Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
U 208/02
Urteil vom 26. Februar 2004
II. Kammer
Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und nebenamtlicher Richter Maeschi; Gerichtsschreiberin Amstutz
Parteien
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
M.________, Beschwerdegegner
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
(Entscheid vom 29. Mai 2002)
Sachverhalt:
A.
Der 1949 geborene M.________ war als Bauarbeiter bei der Firma X.________ AG tätig und bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Betriebs- und Nichtbetriebsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am 2. Juli 1999 rutschte er bei der Arbeit aus und zog sich dabei eine Schulterkontusion rechts zu. In der Folge klagte er über persistierende Schmerzen, die jedoch nur teilweise objektiviert werden konnten. Wiederholte Untersuchungen ergaben keinen Nachweis für einen Rotatorenmanschettenriss oder eine ossäre Läsion; festgestellt wurde eine geringfügige Tendinitis der Supraspinatussehne bei begleitender Bursitis und möglichem Impingementsyndrom. Nachdem subakromiale Infiltrationen keine wesentliche Besserung gebracht hatten, hielt sich M.________ vom 22. März bis 1. April 2000 zur stationären Therapie in der Klinik Y.________ auf, deren Ärzte eine posttraumatische Periarthropathia humeroscapularis rechts sowie eine Schmerzverarbeitungsstörung diagnostizierten und eine Selbstlimitierung sowie eine mangelnde Leistungsbereitschaft des Versicherten feststellten (Bericht vom 1. Mai 2000). Im Rahmen der kreisärztlichen Abschlussuntersuchung vom 16. Juni 2000 gelangte Dr. med. Z.________ zum Schluss, der Versicherte vermöge die bisherige Tätigkeit als Bauarbeiter nicht mehr auszuüben, dagegen sei ihm eine Arbeit in der Industrie oder in einem Fabrikationsbetrieb ohne Überkopfarbeiten und ohne wiederholtes Heben und Tragen von Gewichten über 10 kg ganztags zumutbar. In der Folge stellte die SUVA die Heilbehandlungs- und Taggeldleistungen auf den 30. November 2000 ein und sprach dem Versicherten mit Verfügung vom 22. Dezember 2000 eine Invalidenrente aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 15% ab 1. Dezember 2000 sowie eine Integritätsentschädigung von 15% zu. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 5. April 2001 fest.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde mit dem Rechtsbegehren um Weiterausrichtung der Heilbehandlungs- und Taggeldleistungen, eventualiter Zusprechung einer höheren Invalidenrente, hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 29. Mai 2002 insoweit teilweise gut, als es dem Versicherten eine Rente aufgrund einer Erwerbsunfähigkeit von 23% zusprach (Dispositiv-Ziff. 1 Satz 1); des Weitern wurde M.________ eine Parteientschädigung von Fr. 1000.- zugesprochen (Dispositiv-Ziff. 3).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA, Ziff. 1 Satz 1 und Ziff. 3 des vorinstanzlichen Entscheids seien aufzuheben und es sei der Einspracheentscheid vom 5. April 2001 vollumfänglich zu bestätigen.
M.________ lässt sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Bundesamt für Sozialversicherung, Abteilung Unfallversicherung (seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit), hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Im vorinstanzlichen Entscheid werden die Bestimmungen über den Rentenanspruch und die Invaliditätsbemessung ( Art. 18 Abs. 1 und 2 UVG ) zutreffend dargelegt, worauf verwiesen wird. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier: 5. April 2001) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).
2.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde der SUVA richtet sich gegen die von der Vorinstanz vorgenommene Erhöhung des Invaliditätsgrades von 15% auf 23%, welche darauf zurückzuführen ist, dass das kantonale Gericht bei der Festsetzung des für die Invaliditätsbemessung massgebenden Invalideneinkommens anhand von Durchschnittslöhnen konkreter Arbeitsplätze einen Abzug von 10% vorgenommen hat.
2.1 Für die Festsetzung des Invalideneinkommens ist nach der Rechtsprechung primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als Invalidenlohn. Ist kein solches tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben, namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, so können nach der Rechtsprechung entweder Tabellenlöhne gemäss den vom Bundesamt für Statistik periodisch herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen (LSE) oder die sog. DAP-Zahlen herangezogen werden (BGE 129 V 475 Erw. 4.2.1, 126 V 76 Erw. 3b mit Hinweisen).
2.2 In BGE 129 V 472 ff. hat sich das Eidgenössische Versicherungsgericht mit der Invaliditätsbemessung aufgrund von Arbeitsplatzbeschreibungen aus der von der SUVA geschaffenen und teilweise auch in der Invalidenversicherung verwendeten Dokumentation von Arbeitsplätzen (DAP) näher befasst und festgestellt, dass die für die Invaliditätsbemessung herangezogenen DAP-Profile im konkreten Einzelfall repräsentativ sein müssen. Dies setzt voraus, dass im Regelfall mindestens fünf zumutbare Arbeitsplätze als Entscheidungsgrundlage dienen. Zusätzlich sind Angaben zu machen über die Gesamtzahl der aufgrund der gegebenen Behinderung in Frage kommenden dokumentierten Arbeitsplätze, über den Höchst- und den Tiefstlohn sowie über den Durchschnittslohn der dem jeweils verwendeten Behinderungsprofil entsprechenden Gruppe. Das rechtliche Gehör ist dadurch zu wahren, dass der Versicherer die für die Invaliditätsbemessung im konkreten Fall herangezogenen DAP-Profile mit den erwähnten zusätzlichen Angaben auflegt und die versicherte Person Gelegenheit hat, sich hiezu zu äussern (vgl. Art. 122 lit. a UVV, gültig gewesen bis 31. Dezember 2000 [AS 2000 2913] und Art. 26 Abs. 1 lit. b VwVG; BGE 115 V 297 ff.). Allfällige Einwendungen der versicherten Person bezüglich des Auswahlermessens und der Repräsentativität der DAP-Blätter im Einzelfall sind grundsätzlich im Einspracheverfahren zu erheben. Ist der Versicherer nicht in der Lage, im Einzelfall den erwähnten Anforderungen zu genügen, kann im Bestreitungsfall nicht auf den DAP-Lohnvergleich abgestellt werden und ist die Invalidität aufgrund von Tabellenlöhnen der vom Bundesamt für Statistik periodisch herausgegebenen Lohnstrukturerhebungen (LSE) zu ermitteln. Im Beschwerdeverfahren ist es Sache des angerufenen Gerichts, die Rechtskonformität der DAP-Invaliditätsbemessung zu prüfen, gegebenenfalls die Sache an den Versicherer zurückzuweisen oder an Stelle des DAP-Lohnvergleichs einen Tabellenlohnvergleich gestützt auf die LSE vorzunehmen (BGE 129 V 478 ff. Erw. 4.2.2).
2.3 Was die bei der Invaliditätsbemessung aufgrund von Tabellenlöhnen zulässigen Abzüge (vgl. BGE 126 V 77 ff.; AHI 2002, S. 67 ff. Erw. 4) betrifft, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 129 V 472 ff. entschieden, dass im Rahmen des DAP-Systems, wo aufgrund der ärztlichen Zumutbarkeitsbeurteilung anhand von Arbeitsplatzbeschreibungen konkrete Verweisungstätigkeiten ermittelt werden, Abzüge grundsätzlich nicht sachgerecht und nicht zulässig sind. Zum einen wird spezifischen Beeinträchtigungen in der Leistungsfähigkeit bereits bei der Auswahl der zumutbaren DAP-Profile Rechnung getragen. Zum andern ist bezüglich der weiteren persönlichen und beruflichen Merkmale (Teilzeitarbeit, Alter, Anzahl Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltsstatus), die bei der Anwendung der LSE zu einem Abzug führen können, darauf hinzuweisen, dass auf den DAP-Blättern in der Regel nicht nur ein Durchschnittslohn, sondern ein Minimum und ein Maximum angegeben sind, innerhalb deren Spannbreite auf die konkreten Umstände Rücksicht genommen werden kann (BGE 129 V 481 f. Erw. 4.2.3).
3.
3.1 Nach dem Gesagten ist der SUVA darin beizupflichten, dass der vom kantonalen Gericht vorgenommene Abzug (vgl. Erw. 2 hievor) zu Unrecht erfolgt ist. Des Weitern ist festzustellen, dass die von SUVA und Vorinstanz zur Invaliditätsbemessung herangezogenen fünf DAP-Blätter keine genügende Grundlage für die Festsetzung des Invalideneinkommens bilden, lässt sich doch mangels der verlangten zusätzlichen Angaben und entsprechenden Unterlagen (vgl. Erw. 2.2 hievor) das Auswahlermessen der SUVA nicht überprüfen. Das Invalideneinkommen ist daher gestützt auf die LSE zu ermitteln.
4.
Gemäss Tabelle TA1 der LSE 2000 belief sich der monatliche Bruttolohn (Zentralwert bei einer standardisierten Arbeitszeit von 40 Wochenstunden) der mit einfachen und repetitiven Arbeiten (Anforderungsniveau 4) im privaten Sektor beschäftigen Männer auf Fr. 4'437.-, was umgerechnet auf die betriebsübliche Arbeitszeit im Jahr 2000 von 41,8 Stunden (Tabelle B 9.2, in: Die Volkswirtschaft 2002/ Heft 12, S. 88) ein Jahreseinkommen von Fr. 55'640.- ergibt. Hinsichtlich des leidensbedingten Abzugs vom Tabellenlohn ist zu berücksichtigen, dass der Beschwerdegegner aufgrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch im Rahmen einer geeigneten leichteren Tätigkeit in der Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, was sich in einer entsprechenden Verdiensteinbusse auswirken kann. Die übrigen von den Rechtsprechung zugelassenen Kriterien wie Alter, Dienstjahre und Nationalität/ Aufenthaltskategorie (vgl. AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc) sind lediglich teilweise erfüllt. Der Beschwerdegegner war bei Erlass des Einspracheentscheids noch nicht 52 Jahre alt, seit 1978 mit Unterbrüchen als Bauarbeiter in der Schweiz beschäftigt gewesen und verfügt über die Niederlassungsbewilligung C, welcher Status sich auf das Lohnniveau in dem in Betracht fallenden Arbeitssegment nicht negativ auswirkt (vgl. LSE 2000, TA12, S. 47 [Anforderungsniveau 4/ Männer]). Schliesslich fällt ein Abzug wegen Teilzeitarbeit nicht in Betracht, da der Beschwerdegegner eine angepasste Tätigkeit vollzeitlich auszuüben vermag. Wenn die SUVA das Invalideneinkommen anhand der DAP auf Fr. 44'850.- festgesetzt hat, so entspricht dies im Rahmen des hier vorzunehmenden Tabellenlohnvergleichs einem Abzug von knapp 20%. Zu einem höheren Abzug fehlen die Voraussetzungen. Der Einspracheentscheid vom 5. April 2001, mit welchem dem Beschwerdegegner bei einem unbestritten gebliebenen Valideneinkommen von Fr. 52'445.- eine Rente aufgrund eines Invaliditätsgrades von 15% zugesprochen wurde, ist im Ergebnis somit zu bestätigen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden die Dispositiv-Ziffern 1 (Satz 1) und 3 des Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. Mai 2002 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
Luzern, 26. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: