Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 771/01
Urteil vom 27. Mai 2003
IV. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin Polla
Parteien
M.________, 1960, Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, Bern
(Entscheid vom 1. November 2001)
Sachverhalt:
A.
Der 1960 geborene irakische Staatsangehörige M.________ reiste am 4. Mai 1995 in die Schweiz ein, wo er als Flüchtling Asyl erhielt. Mit Verfügung vom 12. Dezember 2000 wies die IV-Stelle des Kantons Bern den Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen (Berufsberatung, Umschulung auf eine neue Tätigkeit) sowie eine Rente der Invalidenversicherung ab.
B.
Die von M.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 1. November 2001 ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt M.________, es seien ihm Leistungen der Invalidenversicherung zuzusprechen. Zudem sei ein weiteres medizinisches Gutachten bezüglich der geklagten Rückenschmerzen einzuholen.
Die IV-Stelle beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Die Vorinstanz hat unter Hinweis auf Art. 1 des Bundesbeschlusses über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und Staatenlosen in der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (FlüB) zutreffend dargelegt, dass der Versicherte als Flüchtling mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürger Anspruch auf eine ordentliche Rente der Invalidenversicherung hat und dass für die Gewährung einer ausserordentlichen Rente zudem erforderlich ist, dass er sich unmittelbar vor dem Zeitpunkt, von welchem an die Rente verlangt wird, ununterbrochen fünf Jahre in der Schweiz aufgehalten hat (Abs. 2). Als Nichterwerbstätiger hat der Versicherte unter den gleichen Voraussetzungen wie Schweizer Bürger Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, wenn er unmittelbar vor dem Eintritt der Invalidität Beiträge an die Invalidenversicherung entrichtet hat (Art. 2 Abs. 1 FlüB). Richtig sind zudem die Erwägungen zu den gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätzen über den Bezügerkreis von ordentlichen und ausserordentlichen Renten (Art. 36 Abs. 1 und 39 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 42 Abs. 1 AHVG). Darauf wird verwiesen.
1.2 Anzufügen ist, dass als Invalidität im Sinne des Gesetzes die durch einen körperlichen oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende ode längere Zeit dauernde Erwerbsunfähigkeit gilt (Art. 4 Abs. 1 IVG). Die Invalidität gilt als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht hat (Art. 4 Abs. 2 IVG). Der Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen entsteht, sobald solche im Hinblick auf Alter und Gesundheitszustand des Versicherten angezeigt sind (Art. 10 Abs. 1 IVG). Für die Begründung eines Anspruchs auf Berufsberatung genügt ein relativ geringes Mass an gesundheitlich bedingten Schwierigkeiten bei der Berufswahl oder in der Ausübung der bisherigen Tätigkeit (nicht veröffentlichtes Urteil S. vom 15. Oktober 1999, I 11/99). Als invalid bezüglich einer Umschulungsmassnahme nach Art. 17 IVG gilt, wer nicht hinreichend eingegliedert ist, weil der Gesundheitsschaden eine Art und Schwere erreicht hat, welche die Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise unzumutbar macht. Dabei muss der Invaliditätsgrad ein bestimmtes erhebliches Mass erreicht haben; nach der Rechtsprechung ist dies der Fall, wenn der Versicherte in den ohne zusätzliche berufliche Ausbildung noch zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbseinbusse von etwa 20 % erleidet (BGE 124 V 110 f. Erw. 2b mit Hinweisen). Im Falle einer Rente gilt die Invalidität in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem der Anspruch nach Art. 29 Abs. 1 IVG entsteht, d.h. frühestens wenn der Versicherte mindestens zu 40 % bleibend erwerbsunfähig geworden ist (lit. a) oder während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens zu 40 % arbeitsunfähig gewesen war (lit. b; BGE 127 V 297 Erw. 4b/bb, 119 V 102 Erw. 4a). Der Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität ist objektiv auf Grund des Gesundheitszustandes festzustellen; zufällige externe Faktoren sind unerheblich (BGE 126 V 9 Erw. 2b, 160 Erw. 3a, 118 V 82 Erw. 3a mit Hinweisen).
1.3 Zu ergänzen ist zudem, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 12. Dezember 2000) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
2.
Entsprechend dem System des leistungsspezifischen Invaliditätseintritts (Art. 4 Abs. 2 IVG) ist der Zeitpunkt des Eintritts des jeweiligen Versicherungsfalls (Rente, Berufsberatung, Umschulung) streitig und zu prüfen.
2.1 Die Vorinstanz hat, insbesondere gestützt auf den medizinischen Bericht der Frau Dr. med. W.________ vom 17. August 2000 sowie desjenigen von Dr. med. K.________, Spezialarzt für Orthopädie, vom 14. November 2000 erwogen, dass der Beschwerdeführer schon vor seiner Einreise in die Schweiz an Rückenschmerzen gelitten habe. Mangels rechtzeitig geleistetem Beitrag (da bei Eintritt der Invalidität nicht während mindestens eines vollen Jahres Beiträge geleistet wurden) könne er weder eine ordentliche Rente noch Eingliederungsmassnahmen beanspruchen. Ebenso wenig bestehe Anspruch auf eine ausserordentliche Rente, da der Beschwerdeführer vor seiner Einreise in die Schweiz im Mai 1995 nicht versichert gewesen sei und somit nicht gleich viele Versicherungsjahre wie sein Jahrgang aufweisen könne.
2.2 Hinsichtlich des Anspruchs auf eine ausserordentliche Rente kann vollumfänglich auf die zutreffenden Erwägungen des kantonalen Gerichts verwiesen werden. Dass der Versicherte vor 1995 nicht versichert war und somit nicht gleich viele Versicherungsjahre wie sein Jahrgang aufweisen kann, wird denn auch zu Recht nicht bestritten.
2.3 Bezüglich der Gewährung einer ordentlichen Rente besteht Einigkeit darin, dass der Beschwerdeführer bereits vor seiner Einreise in die Schweiz in seiner Gesundheit beeinträchtigt war. Ob für ein allfälliges invalidisierendes Leiden Rücken- oder Nacken- und Schulterbeschwerden ursächlich sind, ist dabei unerheblich. Denn auch verschiedene, hintereinander oder kumulativ auftretende Ursachen der Arbeitsunfähigkeit können bei der Anwendung von Art. 29 Abs. 1 IVG den Rentenanspruch begründen (nicht veröffentlichtes Urteil A. vom 15. Oktober 1998, I 558/97, mit Hinweisen). Aufgrund der medizinischen Aktenlage ist unklar, wann der Versicherungsfall eingetreten ist. Der (in der Schweiz) erstbehandelnde Arzt Dr. med. K.________, welcher den Versicherten am 24. Oktober 1996 untersuchte und in die Krankenakten eintrug: "Seit sechs Jahren Rückenschmerzen, ins rechte Bein ausstrahlend, Sensibilität stets i.O.", vermerkte (trotz Übersetzer) nirgends, dass die Beschwerden unfallursächlich seien, wie der Beschwerdeführer geltend macht (Schreiben vom 14. November 2000 und 19. Februar 2001). Nach Überweisung an die Universitätsklinik für Orthopädische Chirurgie am Spital X.________ wurden im Anschluss an die Untersuchung vom 7. Oktober 1999 die Diagnose einer vorliegenden Spondylolisthesis L5/S1 bei Spondylolyse L5 beidseits mit pseudoradikulärer Ausstrahlung ins linke Bein sowie das weitere Vorgehen mit dem Beschwerdeführer unter Anwesenheit eines Dolmetschers besprochen. Die Ärzte am Spital X.________ gingen anamnestisch (ohne Hinweis auf einen Unfall) von seit 1990 immer wieder auftretenden Rückenschmerzen aus (Bericht vom 12. Oktober 1999, Schreiben der Dres. med. B.________ und H.________ vom 26. Februar 2001). Auch bei der Anmeldung zum Leistungsbezug wird angegeben, dass die Behinderung bereits seit 1982 bestünde und dass der Beschwerdeführer im Irak während eines Monats einen Rollstuhl besessen habe. Auch aus dem letztinstanzlich vorgelegten irakischen Arztzeugnis des Dr. S.________ vom 23. Oktober 1989, lässt sich nichts Genaueres über Art und Schwere des Leidens ableiten. Dieser hält lediglich in knapper Form fest, dass der Beschwerdeführer aufgrund einer Seitwärtsdrehung der Achse an Nackenbeschwerden gelitten habe und der Ruhe bedurfte. Ob ein gesundheitliches Leiden im hier notwendigen Mass im Sinne einer eingetretenen Invalidität (vgl. Erw. 1 hiervor) bereits im Irak vorlag, kann somit anhand der Aktenlage nicht mit dem beweisrechtlich notwendigen Grad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen) bejaht werden. Ebenso wenig vermögen die Auskünfte des Flüchtlingsdienstes der Caritas, welcher den Beschwerdeführer nach seiner Einreise in die Schweiz betreute, erhellen, ob das Rückenleiden erst in der Schweiz invalidisierendes Ausmass annahm oder nicht. Gemäss Schreiben vom 28. September 2000 sei der Flüchtlingsdienst oft nur mündlich über die gesundheitlichen Probleme - mit Ausnahme einer verordneten Kur in Y.________ - informiert worden. Wann der Versicherte die Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm sowie an einem Integrationskurs wegen Rückenschmerzen oder anderen gesundheitlichen Problemen kurzfristig abgesagt habe, geht aus den Akten nicht hervor. Auch die Sozialdienste der Gemeinde I.________, welche den Beschwerdeführer als Sozialhilfeempfänger unterstützen, konnten keine weiteren Auskünfte über den Ablauf der medizinischen Problematik erteilen (Schreiben vom 6. September 2000). Anhand der vorliegenden Akten kann demnach auch die Frage nicht beantwortet werden, ob die Invalidität zwischen dem 4. Mai 1995 (Einreisedatum) und 24. Oktober 1996 (erstmals aktenkundiger Arztbesuch in der Schweiz) eintrat.
Ein weiteres ärztliches Gutachten könnte hinsichtlich des Zeitpunktes nicht schlüssig beantworten, ob bereits vor dem Ablauf eines vollen Jahres, in dem der Versicherte Beiträge geleistet hat, ein invalidisierendes Leiden vorlag oder nicht, weshalb davon abzusehen ist. Da im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes jedoch noch nicht alle Mittel ausgeschöpft sind, um den rechtserheblichen Sachverhalt zu erhellen, ist die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, um die Frage zu klären, ob und wann in einer der Institutionen, mit denen der Beschwerdeführer (als Flüchtling) in Kontakt getreten war, eine leistungsbegründende Behinderung festgestellt wurde. Insbesondere interessiert, wann genau der Beschwerdeführer durch den Flüchtlingsdienst der Caritas im Rahmen der beruflichen Integration in ein Beschäftigungsprogramm und in einen Integrationskurs zugewiesen wurde, welche Massnahmen dieser aus gesundheitlichen Gründen absagte (Schreiben der Caritas vom 28. September 2000) und ob und allenfalls in welchem Ausmass bereits im Durchgangszentrum A.________, welches den Beschwerdeführer nach seiner Einreise in die Schweiz aufnahm, ein gesundheitliches Leiden festgestellt werden konnte.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 1. November 2001 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie nach erfolgten Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Leistungen der Invalidenversicherung neu entscheide.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 27. Mai 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: