BGer 1A.287/2003
 
BGer 1A.287/2003 vom 23.01.2004
Tribunale federale
{T 0/2}
1A.287/2003 /dxc
Urteil vom 23. Januar 2004
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Reeb, Bundesrichter Eusebio,
Gerichtsschreiber Forster.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch
Advokat David Schnyder, Basel,
gegen
Bundesamt für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, Bundesrain 20, 3003 Bern.
Gegenstand
Auslieferung an Österreich - B 110 433 WUE/BRV,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Auslieferungsentscheid des Bundesamts für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, vom
17. November 2003.
Sachverhalt:
A.
Am 15. Oktober 2003 ersuchte das Bundesministerium für Justiz der Republik Österreich die schweizerischen Behörden um Auslieferung des österreichischen Staatsangehörigen X.________. Das Ersuchen stützt sich auf einen Haftbefehl des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 2. September 2003. Der Verfolgte wurde vom gleichen Gericht am 28. Januar 1999 wegen gewerbsmässigen schweren Betruges zu einer Freiheitsstrafe von 6 1/2 Jahren Dauer verurteilt. Das Urteil ist seit 4. Mai 1999 rechtskräftig und vollziehbar. Am 18. November 2002 sei der Verfolgte von einem Hafturlaub nicht mehr in die Justizvollzugsanstalt Hirtenberg zurückgekehrt und anschliessend in die Schweiz geflüchtet. Die zu vollziehende Reststrafe beträgt noch zwei Jahre und zwei Monate.
B.
Am 25. September 2003 wurde X.________ in Basel verhaftet und in Auslieferungshaft versetzt. Anlässlich seiner Einvernahme vom 27. Oktober 2003 widersetzte er sich einer vereinfachten Auslieferung an Österreich. Mit Entscheid vom 17. November 2003 bewilligte das Bundesamt für Justiz die Auslieferung des Verfolgten. Dagegen gelangte X.________ mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 18. Dezember 2003 an das Bundesgericht. Er beantragt im Hauptstandpunkt die Verweigerung der Auslieferung. Das Bundesamt für Justiz schliesst mit Vernehmlassung vom 5. Januar 2004 auf Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdeführer replizierte am 20. Januar 2004.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beurteilung von Auslieferungsersuchen der Republik Österreich richtet sich nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 (EAUe, SR 0.353.1) und dem Zweiten Zusatzprotokoll zum EAUe vom 17. März 1978 (SR 0.353.12), denen beide Staaten beigetreten sind, sowie nach dem Zusatzvertrag zwischen der Schweiz und Österreich über die Ergänzung des EAUe und die Erleichterung seiner Anwendung vom 13. Juni 1972 (Zusatzvertrag, SR 0.353.916.31). Soweit die genannten Staatsverträge bestimmte Fragen nicht abschliessend regeln, ist das schweizerische Landesrecht anwendbar, namentlich das Bundesgesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. März 1981 (IRSG, SR 351.1) und die dazugehörende Verordnung vom 24. Februar 1982 (IRSV, SR 351.11; vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. a IRSG; BGE 129 II 462 E. 1.1 S. 464; 128 II 355 E. 1 S. 357, je mit Hinweisen).
1.1 Der Auslieferungsentscheid des BJ kann mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden (Art. 55 Abs. 3 i.V.m. Art. 25 Abs. 1 IRSG). Die Sachurteilsvoraussetzungen von Art. 97-114 OG sind erfüllt.
1.2 Zulässige Beschwerdegründe sind sowohl die Verletzung von Bundesrecht, inklusive Staatsvertragsrecht (einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens), als auch die Rüge der unrichtigen oder unvollständigen Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts; der Vorbehalt von Art. 105 Abs. 2 OG trifft hier nicht zu (Art. 104 lit. a-b OG; vgl. BGE 117 Ib 64 E. 2b/bb S. 72). Soweit die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegeben (und die staatsrechtliche Beschwerde daher ausgeschlossen) ist, kann auch die Verletzung verfassungsmässiger Individualrechte bzw. der EMRK mitgerügt werden (BGE 124 II 132 E. 2a S. 137; 123 II 153 E. 2c S. 158 f.; 122 II 373 E. 1b S. 375).
1.3 Das Bundesgericht ist an die Begehren der Parteien nicht gebunden (Art. 25 Abs. 6 IRSG). Es prüft die Auslieferungsvoraussetzungen grundsätzlich mit freier Kognition. Im Rahmen der Verwaltungsgerichtsbeschwerde befasst es sich jedoch nur mit Tat- und Rechtsfragen, die Streitgegenstand der Beschwerde bilden (vgl. BGE 123 II 134 E. 1d S. 136 f.; 122 II 367 E. 2d S. 372, je mit Hinweisen).
1.4 Da der Beschwerde von Gesetzes wegen die aufschiebende Wirkung zukommt (Art. 21 Abs. 4 lit. a IRSG), wird das entsprechende Gesuch des Beschwerdeführers hinfällig.
1.5 Der in Auslieferungshaft Versetzte kann jederzeit ein Haftentlassungsgesuch stellen und ablehnende Verfügungen des Bundesamtes für Justiz an die Anklagekammer des Bundesgerichtes weiterziehen (Art. 50 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Art. 48 Abs. 2 IRSG). Während eines vor Bundesgericht hängigen Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahrens betreffend Auslieferung ist die I. öffentlichrechtliche Abteilung für die Behandlung von Beschwerden gegen die Abweisung von Haftentlassungsgesuchen zuständig (BGE 128 II 355 E. 1.2 S. 359; 117 IV 359 E. 1a S. 360 f., je mit Hinweisen).
Zwar beantragt der Beschwerdeführer seine Freilassung "bis zum Abschluss des Auslieferungsverfahrens". Er legt jedoch nicht dar, inwiefern die Fortdauer der Auslieferungshaft bundesrechtswidrig wäre (vgl. Art. 47 Abs. 1 und Art. 51 Abs. 1 IRSG). Soweit er rügt, das Bundesamt für Justiz habe zu Unrecht den Haftgrund der Fluchtgefahr bejaht, erweist sich die Rüge als offensichtlich unbegründet. Der Beschwerdeführer räumt ausdrücklich ein, dass er am 18. November 2002 anlässlich eines Hafturlaubs nicht in den Strafvollzug zurückgekehrt, sondern in die Schweiz ausgereist sei. Soweit das Haftentlassungsgesuch sinngemäss mit dem Fehlen der Auslieferungsvoraussetzungen begründet wird, kann auf die nachfolgenden materiellen Erwägungen verwiesen werden.
2.
Nach Massgabe des EAUe sind die Vertragsparteien grundsätzlich verpflichtet, einander Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sichernden Massnahme gesucht werden (Art. 1 EAUe). Auszuliefern ist wegen Handlungen, die sowohl nach dem Recht des ersuchenden als auch nach demjenigen des ersuchten Staates mit einer Freiheitsstrafe (oder die Freiheit beschränkenden sichernden Massnahme) im Höchstmass von mindestens einem Jahr oder mit einer schwereren Strafe bedroht sind. Ist im Hoheitsgebiet des ersuchenden Staates eine Verurteilung zu einer Strafe erfolgt, so muss deren Mass mindestens vier Monate betragen (Art. 2 Ziff. 1 EAUe; vgl. auch Art. 35 Abs. 1 IRSG und BGE 128 II 355 E. 2.1 S. 360). Gemäss Art. II Abs. 1 des Zusatzvertrages mit Österreich wird die Auslieferung auch bewilligt, wenn das Mass der noch zu vollziehenden Freiheitsstrafe mindestens drei Monate beträgt.
Die Auslieferungsvoraussetzungen des EAUe sind im vorliegenden Fall erfüllt. Das Ersuchen stützt sich auf eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung zu 6 1/2 Jahren Freiheitsentziehung wegen gewerbsmässigen schweren Betruges. Es bezweckt die Durchsetzung des Strafvollzuges bezüglich eines verbleibenden Strafrestes von zwei Jahren und zwei Monaten Dauer.
3.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die österreichischen Strafjustizbehörden hätten "gegen § 46 Abs. 2 des österreichischen Strafgesetzbuches verstossen". Er habe sich "im Strafvollzug stets vorbildlich verhalten". Nach der genannten Bestimmung habe er Anspruch auf "bedingte Nachsicht der Reststrafe" bzw. auf bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug unter Ansetzung einer Probezeit. Zwar habe er am 28. Juli 2002 beim Landesgericht Wiener Neustadt ein entsprechendes Gesuch gestellt. Dieses Gesuch sei jedoch "überhaupt nicht bzw. nicht rechtzeitig" behandelt worden. Ein entsprechender Entscheid sei ihm jedenfalls bis zum 18. November 2002 (als er anlässlich eines Hafturlaubs nicht in den Strafvollzug zurückgekehrt sei) nicht zugegangen. Darin liege ein Verstoss gegen Art. 5 Ziff. 1 lit. a sowie Art. 13 EMRK, welche einen Anspruch auf rechtmässigen Freiheitsentzug "nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht" bzw. einen Anspruch auf "wirksame Beschwerde" gewährleisten. Die Auslieferung sei zu verweigern; eventualiter seien die österreichischen Behörden aufzufordern, "einen Entscheid über das Gesuch um bedingte Nachsicht" zu fällen bzw. vorzulegen.
3.1 Wie sich aus den Akten ergibt, hat das Landesgericht Wiener Neustadt (Abteilung 17) am 3. Oktober 2001 ein Gesuch des Beschwerdeführers (vom 22. September 2001) um bedingte Entlassung abgewiesen. Das Gericht erwog, dass "lediglich die zeitlichen, nicht aber die übrigen Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung" erfüllt seien. Der Beschwerdeführer sei "bereits zweimal bedingt entlassen" worden, habe aber die betreffenden Bewährungschancen "nicht zu nutzen" vermocht, indem er "neuerlich massiv straffällig geworden" sei. Gemäss Haftbefehl des Landesgerichtes für Strafsachen in Wien vom 2. September 2003 sei der Beschwerdeführer sodann am 18. November 2002 von einem Hafturlaub nicht mehr in die Justizvollzugsanstalt zurückgekehrt und in die Schweiz geflüchtet.
Im November 2003 wandte sich der Beschwerdeführer mit einer Eingabe an das österreichische Justizministerium. Darin machte er geltend, er habe am 28. Juli 2002 beim Landesgericht Wiener Neustadt ein (weiteres) Gesuch um "bedingte Nachsicht der Reststrafe" eingereicht. Dieses Gesuch sei jedoch "nicht bzw. nicht rechtzeitig behandelt" worden. "Am 18.11.2002" habe "jedenfalls kein Entscheid bezüglich dieses Gesuchs" vorgelegen. Das österreichische Justizministerium habe "beim Landesgericht Wiener Neustadt darauf hinzuwirken, dass dieses einen Entscheid über den am 28.07.02" gestellten Antrag auf "bedingte Nachsicht der Reststrafe" fälle. Soweit ein diesbezüglicher Entscheid vorläge, sei dieser an den Beschwerdeführer zu übermitteln. Mit Schreiben vom 4. Dezember 2003 leitete das österreichische Justizministerium eine Kopie der Eingabe vom November 2003 "zur Kenntnisnahme" an das Bundesamt für Justiz weiter. Das österreichische Justizministerium bemerkte, die Eingabe, sei "dem zuständigen Gericht weitergeleitet" worden. "Eine Entscheidung über eine bedingte Entlassung des geflohenen Strafgefangenen" sei jedoch "in dessen Abwesenheit nicht zu erwarten".
3.2 Die Frage, ob dem rechtskräftig verurteilten Beschwerdeführer nach österreichischem Strafvollzugsrecht eine Strafreduktion bzw. ein Anspruch auf bedingte Entlassung zustünde, bildet weder Gegenstand des hier streitigen Auslieferungsentscheides, noch einen zulässigen Beschwerdegrund (vgl. oben, E. 1.2). Daher ist auch nicht vom Bundesgericht zu prüfen, ob im betreffenden österreichischen Vollzugsverfahren allenfalls prozessuale Grundrechte des Beschwerdeführers missachtet worden sein könnten. Im Übrigen wird im angefochtenen Entscheid des Bundesamtes für Justiz mit Recht darauf hingewiesen, dass eine Regelung, wonach ein rechtskräftiges Strafurteil vollstreckbar bleibt, wenn ein Gesuch um bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug vom zuständigen Richter abgelehnt wurde bzw. solange ein solches Gesuch noch nicht entschieden ist, nicht gegen die EMRK (oder den internationalen ordre public) verstiesse (vgl. auch BGE 123 II 153 E. 2d S. 159). Ob ein ausländisches Strafvollzugsverfahren vor den Grundsätzen der Verfahrensbeschleunigung standhält, ist von den zuständigen (ausländischen) Strafjustizorganen und nicht vom schweizerischen Rechtshilferichter zu beurteilen.
Die Vorbringen des Beschwerdeführers begründen kein Auslieferungshindernis im Sinne des EAUe.
4.
Nach dem Gesagten sind die Beschwerde und das Haftentlassungsgesuch abzuweisen.
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (und insbesondere die Bedürftigkeit des Gesuchstellers ausreichend glaubhaft gemacht erscheint), kann dem Ersuchen stattgegeben werden (Art. 152 Abs. 1-2 OG). Der amtliche Rechtsvertreter stellt für das Verfahren vor Bundesgericht einen Arbeitsaufwand von insgesamt 15,2 Stunden sowie Barauslagen von Fr. 34.70 (zuzüglich 7,6% MWSt) in Rechnung und beantragt die Zusprechung eines angemessenen Honorars. In Würdigung der Aktenlage und gestützt auf den anwendbaren Entschädigungstarif erweist sich im vorliegenden Fall eine pauschale Anwaltsentschädigung von Fr. 2'000.-- als angemessen (Art. 152 Abs. 2 i.V.m. Art. 160 OG sowie Art. 6 Abs. 2, Art. 8 und Art. 9 des Tarifes über Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.119.1]).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Haftentlassungsgesuch wird abgewiesen.
3.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt:
3.1 Es werden keine Kosten erhoben.
3.2 Advokat David Schnyder, Basel, wird als unentgeltlicher Rechtsvertreter ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 2'000.-- entschädigt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt für Justiz, Abteilung Internationale Rechtshilfe, Sektion Auslieferung, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 23. Januar 2004
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber: