BGer C 130/2003
 
BGer C 130/2003 vom 06.02.2004
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
C 130/03
Urteil vom 6. Februar 2004
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari und Kernen; Gerichtsschreiber Schmutz
Parteien
A.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Max Tobler, Pestalozzistrasse 14, 8570 Weinfelden,
gegen
Amt für Wirtschaft und Arbeit, Abt. Rechtsdienst und Entscheide, Verwaltungsgebäude, 8510 Frauenfeld, Beschwerdegegner
Vorinstanz
Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung, Eschlikon TG
(Entscheid vom 24. Februar 2003)
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 15. April 2002 stellte das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Thurgau A.________ wegen Nichtbefolgen von Weisungen ab dem 11. März 2002 für die Dauer von 31 Tagen in der Anspruchsberechtigung ein, mit der Begründung, er habe sich auf eine am 6. März 2002 durch das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) Thurgau, Regionalstelle Frauenfeld, schriftlich zugewiesene Stelle als Versicherungsberater bei der Firma X.________ nicht beworben.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung mit Entscheid vom 24. Februar 2003 ab.
C.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung der Einstellung in der Anspruchsberechtigung beantragen.
Rekurskommission und AWA schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Vorinstanz und Verwaltung haben die Bestimmungen über die den Arbeitslosen obliegende Schadenminderungspflicht (Art. 17 Abs. 1 AVIG), insbesondere die Verpflichtung zur Annahme einer zugewiesenen zumutbaren Arbeit (Art. 16 Abs. 1 und 2 sowie Art. 17 Abs. 3 Satz 1 AVIG), die Einstellung in der Anspruchsberechtigung bei Nichtbefolgen von Kontrollvorschriften oder Weisungen des Arbeitsamtes, namentlich bei Nichtannahme einer zugewiesenen zumutbaren Arbeit (Art. 30 Abs. 1 lit. d AVIG) sowie die verschuldensabhängige Dauer der Einstellung (Art. 30 Abs. 3 Satz 3 AVIG; Art. 45 Abs. 2 AVIV) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass bei Vorliegen eines entschuldbaren Grundes auch bei Ablehnung einer amtlich zugewiesenen zumutbaren Arbeit nicht zwingend von einem schweren Verschulden auszugehen ist. Unter einem entschuldbaren Grund ist ein Grund zu verstehen, der das Verschulden als mittelschwer oder leicht erscheinen lassen kann. Ein solcher im konkreten Einzelfall liegender Grund kann die subjektive Situation der betroffenen Person oder eine objektive Gegebenheit beschlagen (zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenes Urteil D. vom 29. Oktober 2003, C 162/02).
1.2 Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 15. April 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
2.
Es ist unbestritten, dass das zuständige RAV dem Beschwerdeführer am 6. März 2002 schriftlich eine Stelle als Versicherungsberater bei der Firma X.________ zuwies, auf welche er sich nicht beworben hat.
2.1 Grundsätzlich gilt jedes das Zustandekommen eines Arbeitsvertrages (ver-)hindernde Verhalten der versicherten Person als (verschuldete) Nichtannahme einer zugewiesenen zumutbaren Arbeit (ARV 2002 Nr. 6 S. 57 mit Hinweisen). Entsprechend gilt nach der Praxis eine zumutbare Arbeit auch als abgelehnt, wenn die arbeitslose Person sich gar nicht ernsthaft um die Aufnahme von Vertragsverhandlungen bemüht - oder es wie vorliegend unterlässt, sich auf eine zugewiesene Stelle überhaupt zu bewerben.
2.2 In seiner Stellungnahme vom 23. März 2002 gegenüber dem AWA führte der Versicherte aus, er habe sich nicht auf die Stelle bei der Firma X.________ beworben, weil er nicht über die im Inserat geforderten sehr guten Fremdsprachenkenntnisse (Französisch und Englisch: "sehr gut sprechen, sehr gut schreiben") verfüge. Das Stellenprofil habe als Aufgabe "die umfassende Beratung und Betreuung von Grosskunden (recte: Grösstkunden) auf dem komplexen Spezialgebiet der verbandlichen beruflichen Vorsorge" umfasst. Nachdem er fast zwei Jahrzehnte in Lebensversicherungsgesellschaften tätig gewesen sei, wisse er, was eine derartige Stelle, nicht zuletzt in sprachlicher Hinsicht, an Herausforderungen beinhalte. Die "Grosskunden" seien vielfach internationale Konzerne mit ausländischem Hauptsitz. Da die Verhandlungspartner und Entscheidungsträger zumeist fremdsprachig seien, könnten nach seinen einschlägigen Erfahrungen entsprechende Versicherungsberater regelmässig auf eine im Ausland erworbene Sprachpraxis abstellen. Da er seine Sprachkenntnisse demgegenüber lediglich im Sprachunterricht erworben habe, könne bei ihm von sehr guten Sprachkenntnissen keine Rede sein, weshalb er auf eine für beide Seiten sinnlose Alibi-Bewerbung verzichtet und dies gegenüber dem RAV umgehend offen dargelegt habe. Der Beschwerdeführer wendet damit im Wesentlichen ein, weil er an der Stelle mangels ausreichender Sprachkenntnisse überfordert gewesen wäre, sei ihm die zugewiesene Arbeit nicht zumutbar gewesen.
2.3 Wenn eine versicherte Person auf Grund ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten bei einer zugewiesenen Arbeit überfordert ist, ist dies zu beachten. Gemäss Art. 16 Abs. 2 lit. b AVIG ist eine Arbeit unzumutbar, die nicht angemessen auf die Fähigkeiten oder auf die bisherige Tätigkeit des Versicherten Rücksicht nimmt. Mit der Bezugnahme auf die Fähigkeiten soll vor allem eine Überforderung des Versicherten auf Grund seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten sowie fachlichen Fertigkeiten und Kenntnisse verhindert werden (vgl. etwa ARV 1995 Nr. 13 S. 71 Erw. 3d). Die gesetzliche Forderung nach angemessener Rücksichtnahme auf die Fähigkeiten zielt auch darauf hin, dass der Versicherte in der Lage sein muss, die angebotene Arbeit sachgerecht ausführen zu können, weil sich der Arbeitgeber andernfalls getäuscht sehen und das Arbeitsverhältnis wieder auflösen könnte. Die Arbeit darf das Fähigkeits- und Fertigkeitsniveau des Versicherten unterbeanspruchen, sie darf ihn aber nicht überfordern. Ein hohes Fähigkeitsniveau erweitert die Möglichkeiten der Vermittlung von zumutbarer Arbeit (Gerhards, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz, Band I, N 15b zu Art. 16).
2.4 Nach dem Gesagten ist die Zumutbarkeit der zugewiesenen Stelle für den Beschwerdeführer zu bejahen: So verfügt er über einen Hochschulabschluss und langjährige Branchenkenntnisse im Bereich der Lebensversicherung. Ob seine Sprachkenntnisse für die zugewiesene Stelle ausgereicht hätten, wäre im Bewerbungsverfahren zu prüfen gewesen. In der Stellungnahme der Firma X.________ vom 19. April 2002 wurde ihm denn auch nachträglich attestiert, dass lediglich seine Französisch-Kenntnisse für die Stelle nicht ausgereicht hätten. Dass der genannte Versicherer den Beschwerdeführer im Nachhinein als überqualifiziert für die angebotene Stelle bezeichnete, änderte nichts daran, dass die zugewiesene Arbeit diesem zumutbar war, weil er auf Grund seiner Schadenminderungspflicht verpflichtet war, auch eine Arbeit anzunehmen, welche sein Fähigkeits- und Fertigkeitsniveau unterbeanspruchte (vgl. oben Erw. 2.3). Auch bezüglich der an die Ausbildung und die Berufserfahrung zu stellenden Erfordernisse gilt wie für die Sprachkenntnisse, dass im Bewerbungsverfahren zu prüfen gewesen wäre, ob der Beschwerdeführer die Anforderungen für die zugewiesene Stelle erfüllt, oder ob er sie unter- oder überschreitet.
2.5 Mit Vorinstanz und Verwaltung ist damit festzustellen, dass der Versicherte zu Recht wegen Ablehnung einer zumutbaren Stelle in der Anspruchsberechtigung einzustellen war, weil er sich in Nachachtung seiner Pflicht zur Schadenminderung um die zugewiesene Stelle bei der Firma X.________ hätte bewerben müssen. Die Zuweisung war umso gerechtfertigter, als der Beschwerdeführer in den vorangehenden Jahren mehrere Französisch- und Englischkurse durch das RAV vermittelt erhalten hatte.
3.
3.1 Zu prüfen bleibt, ob Verwaltung und Vorinstanz zu Recht das Verschulden des Beschwerdeführers als schwer qualifiziert und die Einstellungsdauer innerhalb des entsprechenden Rahmens (31 bis 60 Tage; Art. 45 Abs. 2 lit. c AVIV) auf 31 Tage festgesetzt haben.
3.2 Bei der Überprüfung der Angemessenheit (Art. 132 lit. a OG) geht es um die Frage, ob der zu überprüfende Entscheid, den die Behörde nach dem ihr zustehenden Ermessen im Einklang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien in einem konkreten Fall getroffen hat, nicht zweckmässigerweise anders hätte ausfallen sollen. Allerdings darf das Sozialversicherungsgericht sein Ermessen nicht ohne triftigen Grund an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen; es muss sich somit auf Gegebenheiten abstützen können, welche seine abweichende Ermessensausübung als naheliegender erscheinen lassen (BGE 126 V 81 Erw. 6, 123 V 152 Erw. 2 mit Hinweisen).
3.3 Solche Gegebenheiten liegen hier vor, auch wenn die Vorinstanz es als "selbstverständlich" bezeichnete, dass von einem schweren Fall auszugehen sei, und es deshalb als müssig erachtete, über die Angemessenheit der Sanktion zu diskutieren. Zwar ist die vom Beschwerdeführer für sein Nichtbewerben auf das zugewiesene Stelleninserat vorgebrachte Begründung nicht geeignet, den Verstoss gegen die Schadenminderungspflicht zu heilen (vgl. oben Erw. 2.1 und 2.3 bis 2.5). Auf Grund seiner langjährigen Tätigkeit in der Lebensversicherungsbranche ist die von ihm getroffene Einschätzung seiner Bewerbungschancen aber nachfühlbar und lässt sein Verschulden in einem milderen Licht erscheinen (Erw. 1.1). Sie ist auch nicht Ausdruck einer Vernachlässigung der Stellensuche, hat er doch die Gründe seiner Nichtbewerbung dem RAV umgehend mitgeteilt. Auch wenn er sich aus den vom AWA und der Vorinstanz genannten Gründen trotzdem hätte auf die Stelle bewerben müssen, so ist in diesem besonders gelagerten Fall nur von einem mittelschweren Verschulden auszugehen. Es ist mit zu berücksichtigen, dass er seinen Pflichten bezüglich Stellenbewerbungen und Kursbesuchen bis anhin nachgekommen war. So bewarb er sich auch im Monat des zu sanktionierenden Verstosses gegen die Schadenminderungspflicht auf zehn Stellen, die sämtliche ausserhalb des Wohnkantons Thurgau ausgeschrieben waren, wobei es sich bei dreien nicht um Juristenstellen und damit - in Nachachtung der Schadenminderungspflicht - um ausserberufliche Tätigkeiten handelte. Insgesamt erreichte er so eine Quote von bereits rund 380 Bewerbungen und hat damit seine Vermittlungsbereitschaft einlässlich dokumentiert.
3.4 Unter Berücksichtigung der gesamten objektiven und subjektiven Umstände ist die Einstelldauer im mittleren Bereich des für ein mittelschweres Verschulden geltenden Rahmens von 16 bis 30 Tagen, d.h. auf 23 Einstelltage, festzusetzen.
4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem teilweise obsiegenden Beschwerdeführer steht eine reduzierte Parteientschädigung zu Lasten des AWA zu (Art. 159 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Weil seit dem In-Kraft-Treten des ATSG auch auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung ein bundesrechtlicher Anspruch auf Parteientschädigung für das erstinstanzliche Verfahren besteht (vgl. Art. 61 lit. g ATSG) und das ATSG in verfahrensrechtlicher Hinsicht auf am 1. Januar 2003 hängige Beschwerdeverfahren vor kantonalen Sozialversicherungsgerichten anwendbar ist, sind die Akten zum Entscheid über eine Parteientschädigung für das erstinstanzlich nach In-Kraft-Treten des ATSG abgeschlossene Verfahren der Vorinstanz zuzustellen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung vom 24. Februar 2003 und die Verfügung des Amtes für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau vom 15. April 2002 insoweit abgeändert, als die Dauer der Einstellung in der Anspruchsberechtigung auf 23 Tage festgesetzt wird.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Die Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die Arbeitslosenversicherung und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 6. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: