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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.506/2003 /sta
Urteil vom 10. Februar 2004
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Féraud, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Leuthold.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Serge Flury,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft, Bahnhofplatz 3a, 4410 Liestal,
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, Bahnhofplatz 16/II, Postfach, 4410 Liestal.
Gegenstand
Art. 9 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK (Parteientschädigung),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivil-
und Strafrecht, vom 5. August 2003.
Sachverhalt:
A.
Das Strafgerichtspräsidium des Kantons Basel-Landschaft erklärte X.________ am 24. Januar 2003, in Bestätigung des Strafbefehls des Statthalteramtes Liestal vom 5. März 2002, der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln für schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 400.--. Gegen dieses Urteil liess der Angeklagte durch seinen Anwalt die Appellation einlegen. Das Kantonsgericht Basel-Landschaft hob am 5. August 2003 das Urteil des Strafgerichtspräsidiums auf und gab dem Verfahren zufolge Eintritts der Verjährung keine weitere Folge (Ziff. I des Dispositivs). Die erst- und zweitinstanzlichen Verfahrenskosten wurden auf die Staatskasse genommen (Ziff. II des Dispositivs). Eine Parteientschädigung wurde nicht ausgerichtet (Ziff. III des Dispositivs).
B.
Gegen den Entscheid des Kantonsgerichts erhob X.________ mit Eingabe vom 30. August 2003 beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde. Er beantragt, Ziff. III des Dispositivs des angefochtenen Urteils sei aufzuheben.
C.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft stellt in ihrer Vernehmlassung vom 6. Oktober 2003 den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das Kantonsgericht beantragt mit Schreiben vom 8. Oktober 2003 unter Verzicht auf Gegenbemerkungen die Abweisung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der Beschwerdeführer beklagt sich über eine Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV) sowie des Grundsatzes der Unschuldsvermutung (Art. 6 Ziff. 2 EMRK), weil ihm im angefochtenen Entscheid, mit welchem dem gegen ihn eingeleiteten Strafverfahren keine weitere Folge gegeben wurde, keine Parteientschädigung zugesprochen worden sei.
1.1 Gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK und Art. 32 Abs. 1 BV gilt jede Person bis zur rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst die Auferlegung von Kosten an den Angeschuldigten bei Freispruch oder Einstellung des Strafverfahrens gegen die Unschuldsvermutung, wenn dem Angeschuldigten in der Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt vorgeworfen wird, er habe sich strafbar gemacht bzw. es treffe ihn ein strafrechtliches Verschulden. Dagegen ist es mit Verfassung und Konvention vereinbar, einem nicht verurteilten Angeschuldigten die Kosten zu überbinden, wenn er in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise, d.h. im Sinne einer analogen Anwendung der sich aus Art. 41 OR ergebenden Grundsätze, gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm klar verstossen und dadurch das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat (BGE 120 Ia 147 E. 3b S. 155; 119 Ia 332 E. 1b S. 334; 116 Ia 162 E. 2e S. 175).
Wird eine Kostenauflage wegen Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten, so prüft das Bundesgericht frei, ob der Text des Kostenentscheids direkt oder indirekt den Vorwurf einer strafrechtlichen Schuld enthält. Nur auf Willkür hin untersucht es dagegen, ob der Angeschuldigte in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm klar verstossen und durch dieses Benehmen das Strafverfahren veranlasst oder dessen Durchführung erschwert hat. Es geht insoweit nicht mehr um den Schutzbereich von Art. 6 Ziff. 2 EMRK und Art. 32 Abs. 1 BV, welche Bestimmungen den guten Ruf des Angeschuldigten gegen den direkten oder indirekten Vorwurf schützen wollen, ihn treffe trotz Freispruch oder Einstellung des Verfahrens eine strafrechtlich relevante Schuld. Die Voraussetzungen der Kostenauflage werden demgegenüber durch die kantonalen Strafprozessordnungen umschrieben, und in diesem Bereich greift ausschliesslich Art. 9 BV (unter der Geltung der früheren Bundesverfassung Art. 4 aBV) Platz, wonach die betreffenden Gesetzesbestimmungen nicht willkürlich angewendet werden dürfen (BGE 116 Ia 162 E. 2f S. 175 f. mit Hinweisen).
Diese Grundsätze gelten nicht nur für die Auferlegung von Kosten, sondern auch für die Verweigerung einer Entschädigung (vgl. BGE 120 Ia 147 E. 3b S. 155; 116 Ia 162 E. 2g S. 176 f.; 115 Ia 309 E. 1a u. b S. 310 f.).
1.2 Gemäss § 31 Abs. 2 Satz 1 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Landschaft (StPO) trägt in der Regel der Staat die Verfahrenskosten, wenn die angeschuldigte Person freigesprochen, das Verfahren eingestellt oder ihm keine weitere Folge gegeben wird. Sie können der angeschuldigten Person ganz oder teilweise überbunden werden, wenn sie die Untersuchung "durch ihr Verhalten verschuldet oder in unzulässiger Weise erschwert hat" (§ 31 Abs. 2 Satz 2 StPO). Wenn die angeschuldigte Person freigesprochen, das Verfahren eingestellt oder ihm keine weitere Folge gegeben wird, kann ihr die mit der Beendigung des Verfahrens befasste Behörde auf Antrag eine angemessene Entschädigung für ungerechtfertigte Haft, für Anwaltskosten sowie für anderweitige Nachteile zusprechen (§ 33 Abs. 1 StPO). Die Entschädigung wird verweigert oder herabgesetzt, wenn die angeschuldigte Person das Verfahren "durch ihr Verhalten verschuldet oder in unzulässiger Weise erschwert hat" (§ 33 Abs. 3 StPO).
1.3 Die Strafuntersuchungsbehörden legten dem Beschwerdeführer zur Last, er habe am 22. Juni 2001 auf der Autobahn A2 die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 26 km/h überschritten. Der Beschwerdeführer bestritt die Geschwindigkeitsüberschreitung nicht. Er machte jedoch geltend, er sei zu diesem Verhalten gezwungen gewesen, um eine Kollision zu vermeiden. Er habe eine Lastwagenkolonne langsam überholt, als plötzlich ein Sattelschlepper ohne zu blinken ausgebrochen sei, um einen Lastwagen, der mit 80 km/h gefahren sei, zu überholen. Da habe er instinktiv Gas gegeben, um möglichst schnell aus der Gefahrenzone wegzukommen. Gleichzeitig sei er auf die Spur weiter links ausgewichen.
Das Strafgerichtspräsidium erachtete diese Darstellung als unglaubhaft. Es hielt in seinem Urteil vom 24. Januar 2003 fest, der Sachverhalt, wie ihn der Beschwerdeführer geschildert habe, werde durch keine der aktenkundigen Fotografien erhärtet. Das Gegenteil sei der Fall. Aus einem Bild ergebe sich, dass sich auf der Spur rechts vom Beschwerdeführer in einigem Abstand zu dessen Fahrzeug ein anderer Personenwagen befunden habe. Dies sei aber die Spur, auf der sich - nach den Angaben des Beschwerdeführers - die Lastwagen hätten befinden müssen. Selbst wenn die Version mit dem ausbrechenden Sattelschlepper zutreffen würde, müsste sie sich - wie den Fotos zu entnehmen sei - einiges vor dem Zeitpunkt abgespielt haben, in welchem das Fahrzeug des Beschwerdeführers vom Radarblitzgerät fotografiert worden sei. Eine Reduktion auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h wäre damit ohne weiteres möglich gewesen. Das Strafgericht gelangte somit zum Schluss, für die Geschwindigkeitsüberschreitung gebe es keinen Rechtfertigungsgrund. Es sprach den Beschwerdeführer der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Ziff. 1 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) in Verbindung mit Art. 27 Abs. 1 SVG und Art. 22 der Signalisationsverordnung schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 400.--.
1.4 Im Appellationsverfahren brachte der Beschwerdeführer wiederum vor, er habe die zulässige Geschwindigkeit lediglich zur Vermeidung einer Kollision überschritten. Nachdem im Laufe des Appellationsverfahrens die absolute Verfolgungsverjährung für Übertretungen eingetreten war, hob das Kantonsgericht das erstinstanzliche Urteil auf und gab dem Strafverfahren keine weitere Folge.
1.4.1 Zu den Kostenfolgen führte das Kantonsgericht im angefochtenen Entscheid aus, die Vorschrift von § 31 Abs. 2 StPO sei restriktiv und deshalb dahin gehend auszulegen, dass der angeschuldigten Person die Verfahrenskosten nur in Ausnahmefällen und bei grobem Verschulden überbunden werden könnten. Da im vorliegenden Fall weder ein grobes Verschulden des Beschwerdeführers noch eine unzulässige Erschwerung der Untersuchung ersichtlich sei, seien sowohl die erst- als auch die zweitinstanzlichen Verfahrenskosten auf die Staatskasse zu nehmen.
1.4.2 Hinsichtlich der Entschädigungsfrage hielt das Kantonsgericht zunächst allgemein fest, bei der Vorschrift von § 33 Abs. 3 StPO liege es im Ermessen der zuständigen Behörde, eine Entschädigung zuzusprechen. Die Voraussetzungen, eine Entschädigung zu verweigern oder herabzusetzen, seien daher "weniger streng zu beurteilen" als diejenigen für die Überbindung der Verfahrenskosten. Sodann legte es dar, weshalb dem Beschwerdeführer keine Entschädigung auszurichten sei. Es begründete dies wie folgt:
"In diesem Zusammenhang ist die Begründung der Vorinstanz zur Verurteilung des Appellanten insofern nicht zu bemängeln, als zum Zeitpunkt der Entstehung der Photographie und somit zum massgebenden Zeitpunkt der Erfassung der Geschwindigkeitsübertretung auf derselben die vom Appellanten geschilderte Notstandssituation klarerweise nicht zu erkennen ist. Dies deshalb, weil erstens auf derjenigen Spur, auf welcher sich der den Notstand auslösende Lastwagen befinden müsste, lediglich ein Personenwagen sichtbar ist, und zweitens, weil dem Appellanten, sofern der betreffende Lastwagen sich tatsächlich hinter dem Personenwagen und somit ausserhalb des sichtbaren Bereichs der Photographie befindet, genügend Zeit verblieben wäre, um nach der allenfalls notwendigen Beschleunigung wieder auf das erlaubte Mass abzubremsen. Im Übrigen entspricht die Haltung des Appellanten, soweit auf der Photographie erkennbar, mit dem aufgestützten linken Arm nicht derjenigen einer Person, welche gerade nur knapp einen Unfall vermeiden konnte. Nach Gesagtem haben die Untersuchungsbehörden zu Recht ein Verfahren gegen den Appellanten eingeleitet, weshalb ihm ein diesbezügliches Verschulden anzulasten ist und in der Folge eine Entschädigung für seine Anwaltskosten nicht ausgerichtet wird."
1.5 Der Beschwerdeführer wendet zu Recht ein, diese Erwägungen seien mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar. Das Kantonsgericht hielt fest, die "Begründung" der ersten Instanz "zur Verurteilung" des Beschwerdeführers sei nicht zu bemängeln, da zum Zeitpunkt der Erfassung der "Geschwindigkeitsübertretung" die vom Beschwerdeführer geschilderte Notstandssituation auf der betreffenden Fotografie "klarerweise nicht zu erkennen" sei. Mit diesen Feststellungen wird zumindest indirekt der Eindruck erweckt, der Beschwerdeführer habe eben doch eine Geschwindigkeitsübertretung begangen und sich somit im Sinne des Strafrechts schuldig gemacht. Die Begründung, mit der das Kantonsgericht dem Beschwerdeführer eine Entschädigung verweigerte, verletzt den Grundsatz der Unschuldsvermutung.
1.6 Ebenfalls zutreffend ist die Rüge der willkürlichen Auslegung und Anwendung von § 33 Abs. 3 StPO. Die Voraussetzungen für die Verweigerung einer Entschädigung werden in dieser Vorschrift genau gleich umschrieben wie diejenigen für die Auferlegung der Kosten in § 31 Abs. 2 StPO. In beiden Fällen wird verlangt, dass die angeschuldigte Person das Strafverfahren "durch ihr Verhalten verschuldet oder in unzulässiger Weise erschwert hat". Es ist daher sachlich nicht vertretbar, wenn das Kantonsgericht dieses Erfordernis bei der Frage der Verweigerung einer Entschädigung anders interpretiert als bei der Frage der Kostenüberbindung.
Das Kantonsgericht legt die Vorschrift von § 31 Abs. 2 StPO dahin gehend aus, dass für die Auferlegung von Kosten ein "grobes Verschulden" der angeschuldigten Person erforderlich sei. Es führte aus, im vorliegenden Fall sei ein grobes Verschulden des Beschwerdeführers nicht ersichtlich, weshalb ihm keine Kosten zu überbinden seien. Wenn aber ein grobes Verschulden des Beschwerdeführers nicht gegeben war, so fehlte es auch an der Voraussetzung für die Verweigerung einer Entschädigung gemäss § 33 Abs. 3 StPO. Die gegenteilige Auffassung des Kantonsgerichts hält unter diesen Umständen vor Art. 9 BV nicht stand.
Nach dem Gesagten verletzt die Begründung, mit der das Kantonsgericht dem Beschwerdeführer eine Entschädigung verweigerte, sowohl das Willkürverbot als auch die Unschuldsvermutung. Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher gutzuheissen und der angefochtene Entscheid mit Bezug auf Ziff. III des Dispositivs aufzuheben.
2.
Gemäss Art. 156 Abs. 2 OG sind keine Gerichtskosten zu erheben. Der Kanton Basel-Landschaft hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und Ziff. III des Dispositivs des Urteils des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, vom 5. August 2003 aufgehoben.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton Basel-Landschaft hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 10. Februar 2004
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: