Revisionsverfügung gegebenenfalls mit der substituierten Begründung schützen kann, die ursprüngliche Verfügung sei zweifellos unrichtig und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung (BGE 125 V 369 Erw. 2 und 3b, vgl. auch BGE 127 V 469 Erw. 2c mit Hinweisen).
2.
Bei der Beurteilung, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse als Voraussetzung für eine Revision verändert haben, ist der Sachverhalt im Zeitpunkt des ursprünglichen Verfügungserlasses, also am 19. Februar 1998, mit demjenigen der angefochtenen Verfügung vom 26. März 2001 zu vergleichen. Der Vorinstanz ist auf Grund der Akten beizupflichten, dass seit der Zusprechung der ganzen Rente bis zur Aufhebung derselben nur zu einem beschränkten Teil in gesundheitlicher oder erwerblicher Hinsicht eine unter dem Gesichtswinkel von Art. 41 IVG beachtliche Besserung des Zustandes eingetreten ist.
Zu prüfen ist somit, ob die kantonale Rekurskommission die rentenaufhebende Verfügung vom 26. März 2001 zu Recht mit der substituierten Begründung schützte, die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der rechtskräftigen Leistungsverfügung vom 19. Februar 1998 seien gegeben.
3.
3.1 In einem ärztlichen Zwischenbericht vom 20./26. Juli 1999 hat Dr. med. H.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, dargelegt, an der rheumatologischen Diagnostik, auf welche sich sein Gutachten (vom 12. Mai/26. Juni 1997) gestützt hatte, bestünden Widersprüchlichkeiten. Auch nach langer Beobachtungszeit bei der Versicherten hätten sich keinerlei psychiatrische Auffälligkeiten gezeigt. Die bei der Begutachtung noch nachweisbare depressive Stimmungslage sei ebenfalls verschwunden und eine Neubeurteilung sei als sinnvoll zu erachten. Daraus schloss die kantonale Rekurskommission, Dr. med. H.________ sehe eine Veränderung des Gesundheitszustandes dahingehend, dass die Beschwerden zwar gleichgeblieben sind, die Versicherte jedoch nun besser damit umgehen könne. Diese Verbesserung bewirke nach Einschätzung des Arztes eine Reduktion des Arbeitsunfähigkeitsgrades von 100 auf 80 %. Hingegen habe sich Dr. med. H.________ neu auf den Standpunkt gestellt, die Beschwerden und deren Einschränkungen wären nicht psychisch, sondern somatisch bedingt. Auch nach einem MEDAS-Gutachten vom 27. November 2000 wurde aus psychiatrischer Sicht eine Arbeitsunfähigkeit verneint, aus somatischer allerdings eine gewisse Einschränkung eingestanden, weshalb auf eine Arbeitsunfähigkeit für leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten von 20 bis 30 % geschlossen wurde. So betrug die Arbeitsunfähigkeit, welche der Psychiater bei 80 % gesehen hatte, nach MEDAS-Gutachter aus rheuma thologischer Sicht lediglich 20 bis 30 % und aus psychiatrischer Sicht, übereinstimmend mit Dr. med. H.________, nunmer 0 %.
Auf Grund dieser Gegebenheiten kam die Vorinstanz zum Schluss, aktenkundig sei lediglich eine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit von ca. 20 %. Während die somatische Situation nach wie vor praktisch gleichbleibend beschrieben wurde, erfolgte nun eine völlig neue Beurteilung der Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht, welche jedoch nur in geringem Umfang auf eine Verbesserung zurückgeführt werden konnte. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise beruhte im Wesentlichen auf der Erfahrung des Psychiaters Dr. med. H.________, die er auf Grund der langen Beobachtungszeit gewonnen hatte: für die anfänglich psychischen Ursachen zugeschriebenen Beschwerden konnte er keinerlei psychiatrische Auffälligkeiten erkennen. Zudem konnte die durch die MEDAS-Gutachter festgestellte wesentlich bessere Arbeitsfähigkeit der Beschwerdeführerin lediglich zu einem beschränkten Teil eindeutig auf eine tatsächliche Verbesserung zurückgeführt werden. Waren die Voraussetzungen für eine Rentenrevision nach Art. 41 IVG somit nicht erfüllt, mussten hingegen diejenigen für eine Wiedererwägung der rechtskräftigen Leistungsverfügung vom 19. Februar 1998 als gegeben erachtet werden. Die zu Unrecht ergangene Revisionsverfügung war daher mit der substituierten Begründung zu schützen, die ursprüngliche Verfügung sei zweifellos unrichtig gewesen und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung.
3.2 Die Beschwerdeführerin rügt, nach Aktenlage würden widersprüchliche ärztliche Gutachten und Berichte, jedoch kein grober Fehler der Verwaltung vorliegen, weshalb die zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Verfügung zu verneinen sei. Die Medizin könne nicht alle Symptome einer klaren Ursache zuweisen. Es sei indessen nicht zulässig, aus dieser faktischen Unmöglichkeit des Nachweises zu schliessen, dass eine versicherte Person keine ge sundheitlichen Beschwerden habe. Sei Dr. med. H.________ inzwischen zur Überzeugung gelangt, dass die Beschwerden nicht psychischen Ursprungs seien und die Vorinstanz deshalb festgestellt habe, die Verfügung vom 19. Februar 1998 erweise sich nachträglich als falsch, bedeute dies letztlich nichts anderes, als dass man ihr eine Simulation vorhalte. Werden die Beschwerden nicht mehr denselben Ursachen zugeschrieben, so sei dies nicht ein Beweis für die zweifellose Unrichtigkeit der Verfügung, sondern für die beschränkte Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaft.
3.3 Dieser Betrachtungsweise kann nicht beigepflichtet werden. Die Vorinstanz hat zutreffend festgestellt, dass Dr. med. H.________ bereits im Zeitpunkt des ursprünglichen Verfügungserlasses keinerlei Hinweise finden konnte, die auf eine schwere psychiatrische Erkrankung der Beschwerdeführerin schliessen liessen. Eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit hatte er aus psychiatrischer Sicht infolge anhaltender somatoformer Schmerzstörungen deshalb diagnostiziert, weil aus somatisch-rheumathologischer Sicht das Leiden und dessen Auswirkungen damals nicht erklärt werden konnten. Da Dr. med. H.________ auf Grund seiner zwischenzeitlich getätigten Beobachtungen (Zwischenbericht vom 20./26. Juli 1999) jedoch zur Erkenntnis gelangt war, dass die gesundheitlichen Beschwerden entgegen seiner früheren Feststellungen nicht psychiatrischen Ursprungs waren, konnte auch im Februar 1998 keine 100%ige Arbeitsunfähigkeit aus psychiatrischen Gründen bestanden haben. Diese Feststellung war damals noch nicht ohne weiteres möglich gewesen, sodass vorliegend auch nicht lediglich von einer anderen Beurteilung, welche eine Rentenrevision nicht zulassen würde, ausgegangen werden kann.
Aus den erwähnten Erkenntnissen ist entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung nicht zu schliessen, dass die Beschwerdeführerin je simuliert hätte. Denn Dr. med. H.________ hat im Zwischenbericht vom 20./26. Juli 1999 seine ursprünglichen Beobachtungen, wonach eine Simulation auf Grund des Krankenverlaufes, der Inkaufnahme wesentlicher Einschränkungen und der Echtheit des Leidensdruckes fast sicher ausgeschlossen werden könne, nicht widerrufen. Werden die Beschwerden nicht mehr denselben Ursachen zugeschrieben, so kann dies jedoch nicht mit der beschränkten Erkenntnisfähigkeit der Wissenschaft begründet werden. Vielmehr ist entscheidend, dass aus psychiatrischer Sicht eine Arbeitsunfähigkeit seit der ursprünglichen Verfügung zu verneinen gewesen wäre, während die somatisch-rheumatologischen Beschwerden seit Verfügungserlass vom 26. März 2001 eine 70 bis 80%ige Arbeitsfähigkeit ermöglichen. Der kantonale Entscheid ist diesbezüglich somit rechtens.
4.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Eventualantrag gestellt, die Beschwerdeführerin sei erneut persönlich zu ihrem Gesundheitszustand zu befragen. Es seien auch ergänzende Abklärungen bezüglich ihrer Eingliederungsfähigkeit, der Höhe des Invalideneinkommens und des Abzuges von den Tabellenlöhnen vorzunehmen.
Die kantonale Rekurskommission hat die genannten, bereits im vorinstanzlichen Verfahren erhobenen Einwände vollumfänglich abgeklärt und ist mit überzeugender Begründung zum Schluss gelangt, dass die vorhandenen Akten darüber hinreichenden Aufschluss geben. Somit besteht kein Anlass zu weiteren Abklärungen, weshalb die Beschwerdeführerin auch mit diesen Rügen nicht durchdringt.
5.
Nach dem Gesagten erfüllte die Beschwerdeführerin bereits im Zeitpunkt des ursprünglichen Verfügungserlasses die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Invalidenrente nicht, wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat.
6.
Die Beschwerdeführerin beantragt die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
6.1 Nach Gesetz (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG) und Praxis sind in der Regel die Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung erfüllt, wenn der Prozess nicht aussichtslos erscheint, die Partei bedürftig ist und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen).
Bedürftig im Sinne von Art. 152 Abs. 1 OG ist eine Person, wenn sie ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie nötigen Lebensunterhaltes nicht in der Lage ist, die Prozesskosten zu bestreiten (BGE 127 I 205 Erw. 3b, 125 IV 164 Erw. 4a). Massgebend sind die wirtschaftlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung über das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (BGE 108 V 269 Erw. 4). Bei der Beurteilung der Bedürftigkeit ist das Einkommen beider Ehegatten zu berücksichtigen (BGE 115 Ia 195 Erw. 3a, 108 Ia 10 Erw. 3, 103 Ia 101 mit Hinweisen).
6.2 Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher als gegenstandslos.
Die Beschwerdeführerin verfügt zusammen mit ihrem Ehemann über insgesamt Fr. 3955.40 monatliches Nettoeinkommen, während sich monatliche Ausgaben von Fr. 4148.05 ergeben. Die Bedürftigkeit ist somit gegeben. Im Übrigen ist die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung war geboten. Die unentgeltliche Verbeiständung kann daher gewährt werden. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Marc Brügger-Kuret für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 15. Januar 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
i.V.