Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Original
 
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 551/02
Urteil vom 28. April 2003
III. Kammer
Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und nebenamtlicher Richter Maeschi; Gerichtsschreiber Signorell
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
H.________, 1985, Beschwerdegegnerin, vertreten durch ihre Eltern
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 10. Juni 2002)
Sachverhalt:
A.
Der 1985 geborenen H.________ musste am 2. Februar 1990 wegen eines Retinoblastoms das linke Auge entfernt werden. Die Invalidenversicherung kam für die Behandlung des Geburtsgebrechens auf und leistete Kostengutsprache für die erforderlichen Augenprothesen gemäss Tarif des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV). Im Anschluss an eine augenärztliche Kontrolle ersuchten die Eltern am 12. Oktober 2001 um Kostenübernahme für eine Augenprothese aus Kunstharz zum Preis von Fr. 2400.- unter Hinweis auf die bessere Verträglichkeit, geringere Verletzungsgefahr und die längere Benutzungsdauer einer Kunststoffprothese. Am 6. Februar 2002 lehnte die IV-Stelle Bern das Begehren verfügungsweise ab mit der Begründung, dass Hilfsmittel nur in einfacher und zweckmässiger Ausführung abgegeben würden, Augenprothesen aus Kunststoff nur in begründeten Ausnahmefällen übernommen würden und es im vorliegenden Fall an einer nachvollziehbaren Begründung fehle.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher die Eltern der Versicherten gestützt auf ein augenärztliches Zeugnis medizinische Gründe für die Verwendung einer Kunststoffprothese geltend machten, hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 10. Juni 2002 gut und verpflichtete die Verwaltung, der Versicherten eine Augenprothese aus Kunststoff abzugeben.
C.
Das BSV führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
Die Eltern von H._______ beantragen Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die IV-Stelle Bern schliesst auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gemäss Art. 21 Abs. 1 Satz 1 IVG hat der Versicherte im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel, deren er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit in seinem Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum Zwecke der funktionellen Angewöhnung bedarf. Ferner bestimmt Art. 21 Abs. 2 IVG, dass der Versicherte, der infolge seiner Invalidität für die Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf, im Rahmen einer vom Bundesrat aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit Anspruch auf solche Hilfsmittel hat.
Die Befugnis zum Erlass ergänzender Vorschriften im Sinne von Art. 21 Abs. 4 IVG hat der Bundesrat in Art. 14 IVV an das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) übertragen, welches die Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI) mit anhangsweise aufgeführter Hilfsmittelliste erlassen hat. Gemäss Ziff. 5.01 dieser Liste gibt die Invalidenversicherung Augenprothesen ab.
1.2 Nach Art. 21 Abs. 3 IVG und Art. 2 Abs. 4 HVI besteht nur Anspruch auf Hilfsmittel in einfacher und zweckmässiger Ausführung. Durch eine andere Ausführung verursachte zusätzliche Kosten hat der Versicherte selbst zu tragen. Zu Ziff. 5.01 HVI Anhang sehen die Verwaltungsweisungen des BSV vor, dass im Sinne einer einfachen und zweckmässigen Versorgung grundsätzlich nur Augenprothesen aus Glas abgegeben werden. In begründeten Einzelfällen können auch Prothesen aus Kunststoff zugesprochen werden, wobei ein Kostenvorschlag für Herstellung und Unterhalt anzufordern ist. Zur Herstellung von Glasprothesen sind nur Kunstaugenhersteller berechtigt, welche in der Lieferantenliste der Invalidenversicherung aufgeführt sind (Rz 5.01.1-3 des Kreisschreibens über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die IV [KHMI], gültig ab 1. Februar 2000).
1.3 Gemäss Art. 27 IVG ist der Bundesrat befugt, u.a. mit den Abgabestellen für Hilfsmittel Verträge zu schliessen, um die Zusammenarbeit mit den Organen der Versicherung zu regeln und die Tarife festzulegen (Abs. 1). Soweit kein Vertrag besteht, kann er die Höchstbeträge festsetzen, bis zu denen den Versicherten die Kosten der Eingliederungsmassnahmen vergütet werden (Abs. 3). Mit Art. 24 Abs. 2 IVV hat der Bundesrat die Kompetenz zum Abschluss von Verträgen gemäss Art. 27 IVG an das EDI delegiert. Dieses hat mit den Herstellern von Augenprothesen in der Schweiz eine Tarifvereinbarung abgeschlossen, welche vorsieht, dass eine Abgabe zu Lasten der Invalidenversicherung nur durch Vertragslieferanten erfolgen kann (Rz 1067 f. KHMI). Nach der Rechtsprechung sind solche Einschränkungen bundesrechtskonform und verstossen insbesondere nicht gegen das in Art. 26bis IVG statuierte Wahlrecht des Versicherten (AHI 1999 S. 172 ff.).
2.
2.1 Das BSV macht unter Hinweis auf ein (mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht eingereichtes) Grundsatzpapier von Prof. Dr. med. T.________, ehemaliger Chefarzt der Augenklinik am Spital X.________, vom 5. Dezember 1996 geltend, Augenprothesen aus Kunstharz stellten bei ausgewachsenen Versicherten in aller Regel kein einfaches und zweckmässiges Hilfsmittel dar, weil sie bezüglich Kosten/Nutzen (Tragdauer) erheblich teurer zu stehen kämen als Glasaugen. Die im Arztbericht vom 8. Oktober 2001 für die Wahl einer Kunststoffprothese angegebene Begründung, wonach das Tragen einer Augenprothese aus Glas wegen deren Zerbrechlichkeit in jungen Jahren kontraindiziert sei, sei insofern nicht stichhaltig, als die Versicherte stets Glasaugen getragen habe und im Zeitpunkt der Stellungnahme bereits 16 Jahre alt gewesen sei. Dass die Versicherte aus medizinischen Gründen eine Kunststoffprothese benötige, sei nicht ausgewiesen. Mit dieser Argumentation bleibt unbeachtet, dass sich Frau Dr. med. S.________, Oberärztin an der Augenklinik des Spitals Y.________, am 27. Februar 2002 dahin geäussert hat, dass die Kunststoffprothese ("prothèse oculaire en métacrylate de méthyl montée") wegen erheblicher Sekretionen und einer Reizung der linken Augenhöhle ("importantes sécretions et une irritation de la cavité orbitaire gauche") indiziert sei. Zudem habe die bisherige Prothese schläfenseitig zu einem deutlichen Gewebeverlust ("importante fonte graisseuse temporale") geführt. Es sei daher unbedingt angezeigt, dass die Versicherte eine Kunststoffprothese trage. Gemäss dieser Bestätigung bestehen eindeutige medizinische Gründe für die Abgabe einer Kunststoffprothese. Anhaltspunkte dafür, dass es sich um ein nachträgliches Gefälligkeitszeugnis handelt, liegen nicht vor. Zum einen haben die Eltern der Versicherten bereits im vorinstanzlichen Verfahren darauf hingewiesen, dass die erste Stellungnahme der Augenärztin anlässlich des (telefonisch einverlangten) Kostenvoranschlages erfolgt war und die für die Stellungnahme vom 27. Februar 2002 massgebende Untersuchung erst Ende Februar stattgefunden hat. Zum andern wird die Beurteilung vom 27. Februar 2002 durch fotografische Aufnahmen der Augenhöhle gestützt, welche die mit dem Tragen der Augenprothese aufgetretenen gesundheitlichen Probleme dokumentieren und es als glaubhaft erscheinen lassen, dass eine Kunststoff-Vollprothese gegenüber einer Schalenprothese aus Glas unter den gegebenen Umständen wesentliche Vorteile aufweist. Es besteht daher kein Anlass von der vorinstanzlichen Feststellung abzugehen, wonach die Versicherte aus medizinischen Gründen auf das Tragen einer Kunststoffprothese angewiesen ist.
2.2 Dass Kunststoffprothesen teurer sind, schliesst einen Leistungsanspruch nicht aus. Zwar hat der Versicherte in der Regel nur Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren; zudem muss der voraussichtliche Erfolg einer Eingliederungsmassnahme in einem vernünftigen Verhältnis zu ihren Kosten stehen (BGE 121 V 260 Erw. 2c mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall kann jedoch nicht gesagt werden, dass die Kosten für die Kunststoffprothese (Fr. 2400.-) nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zum angestrebten Eingliederungserfolg stehen. Dass die Kosten über denjenigen für ein Glasauge liegen, ist im Hinblick darauf, dass eine medizinische Indikation für eine Kunststoffprothese vorliegt, nicht entscheidend. Im Übrigen bestreitet das BSV nicht, dass die Mehrkosten jedenfalls bei Versicherten nach Abschluss des Wachstumsalters zumindest teilweise durch die längere Tragdauer ausgeglichen werden.
2.3 Der Kostenübernahme steht schliesslich nicht entgegen, dass die Augenklinik der Spitals Y.________ nicht in der Lieferantenliste der Invalidenversicherung für Augenprothesen aufgeführt ist und nicht dem Tarifvertrag untersteht. Die Weisungen des BSV sehen denn auch selber vor, dass ausnahmsweise Kunststoffprothesen übernommen werden können, obschon kein Tarifvertrag besteht und Hilfsmittel von Abgabestellen, welche auf einer allenfalls bestehenden IV-Lieferantenliste nicht aufgeführt sind, von der Invalidenversicherung grundsätzlich nicht bezahlt werden (Rz 1067 KHMI). Wie die IV-Stelle in der erstinstanzlichen Beschwerdeantwort unwidersprochen ausgeführt hat, sieht das BSV vor, künftig auch die Lieferanten von Kunststoffprothesen in einer Liste aufzuführen. Solange es an einer solchen Liste und einer Tarifvereinbarung fehlt, hat der Versicherte, welchem ausnahmsweise Kunststoffprothesen abzugeben sind, Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Abgabe des erforderlichen Hilfsmittels (in einfacher und zweckmässiger Ausführung) durch eine Abgabestelle nach freier Wahl, soweit die Vorschriften von Art. 26bis Abs. 1 IVG erfüllt sind. Dass die Augenklinik des Spitals Y.________ diesen Anforderungen genügt, wird auch vom BSV nicht bestritten. Die Vorinstanz hat daher zu Recht entschieden, dass die Versicherte Anspruch auf Kostenübernahme für die streitige Augenprothese hat.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und der IV-Stelle Bern zugestellt.
Luzern, 28. April 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: