Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 736/01
Urteil vom 5. Dezember 2003
IV. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber Hochuli
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
A.________, 1939, Beschwerdegegnerin,
Vorinstanz
Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen und die IV-Stellen, Basel
(Entscheid vom 30. August 2001)
Sachverhalt:
A.
Die 1939 geborene, als ausgebildete Kinderpflegerin in der Funktion einer Hausangestellten während 40 Stunden pro Woche für den Privathaushalt von B.________ arbeitende A.________ meldete sich am 1. Juni 1999 wegen grauem Star am rechten Auge bei der IV-Stelle des Kantons Basel-Stadt (nachfolgend: IV-Stelle) zum Leistungsbezug an. Die Invalidenversicherung übernahm die am 27. Mai 1999 durchgeführte rechtsseitige Kataraktoperation einschliesslich Nachbehandlung als medizinische Eingliederungsmassnahme (Verfügung vom 10. August 1999). Auf erneutes Leistungsgesuch vom 4. September 2000 hin lehnte die IV-Stelle die Übernahme der am 18. Oktober 2000 durchgeführten Staroperation am linken Auge als medizinische Massnahme zu Lasten der Invalidenversicherung ab (Verfügung vom 24. Oktober 2000), weil die Versicherte für die Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit nicht auf Binokularsehen angewiesen sei.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ hiess die Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen und die IV-Stellen Basel-Stadt (heute: Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt) mit Entscheid vom 30. August 2001 gut, hob die angefochtene Verwaltungsverfügung auf und wies "die Sache zur Gewährung medizinischer Massnahmen (Übernahme der Kosten für die Katarakt-Operation am linken Auge) im notwendigen Umfang an die Vorinstanz" zurück.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Entscheids.
Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, trägt A.________ sinngemäss auf Abweisung derselben.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Voraussetzungen des Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und den Anspruch auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen zur Wesentlichkeit und Dauerhaftigkeit des voraussichtlichen Eingliederungserfolgs der medizinischen Vorkehr (AHI 2000 S. 298 f. Erw. 1b und c mit Hinweisen) sowie dazu, dass die Übernahme der Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in Frage kommt (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a mit Hinweisen), dass aber eine Kataraktoperation an einem Auge bei erhaltener Sehfähigkeit des anderen Auges nur dann von der Invalidenversicherung übernommen werden kann, wenn der Defekt die versicherte Person dermassen in der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne Durchführung des Eingriffs die Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt wäre (AHI 2000 S. 296 f. Erw. 4b). Darauf wird verwiesen.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 VG namentlich bezweckt, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 104 V 81 Erw. 1, 102 V 41 f.).
1.2 Anzufügen bleibt, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: vom 24. Oktober 2000) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.
2.
Fest steht, dass bei A.________ keine erheblichen krankhaften Nebenbefunde vorhanden sind, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des Eingliederungserfolgs in Frage zu stellen vermögen (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b, 97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen). Unbestritten ist ferner, dass das Alter der Versicherten - sie befand sich im massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (24. Oktober 2000) in ihrem 62. Lebensjahr - der Übernahme der Kataraktoperation vom 18. Oktober 2000 durch die Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit des zu erwartenden Eingliederungserfolges nicht entgegen steht (BGE 101 V 50 Erw. 3b).
3.
Das kantonale Gericht vertrat die Auffassung, das Tätigkeitsspektrum der Versicherten als Hausangestellte bedürfe keiner weiteren Abklärung. Zu ihren Aufgaben gehörten unter anderem Näharbeiten zur Ausbesserung und Änderung von Wäsche und Kleidung, welche auch das Einziehen von Fäden in Nähnadeln erfordere, sowie Arbeiten in erhöhter Position (z.B. auf einem Stuhl stehend zum Aufhängen gewaschener Vorhänge) und das Einschenken von Getränken. Prof. Dr. med. C.________, bejahe in seinem Bericht vom 23. November 2000 in Bezug auf die Tätigkeit einer Hausangestellten in überzeugender Weise, dass hiefür beidäugiges Sehen unerlässlich sei. Dagegen wendet das Beschwerde führende BSV ein, es gäbe keine Anhaltspunkte dafür, dass Prof. Dr. med. C.________ die Versicherte selber untersucht habe. Bei seinen Ausführungen handle es sich um eine allgemein gehaltene Stellungnahme zu Gunsten einer beidseitigen Übernahme der Kataraktoperationen als medizinische Eingliederungsmassnahmen durch die Invalidenversicherung, was schon deshalb im Interesse der Augenärztinnen und Augenärzte liege, weil deren Bemühungen durch die Invalidenversicherung nach einem im Vergleich zur Krankenversicherung in der Regel besseren Tarif entschädigt würden. Auch wenn bei der Versicherten aus medizinischer Sicht zweifellos eine beidseitige Kataraktoperation indiziert gewesen sei, habe die Invalidenversicherung durch die Übernahme des Eingriffs am rechten Auge die bei der Versicherten drohende Invalidität abwenden können. Sinngemäss macht das BSV geltend, die Versicherte sei zur Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit als Hausangestellte nicht auf binokulares Sehen angewiesen.
Zu prüfen ist demnach, ob gestützt auf die vorliegenden Akten die Frage nach der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte Tätigkeit der Versicherten beantwortet werden kann.
3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht präzisierte seine Rechtsprechung zur Übernahme der Kataraktoperation am zweiten Auge (vgl. AHI 2000 S. 294) im Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) dahingehend, dass die Staroperation am zweiten Auge (nach erfolgter Übernahme am ersten Auge) - bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 1 IVG - nur dann als medizinische Eingliederungsmassnahme durch die Invalidenversicherung zu übernehmen ist, wenn aufgrund detaillierter Ermittlung der Tätigkeiten im Rahmen des ausgeübten Berufes für die visuell anspruchvollste dieser Tätigkeiten die Notwendigkeit des Binokularsehens aus augenärztlicher Sicht bejaht wird. In denjenigen Berufen, in welchen besondere medizinische Mindestanforderungen an die Sehfähigkeit ausdrücklich normiert sind, ist auf diese Visusgrenzwerte abzustellen, so dass sich in erwerblicher Hinsicht eine detaillierte Ermittlung der verschiedenen Tätigkeitsanteile erübrigt.
3.2 Den Akten ist nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht geltenden Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen) zu entnehmen, welche konkreten Tätigkeiten A.________ als Hausangestellte des B.________ zu verrichten hat. Alle aktenkundigen Hinweise zu den einzelnen Aufgaben im Rahmen ihrer Anstellung beruhen ausschliesslich auf ihren eigenen Beschreibungen. Der Arbeitgeber B.________ äusserte sich bisher nicht dazu. Unklar ist insbesondere, ob die Versicherte sämtliche Arbeiten im Haushalt alleine verrichten muss, oder ob - und gegebenenfalls in welchem Ausmass - sie in einzelnen Aufgaben durch weitere Hausangestellte oder z.B. durch externes Reinigungspersonal unterstützt wird. Die Angaben der A.________, auf welche die Vorinstanz abstellte, bedürfen in dieser Hinsicht ergänzender Abklärungen. Die Verwaltung, an welche die Sache vorweg zu diesem Zweck zurückzuweisen ist, wird deshalb in geeigneter Form - z.B. durch Einholung eines Pflichtenheftes und Befragung des Arbeitgebers - das Tätigkeitsspektrum der Versicherten abklären.
3.3 Steht fest, welches die visuell anspruchvollste Tätigkeit der A.________ ist, wird die IV-Stelle einen fachärztlichen Bericht zur diesbezüglichen Notwendigkeit des Binokularsehens einholen, der nicht allein auf die subjektiven Angaben der Versicherten abstellt, sondern vielmehr für die streitigen Belange umfassend ist, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben wird und der konkreten medizinischen Situation Rechnung trägt (vgl. dazu BGE 125 V 353 Erw. 3a). Soweit der einseitige Ausfall der Sehfähigkeit durch Angewöhnung an den Verlust des stereoskopischen Sehens zumutbarerweise kompensiert werden kann (vgl. z.B. die viermonatige Wartefrist nach dem Verlust eines Auges in der Führerausweis-Kategorie B gemäss Anhang 1 zur Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51]), hat dies der Augenarzt im Einzelfall zu berücksichtigen und dazu Stellung zu nehmen. Erfolgt die augenärztliche Beurteilung dieser Fragen - wie hier - erst nach bereits durchgeführter Operation, sind sie medizinisch prognostisch aufgrund der Verhältnisse vor der fraglichen Operation (AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen) zu beantworten, wobei es zur Aufgabe des Arztes oder der Ärztin gehört, dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person ohne die am 18. Oktober 2000 durchgeführte Staroperation am linken Auge arbeitsunfähig geworden wäre (vgl. BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen).
3.4 Fehlt es an den erforderlichen Grundlagen zur Beantwortung der Frage nach der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte Tätigkeit der Versicherten (vgl. Erw. 3.2 hievor), sind der angefochtene Entscheid und die Verwaltungsverfügung aufzuheben. Die Sache ist an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese bei den ergänzenden Abklärungen nach den Erwägungen Ziffer 3.1 bis 3.3 vorgehen und anschliessend über das Leistungsgesuch betreffend die am 18. Oktober 2000 durchgeführte Staroperation am linken Auge neu verfügen wird.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen, dass der Entscheid der Kantonalen Rekurskommission für die Ausgleichskassen und die IV-Stellen Basel-Stadt vom 30. August 2001 und die Verwaltungsverfügung vom 24. Oktober 2000 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle des Kantons Basel-Stadt zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über das Leistungsgesuch betreffend die am 18. Oktober 2001 durchgeführte Staroperation am linken Auge neu verfüge.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, der Ausgleichskasse Basel-Stadt und der IV-Stelle Basel-Stadt zugestellt.
Luzern, 5. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: