Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.697/2003 /sta
Urteil vom 5. Dezember 2003
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud,
Gerichtsschreiber Forster.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Raess, Ilgenstrasse 22,
Am Römerhof, Postfach 218, 8030 Zürich,
gegen
Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich,
Büro C-2, vertreten durch Bezirksanwalt P. Gossner, Molkenstrasse 17, 8004 Zürich,
Bezirksgericht Bülach, Haftrichter, Spitalstrasse 13, 8180 Bülach.
Gegenstand
Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK
(Fortsetzung der Untersuchungshaft),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Bülach, Haftrichter, vom 12. November 2003.
Sachverhalt:
A.
Die Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich (BAK V) führt eine Strafuntersuchung gegen X.________ wegen einer am 22. November 2002 erfolgten Messerstecherei mit Körperverletzung. Am 11. Mai 2003 wurde der Angeschuldigte verhaftet und in Untersuchungshaft versetzt. Zuletzt stellte die BAK V am 10. November 2003 Antrag auf Fortsetzung der Untersuchungshaft. Diese wurde vom Haftrichter des Bezirksgerichtes Bülach mit Verfügung vom 12. November 2003 bewilligt.
B.
Gegen die haftrichterliche Verfügung gelangte X.________ mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 19. November 2003 an das Bundesgericht. Er rügt eine Verletzung des Grundrechtes auf persönliche Freiheit und beantragt seine Haftentlassung.
Der Haftrichter des Bezirksgerichtes Bülach und die BAK V haben am 25. bzw. 27. November 2003 auf eine Vernehmlassung je ausdrücklich verzichtet.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer beantragt neben der Aufhebung des angefochtenen Entscheides seine sofortige Haftentlassung. Dieses Begehren ist in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen Natur der staatsrechtlichen Beschwerde zulässig, da im Falle einer nicht gerechtfertigten strafprozessualen Haft die von der Verfassung geforderte Lage nicht schon mit der Aufhebung des angefochtenen Entscheids sondern erst durch eine positive Anordnung hergestellt werden kann (BGE 129 I 129 E. 1.2.1 S. 131 f.; 124 I 327 E. 4a S. 332; 115 Ia 293 E. 1a S. 296 f., je mit Hinweisen).
2.
Die Anordnung und Fortdauer von Untersuchungshaft ist nach zürcherischem Strafprozessrecht nur zulässig, wenn gegen den Angeschuldigten der dringende Tatverdacht eines Vergehens oder Verbrechens besteht und zudem ein besonderer Haftgrund vorliegt, namentlich Kollusions-, Fortsetzungs- oder Fluchtgefahr (§ 58 Abs. 1 StPO/ZH). Die Untersuchungshaft ist durch mildere Ersatzmassnahmen zu ersetzen, sofern sich der Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f. StPO/ZH).
3.
Der Beschwerdeführer bestreitet den allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachtes eines Vergehens oder Verbrechens nicht. Er macht jedoch geltend, der Haftrichter habe zu Unrecht den besonderen Haftgrund der Fluchtgefahr bejaht. Die Annahme des Haftrichters, der Beschwerdeführer sei (im Winter 2002/2003) bereits einmal im Inland "untergetaucht" und bis zu seiner Verhaftung am 11. Mai 2003 nicht an der behördlich gemeldeten Adresse aufzufinden gewesen, sei willkürlich. Zwar sei es zutreffend, dass er sich in dieser Zeit nicht an seinem Wohnort in Kloten aufgehalten habe. Er habe sich jedoch auf Reisen befunden, "wie es für Jenische üblich" sei. Der Umstand, dass ein Angehöriger der ethnischen Volksgruppe der Jenischen sich auf Reisen befindet, könne nicht, wie es der Haftrichter getan habe, "per se mit Untertauchen gleichgesetzt werden". "Die Ortsabwesenheit von Jenischen" sei "nicht zwangsläufig gleich zu qualifizieren wie diejenige einer Person mit festem Wohnsitz". Der Vorwurf des "Untertauchens" könne dem Beschwerdeführer "schon deshalb nicht gemacht werden", weil er nach dem Vorfall vom 22. November 2002 "gar keine Kenntnisse davon" gehabt habe, "dass er von der Polizei gesucht wurde". Nach der ersten polizeilichen Befragung sei er "während mehr als drei Monaten in dieser Sache nicht mehr vorgeladen" worden. Der Geschädigte habe "lediglich eine einfache Körperverletzung erlitten". Wie schwerwiegend die Verletzungen des Geschädigten waren, habe der Beschwerdeführer nicht gewusst. Unter diesen Umständen habe er sich damals "nicht den Untersuchungsbehörden zur Verfügung halten" müssen. Der Beschwerdeführer sei Schweizer Staatsbürger und wohne seit seiner Jugend hier. Seine engsten Familienangehörigen, insbesondere seine Mutter, lebten ebenfalls in der Schweiz. Beziehungen zum Ausland bestünden nicht. Einer "allenfalls noch bestehenden minimalen und bloss abstrakten Fluchtgefahr" könne "mit der Anordnung einer Pass- und Schriftensperre angemessen" begegnet werden. Der Beschwerdeführer unterliege "bei Auslandreisen den gleichen Pass- und Visumvorschriften wie jeder andere Schweizer Bürger".
4.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte, wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Lebensverhältnisse des Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia 69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen). So ist es zulässig, die familiären und sozialen Bindungen des Häftlings, dessen berufliche Situation und Schulden sowie Kontakte ins Ausland und Ähnliches mitzuberücksichtigen. Auch bei einer befürchteten Ausreise in ein Land, das den Angeschuldigten grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht ausgeschlossen (BGE 123 I 31 E. 3d S. 36 f.).
Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechtes frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfragen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen).
5.
Im vorliegenden Fall ergeben sich aus den Akten ausreichend konkrete Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fluchtgefahr.
Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, er habe am 22. November 2002, im Verlaufe einer zunächst verbalen und anschliessend tätlichen Auseinandersetzung in einer Bar in Bassersdorf, seinen Kontrahenten mit zwei Messerstichen in den Oberkörper erheblich verletzt. Gemäss Bericht des behandelnden Arztes am Spital Bülach sei das Opfer "brutal mit dem Messer attackiert" worden. Es habe einen Stich im Bereich des linken Brust-/Achselhöhlenbereiches (mit einem ca. 2 cm langen Stichkanal) erlitten sowie eine weitere ca. 8-9 cm lange Schnitt-/Stichverletzung am Oberbauch mit Eröffnung der Pleurahöhle. Dieser zweite Stich habe die Brustkorbmuskulatur durchdrungen sowie eine Rippe mit dem darunter liegenden Brustfell. Der Beschwerdeführer hat in der untersuchungsrichterlichen Einvernahme vom 16. Juni 2003 zugegeben, das Opfer mit dem Messer verletzt zu haben. Beim ersten Mal sei sein Kontrahent "in das Messer gelaufen", beim zweiten Mal habe der Beschwerdeführer eine "schneidende Diagonalbewegung gemacht".
Zwar hat der Beschwerdeführer vor dem Untersuchungsrichter geltend gemacht, in "Notwehr" gehandelt zu haben. Die Frage, ob allenfalls ein Strafmilderungs- oder gar ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, ist jedoch (im Falle einer Anklageerhebung) vom erkennenden Strafrichter zu prüfen. Beim gegenwärtigen Stand der Untersuchung muss der Beschwerdeführer mit einer Verurteilung zu einer empfindlichen Freiheitsstrafe rechnen, welche einen gewissen Fluchtanreiz darstellen könnte. Die Umstände, dass der Beschwerdeführer bereits vor seiner Verhaftung am 11. Mai 2003 "untergetaucht" war und dass er (nach eigenen Angaben) arbeitslos sei bzw. nur gelegentlich arbeite, stellen weitere Anhaltspunkte dafür dar, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Haftentlassung geneigt sein könnte, sich der weiteren Strafverfolgung durch Flucht zu entziehen.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers durfte der kantonale Haftrichter auch die Tatsache, dass der Beschwerdeführer bereits vor seiner polizeilichen Anhaltung am 11. Mai 2003 in der Schweiz "untergetaucht" war und zur Verhaftung ausgeschrieben werden musste, als Fluchtindiz werten. Die in der Schweiz lebenden Personen unterstehen den hier gültigen gesetzlichen Vorschriften. Auch von Fahrenden jenischer Kulturzugehörigkeit darf und muss erwartet werden, dass sie sich - insbesondere wenn sie in ein polizeiliches Ermittlungsverfahren oder in ein Gerichtsverfahren involviert sind - vor Antritt einer saisonalen Reisetätigkeit bei den Behörden abmelden und eine Kontaktadresse (oder wenigstens eine Telefonnummer) angeben, über die sie in dringenden Fällen erreichbar sind. Es muss möglich sein, ihnen behördliche Korrespondenz (namentlich polizeiliche oder gerichtliche Vorladungen und andere amtliche Dokumente) fristgerecht zuzustellen. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, weshalb ein solches Vorgehen mit der traditionellen Lebensweise der Jenischen schlechterdings nicht zu vereinbaren wäre. Wie sich aus den Akten ergibt, hat sich der Beschwerdeführer im Winter 2002/2003, nach dem inkriminierten Vorfall vom 22. November 2002, nicht bei den Behörden abgemeldet. Am 21. Januar 2003 erliess die BAK V einen Vorführungsbefehl gegen den Beschwerdeführer als Angeschuldigten. Bis zu seiner Verhaftung am 11. Mai 2003 war dieser jedoch nicht an seiner angegebenen Wohnadresse in Kloten aufzufinden, weshalb er gesucht und am 9. April 2003 zur Verhaftung ausgeschrieben werden musste. Dies stellt ein weiteres Indiz dafür dar, dass er im Falle einer Haftentlassung geneigt sein könnte, sich dem Strafverfahren bzw. der drohenden empfindlichen Strafe durch Flucht zu entziehen.
Im vorliegenden Fall ist auch nicht erkennbar, dass durch weniger einschneidende prozessuale Ersatzmassnahmen (wie Pass- oder Schriftensperre oder behördliche Meldepflicht) der Gefahr eines erneuten "Untertauchens" in der Schweiz ausreichend begegnet werden könnte.
6.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (und insbesondere die Bedürftigkeit des Gesuchstellers aus den Akten ersichtlich ist), kann dem Ersuchen stattgegeben werden (Art. 152 Abs. 1 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
2.1 Es werden keine Kosten erhoben.
2.2 Rechtsanwalt Dr. Markus Raess, Zürich, wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Büro C-2, und dem Bezirksgericht Bülach, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 5. Dezember 2003
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: