Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 175/00
Urteil vom 2. Juli 2003
II. Kammer
Besetzung
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiber Scartazzini
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
J.________, 1981, Beschwerdegegnerin, vertreten durch ihre Eltern
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft, Liestal
(Entscheid vom 1. Dezember 1999)
Sachverhalt:
A.
J.________ kam am 3. Januar 1981 durch eine Notfall-Sektiogeburt zur Welt. Den Eltern fiel früh auf, dass ihre Tochter eine geringe Frustrations- und Stresstoleranz besass und sich entsprechend auffallend verhielt. Nach Absolvierung der obligatorischen Schulzeit an der Rudolf Steiner-Schule besuchte J.________ ab August 1997 das öffentliche Gymnasium. Obwohl sie den Übertritt ans Gymnasium dank der Unterstützung ihrer Eltern und intensivem Nachhilfeunterricht leistungsmässig meistern konnte, kam es bereits kurz nach Beginn des Schuljahres zu einem psychischen Zusammenbruch, welcher sich u.a. durch massive Verhaltensauffälligkeiten bemerkbar machte. J.________ wurde in der Folge durch Frau Dr. med. C.________, Oberärztin beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) im Spital X.________, psychotherapeutisch behandelt. Nach einem Nervenzusammenbruch im Herbst 1998 entschieden sich die Eltern, J.________ in das Gymnasium Y.________ zu schicken.
Am 16. November 1998 stellten die Eltern für ihre Tochter bei der IV-Stelle Basel-Landschaft ein Gesuch zum Bezug von IV-Leistungen für Versicherte vor dem 20. Lebensjahr und beantragten Sonderschulmassnahmen. Nach Einholung mehrerer Arztberichte der behandelnden Ärztin Dr. med. C.________ (vom 26. November und 17. Dezember 1998 sowie vom 17. Mai, 14. Juni und 31. August 1999), welche die Übernahme der Kosten für das Gymnasium Y.________ als berufliche Massnahme beantragte, sowie unter Berücksichtigung von zwei beim Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) eingeforderten Stellungnahmen vom 14. April und 10. August 1999, wies die IV-Stelle das Gesuch mit Verfügung vom 14. September 1999 ab, da laut Auskunft des BSV bei J.________ keine Invalidität vorliege.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher die Eltern das Rechtsbegehren stellten, es sei ihrer Tochter der Anspruch auf berufliche Massnahmen im Sinne der Übernahme der Kosten des privaten Gymnasiums zu gewähren, hiess das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft (ab 1. September 2002: Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht) mit Entscheid vom 1. Dezember 1999 gut und hob die Verfügung vom 14. September 1999 auf.
C.
Das BSV führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Verfügung vom 14. September 1999 wieder herzustellen.
Die Eltern schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während die IV-Stelle auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegner Anspruch auf berufliche Massnahmen für ihre Tochter J.________ haben.
Versicherte, die noch nicht erwerbstätig waren und denen infolge Invalidität bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung in wesentlichem Umfange zusätzliche Kosten entstehen, haben nach Art. 16 Abs. 1 IVG Anspruch auf Ersatz dieser Kosten, sofern die Ausbildung ihren Fähigkeiten entspricht. Diese zusätzlichen Kosten werden ermittelt, indem die Kosten der Ausbildung des Invaliden den mutmasslichen Aufwendungen gegenübergestellt werden, die bei der Ausbildung eines Gesunden zur Erreichung des gleichen beruflichen Zieles notwendig wären (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 IVV).
Eine versicherte Person gilt als invalid im Sinne von Art. 16 IVG, wenn sie auf Grund der Art und Schwere (Art. 4 Abs. 2 IVG) ihres Gesundheitsschadens bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung massgeblich behindert ist. Das trifft zu, wenn ihr dort wegen der Behinderung in wesentlichem Umfang zusätzliche Kosten entstehen (BGE 126 V 461 Erw. 1 mit Hinweis). Bezugspunkt bildet hierbei nicht die Erwerbstätigkeit, sondern der beabsichtigte Ausbildungsgang mit seinen spezifischen Anforderungen (BGE 114 V 30 Erw. 1b in fine; ZAK 1989 S. 598 Erw. 2a; Meyer-Blaser, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 162 f.). Für die Beurteilung der Invaliditätsfrage ist die Verwaltung - und im Beschwerdefall das Gericht - auf Unterlagen angewiesen, die der Arzt oder die Ärztin und gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben.
2.
2.1 Im vorliegenden Fall machten die Beschwerdegegner im vorinstanzlichen Verfahren geltend, ihre Tochter habe auf berufliche Massnahmen Anspruch, weil sie auf Grund eines frühkindlichen psychoorganischen Syndroms (POS) und eines Borderline-Syndroms nicht fähig sei, das Gymnasium an einer öffentlichen Schule zu besuchen, während das von ihr besuchte Gymnasium Y.________ ihrem Krankheitsbild entspreche.
In medizinischer Hinsicht ist festzuhalten, dass sich J.________ im September 1997 wegen massiver Verhaltensauffälligkeiten im KJPD einer Erstkonsultation unterzog. Am 26. November 1998 führte Dr. med. C.________ aus, auf Grund ihrer psychischen Sensibilität bei gleichzeitiger sehr guter Auffassungsgabe und Intelligenz benötige die Versicherte einen speziellen, individuelleren Rahmen, damit sie ihr Potenzial ausschöpfen könne. Am 17. Dezember 1998 stellte sie die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, sehr wahrscheinlich auf dem Boden eines frühkindlichen POS mit Impulsdurchbrüchen und zeitweisem selbstschädigendem Verhalten. Am 17. Mai 1999 wurde sodann eine massive Persönlichkeitsstörung mit depressiver Entwicklung festgestellt. Die Schwierigkeiten der Versicherten im öffentlichen Gymnasium waren nach Dr. med. C.________ jedoch sicher nicht auf eine intelligenzmässige Überforderung zurückzuführen. Am 14. Juni 1999 führte die behandelnde Ärztin aus, zum damaligen Zeitpunkt wäre J.________ bei jeder anderen Ausbildungsrichtung (z.B. Lehre) auf Grund ihres komplexen Störungsbildes und ihrer psychischen Ver fassung eingeschränkt gewesen. Schliesslich wurde am 31. August 1999 die komplexe psychosoziale Problematik von J.________ bestätigt, und am 27. September 1999 führte Dr. med. C.________ aus, auf Grund dieses Krankheitsbildes sei der Besuch des Gymnasiums Y.________ als Förderung der späteren Erwerbsfähigkeit zu erachten.
2.2 Die Vorinstanz folgte der Argumentation der Gesuchsteller mit der Begründung, zwar erscheine die Abgrenzung zu anderen Überforderungssachverhalten gerade im Bereich der genannten Leiden schwierig, sodass sich eine berufliche Massnahme bei diesem Krankheitsbild letztlich nur rechtfertige, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen klar ausgewiesen sei. J.________ leide jedoch anerkanntermassen an einem Borderline-Syndrom, welches seine Ursache wahrscheinlich in einem frühkindlichen POS habe, das wiederum ein anerkanntes Geburtsgebrechen sei. Im Normalfall würden Kinder mit J.________s Symptomen bereits sehr früh im Rahmen von Sonderschulmassnahmen bei der Invalidenversicherung angemeldet und abgeklärt, was im vorliegenden Fall nicht stattgefunden habe, nachdem im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuches die Versicherte bereits seit einem Jahr wegen eines Borderline-Syndroms in psychiatrischer Behandlung war. Nach eingehender Prüfung der Berichte von Dr. med. C.________ und unter Berücksichtigung der Schilderungen der Gesuchstellenden müsse anerkannt werden, dass die bei J.________ festgestellten Symptome weit über das Normalmass hinausgehen und nicht mehr nur als Anpassungsschwierigkeiten einer ehemaligen Rudolf Steiner-Schülerin beim Wechsel an die öffentliche Schule zu bezeichnen seien. Die Ursache der Verhaltensauffälligkeiten seien heute klar auf ihre Krankheit zurückzuführen, die ihrerseits durch das frühkindliche POS verursacht wurde. Weil bei diesem Geburtsgebrechen normalerweise mit einer Besserung zu rechnen gewesen wäre, die Probleme bei der Versicherten indessen eskalierten, müsse davon ausgegangen werden, dass sich das Verhalten von J.________ stark von demjenigen anderer Kinder unterscheide, welche sich in Überforderungssituationen befinden. Schliesslich seien die schulischen Probleme eindeutig nicht auf eine intelligenzmässige Überforderung, sondern auf ihre Krankheit zurückzuführen, weshalb der Besuch des Gymnasiums Y.________ als gezielte Förderung in beruflicher Hinsicht zu bezeichnen sei, welche die spätere Erwerbsfähigkeit gewährleisten werde.
2.3 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht das BSV geltend, die Versicherte sei nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von einer Invalidität im Sinne von Art. 8 Abs. 1 IVG betroffen. Bei der Diagnose "Borderline-Störung" müsse Zurückhaltung geübt werden, weil einerseits die Abgrenzung gegenüber noch normalen Variationen der Entwicklung in der Adoleszenz schwierig sei und andererseits definitorische Überlappungen mit Teilelementen anderer Persönlichkeitsstörungen vorlägen. Die Versicherte habe von Anbeginn an die Rudolf Steiner-Schule besucht und völlig unauffällig durchlaufen und sie sei nicht wegen einer Persönlichkeitsstörung an der Normalschule nicht mehr tragbar gewesen. Der Beweis einer bereits in der Kindheit vorhandenen Persönlichkeitsstörung im Sinne eines POS sei damit nicht erbracht. Zudem handle es sich lediglich um eine Vermutungsdiagnose. Es sei bekannt, dass wegen der spezifischen Ausbildungsmethode bei Absolventen dieser Schule anlässlich des Wechsels an ein öffentliches Gymnasium Schwierigkeiten aufträten. Zu jenem Zeitpunkt sei die Versicherte auf intensiven Nachhilfeunterricht angewiesen gewesen, was ersichtlich mache, dass die Störungen eindeutig als Reaktion auf eine Überforderungssituation zu sehen seien. Das BSV beanstandet schliesslich die Schlussfolgerung der Vorinstanz, die Versicherte könne keinen anderen Ausbildungsweg als die Matura einschlagen, da sie in der Tat auch eine Lehre bei einem verständnisvollen Lehrmeister, eine Handelsschule oder eine andere weiterführende Schule absolvieren könne.
3.
3.1 Wie aus den Akten hervorgeht, ist J.________ erstmals im September 1997 auffällig geworden, nachdem sie im August 1997 von der Rudolf Steiner-Schule in ein öffentliches Gymnasium gewechselt hatte. Von den verschiedenen Berichten der behandelnden Ärztin Dr. med. C.________ enthält nur derjenige vom 17. Dezember 1998 eine Diagnose, die eine "Borderline-Persönlichkeitsstörung sehr wahrscheinlich auf dem Boden eines frühkindlichen POS mit Impulsdurchbrüchen und zeitweise selbstschädigendem Verhalten" festhält. Mit dem Hinweis, dass ein frühkindliches POS heute ein anerkanntes Geburtsgebrechen gemäss GgV sei, geht die Vorinstanz ohne weiteres davon aus, dass die Versicherte an einem Geburtsgebrechen leide und dass ihr Verhalten auf ein klar diagnostiziertes Krankheitsbild zurückzuführen sei. Ein POS ist als Geburtsgebrechen jedoch nur anerkannt, wenn es mit bereits gestellter Diagnose als solches vor Vollendung des 9. Altersjahres behandelt worden ist (Ziff. 404 GgV-Anhang). Dass bei der Versicherten damals ein POS diagnostiziert und behandelt worden wäre, ist jedoch nirgends ausgewiesen und wird auch nicht behauptet, erfolgte die IV-Anmeldung doch erstmals im November 1998.
3.2 Zur Borderline-Diagnose macht der Beschwerdeführer geltend, die Bezeichnung dieser Gesundheitsstörung werde uneinheitlich gebraucht. Insbesondere im Jugendalter sollte bei der Diagnosestellung Zurückhaltung geübt werden, dies weil einerseits die Abgrenzung gegenüber noch normalen Variationen der Entwicklung in der Adoleszenz schwierig sei und andererseits definitorische Überlappungen mit Teilelementen anderer Persönlichkeitsstörungen vorliegen würden.
Hinsichtlich dieses Leidens liegen in den Akten nur Unterlagen der behandelnden Ärztin vor, wobei Dr. med. C.________ im Bericht vom 17. Dezember 1998 eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert hat. Grundsätzlich verlangt die in Art. 16 IVG vorausgesetzte Invalidität nicht, dass das hier geltend gemachte Borderline-Syndrom die Folge eines Geburtsgebrechens sein muss (vgl. Art. 4 IVG in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung), weshalb nicht entscheidend sein kann, dass bei J.________ vor Vollendung des 9. Altersjahrs kein POS im Sinne von Ziff. 404 GgV-Anhang diagnostiziert und behandelt wurde. Angesichts der vom BSV geäusserten Bedenken bezüglich der Bezeichnung der Borderline-Persönlichkeitsstörung und der Abgrenzungsschwierigkeiten gegenüber anderen Entwicklungen sowie im Hinblick auf die Rechtsprechung zum Beweiswert von Hausarztberichten (BGE 125 V 353 Erw. 3b/cc mit Hinweisen) ist die Frage, ob bei J.________ ein IV-relevanter Gesundheitsschaden vorlag, jedoch nicht rechtsgenüglich abgeklärt. Daher erweist sich die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zur Vornahme einer neutralen medizinischen Begutachtung, welche sich hauptsächlich mit der Frage der Borderline-Persönlichkeitsstörung zu befassen haben wird, als unerlässlich.
3.3 Bei ihrem neuen Entscheid wird sich die IV-Stelle zudem zur Frage zu äussern haben, ob der Besuch am Gymnasiums Y.________ dem Gebot der Einfachheit, Zweckmässigkeit und Geeignetheit einer beruflichen Massnahme nach Art. 16 IVG entspricht (BGE 124 V 110 Erw. 2a mit Hinweisen).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 1. Dezember 1999 aufgehoben wird und die Sache an die IV-Stelle Basel-Landschaft zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch der Versicherten auf berufliche Massnahmen neu verfüge.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, der IV-Stelle Basel-Landschaft und der Ausgleichskasse Basel-Landschaft zugestellt.
Luzern, 2. Juli 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: