Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 694/01
Urteil vom 30. September 2003
IV. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Hochuli
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
Helsana Versicherungen AG, Recht Deutsche Schweiz, Birmensdorferstrasse 94, 8003 Zürich, Beschwerdegegnerin,
betreffend R.________, 1940
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 11. Oktober 2001)
Sachverhalt:
A.
Der 1940 geborene, als Ingenieur HTL in einem 80%-Pensum für die S.________ AG in X.________ arbeitende R.________ litt unter grauem Star am rechten Auge. Am 2. April 2001 meldete er sich bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug an. Diese lehnte mit Verfügung vom 6. Juni 2001 die Übernahme der Staroperation am rechten Auge als medizinische Eingliederungsmassnahme ab, weil der Versicherte für die Ausübung seiner Erwerbstätigkeit nicht auf Binokularsehen angewiesen sei.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der HELSANA Versicherungen AG (nachfolgend: HELSANA; obligatorische Krankenpflegeversicherung des R.________) hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 11. Oktober 2001 gut, hob die Verwaltungsverfügung auf und wies die Sache zum weiteren Vorgehen im Sinne der Erwägungen und anschliessenden Erlass einer neuen Verfügung an die IV-Stelle zurück. Insbesondere verpflichtete das kantonale Gericht die Verwaltung zur genauen Abklärung des konkreten Tätigkeitsspektrums des Versicherten sowie zur Einholung einer augenärztlichen Stellungnahme betreffend die Frage der Notwendigkeit des Binokularsehens.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids.
Während die HELSANA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde trägt, schliesst die IV-Stelle auf Gutheissung derselben.
Ohne einen Antrag in der Sache zu stellen, lässt sich R.________ dahingehend vernehmen, seiner Auffassung nach stelle der rechtsseitige graue Star bei ihm eine Teilinvalidität dar, weil seine berufliche Tätigkeit im Mikrotechnik-Engineering-Bereich stereoskopisches Sehen erfordere. Ein Abschieben der Operationskosten auf die Krankenversicherung widerspreche seinem Rechtsempfinden.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen des Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und den Anspruch auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen dazu, dass Art. 12 IVG namentlich die gegenseitige Abgrenzung der Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits sowie der Kranken- und Unfallversicherung andererseits bezweckt (BGE 104 V 81 Erw. 1 mit Hinweis), dass die Übernahme der Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in Frage kommt (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a mit Hinweisen), dass aber eine Kataraktoperation an einem Auge bei erhaltener Sehfähigkeit des anderen Auges nur dann von der Invalidenversicherung übernommen werden kann, wenn der Defekt die versicherte Person dermassen in der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne Durchführung des Eingriffs die Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre (AHI 2000 S. 296 f. Erw. 4b). Darauf wird verwiesen.
1.2 Anzufügen bleibt, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: vom 6. Juni 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.
2.
Fest steht, dass bei R.________ keine erheblichen krankhaften Nebenbefunde vorhanden sind, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des Eingliederungserfolgs in Frage zu stellen vermögen (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b, 97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen). Unbestritten ist ferner, dass das Alter des Versicherten - er befand sich im massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (6. Juni 2001) in seinem 62. Lebensjahr - der Übernahme der Kataraktoperation durch die Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit des zu erwartenden Eingliederungserfolges nicht entgegen steht (BGE 101 V 50 Erw. 3b).
3.
Während das kantonale Gericht unter Aufhebung der Verwaltungsverfügung die Sache zur weiteren erwerblichen und medizinischen Abklärung sowie anschliessenden Neuverfügung an die IV-Stelle zurückwies, beantragt das BSV, auf zusätzliche Abklärungen sei zu verzichten, weil der Versicherte für seine Arbeit am Bildschirm nicht auf Binokularsehen angewiesen sei und auch der Blendeffekt keine wesentliche Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit zur Folge habe. Aus medizinischer Sicht habe die Indikation zur Durchführung der Kataraktoperation zweifellos bestanden.
Zu prüfen ist demnach, ob gestützt auf die vorliegenden Akten die Frage nach der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte Tätigkeit des Versicherten beantwortet werden kann.
3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht präzisierte seine Rechtsprechung (vgl. AHI 2000 S. 294) zur Übernahme der Kataraktoperation durch die Invalidenversicherung im Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) dahingehend, dass dieser Eingriff am zweiten Auge bei (durch Staroperation) erhaltener Sehfähigkeit am andern Auge - unter Erfüllung der übrigen Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 1 IVG - nur dann als medizinische Eingliederungsmassnahme zu übernehmen ist, wenn aufgrund detaillierter Ermittlung der Tätigkeiten im Rahmen des ausgeübten Berufes für die visuell anspruchvollste dieser Tätigkeiten die Notwendigkeit des Binokularsehens aus augenärztlicher Sicht bejaht wird. In denjenigen Berufen, in welchen besondere medizinische Mindestanforderungen an die Sehfähigkeit ausdrücklich normiert sind, ist auf diese Visusgrenzwerte abzustellen, so dass sich in erwerblicher Hinsicht eine detaillierte Ermittlung der verschiedenen Tätigkeitsanteile erübrigt.
3.2 Vorliegend ist gestützt auf den Bericht der Augenärztin Dr. med. P.________ vom 23. April 2001 mangels gegenteiliger Hinweise davon auszugehen, dass R.________ nur an seinem rechten Auge durch den grauen Star in der Sehfähigkeit beeinträchtigt ist und am linken Auge über einen normalen Visus verfügt. Die Beantwortung der Frage, ob er infolge der nur einseitigen Sehfähigkeitsbeeinträchtigung dennoch invalid geworden oder von einer Invalidität im Sinne von Art. 8 Abs. 1 IVG unmittelbar bedroht sei (Voraussetzung für einen Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen; vgl. AHI 2000 S. 296 f. Erw. 4), hängt entscheidend davon ab, ob der Versicherte aus spezialärztlicher Sicht in Bezug auf seine visuell anspruchvollste Tätigkeit auf binokulares Sehen angewiesen ist. Dies ist nach denselben Kriterien zu prüfen, welche bei der Beurteilung des Anspruchs auf Leistungen im Sinne von Art. 12 IVG hinsichtlich der Staroperation am zweiten Auge nach Übernahme des gleichen Eingriffs am ersten Auge massgebend sind. Deshalb rechtfertigt es sich, die im Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02; vgl. Erw. 3.1 hievor) erfolgten Präzisierungen auch auf diejenigen Fälle sinngemäss anzuwenden, in welchen nur ein Auge vom grauen Star betroffen und fraglich ist, ob die versicherte Person die Voraussetzungen nach Art. 8 Abs. 1 IVG erfüllt.
3.3 Den Akten ist nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht geltenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen) zu entnehmen, welche konkreten Tätigkeiten der als Ingenieur HTL ausgebildete R.________ im Rahmen seiner Anstellung bei der S.________ AG in X.________ zu verrichten hat, auch wenn er selber geltend macht, neben der Bildschirmarbeit bei Grundlagenversuchen mitunter z.B. einen Draht mit einem Durchmesser von 0,02 Millimeter in ein Bohrloch von 0,025 Millimeter Durchmesser einführen können zu müssen. Unklar ist unter anderem, ob es sich bei der Tätigkeit am Computer um Textverarbeitung oder um graphische Anwendungen handelt. Die Verwaltung wird in geeigneter Form - z.B. durch Einholung eines Pflichtenheftes und Befragung des Arbeitgebers - das Tätigkeitsspektrum des Versicherten abklären.
3.4 Steht fest, welches die visuell anspruchvollste Tätigkeit des Beschwerdegegners ist, wird die IV-Stelle einen fachärztlichen Bericht zur diesbezüglichen Notwendigkeit des Binokularsehens einholen, der nicht allein auf die subjektiven Angaben des Versicherten abstellt, sondern vielmehr für die streitigen Belange umfassend ist, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben wird und der konkreten medizinischen Situation Rechnung trägt (vgl. dazu BGE 125 V 353 Erw. 3a). Soweit der einseitige Ausfall der Sehfähigkeit durch Angewöhnung an den Verlust des stereoskopischen Sehens zumutbarerweise kompensiert werden kann (vgl. z.B. die viermonatige Wartefrist nach dem Verlust eines Auges in der Führerausweis-Kategorie B gemäss Anhang 1 zur Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51]), hat dies der Augenarzt im Einzelfall zu berücksichtigen und dazu Stellung zu nehmen. Zusätzlich wird er die Frage betreffend die Auswirkungen von störenden Blendeffekten - insbesondere bei der Arbeit am Bildschirm - beantworten müssen. Erfolgt die augenärztliche Beurteilung dieser Fragen - wie hier - erst nach bereits durchgeführter Operation, sind sie medizinisch prognostisch aufgrund der Verhältnisse vor der fraglichen Operation (AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen) zu beantworten.
3.5 Nach dem Gesagten steht fest, dass die Vorinstanz die Verwaltungsverfügung zu Recht aufhob und die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurückwies. Die Verwaltung wird dabei gemäss den Erwägungen Ziffer 3.2 bis 3.4 vorgehen.
4.
Den Krankenkassen ist gestützt auf Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG eine Parteientschädigung zu verwehren (SVR 2000 KV Nr. 39 S. 122 Erw. 3), weshalb der formell obsiegenden HELSANA keine Parteientschädigung zusteht.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, R.________, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und der IV-Stelle Bern zugestellt.
Luzern, 30. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: