Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.633/2003 /whl
Urteil vom 4. März 2004
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Pfisterer.
Parteien
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwalt lic. iur. Roland Egli-Heine,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8500 Frauenfeld,
Obergericht des Kantons Thurgau, Promenadenstrasse 12, 8500 Frauenfeld.
Gegenstand
Strafverfahren; SVG; Beweiswürdigung,
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 5. Juni 2003.
Sachverhalt:
A.
X.________ verursachte mit ihrem Personenwagen am 27. August 2001 um 16.50 Uhr einen Verkehrsunfall zwischen ihr und einem vortrittsberechtigten Mofalenker. Dieser kollidierte mit dem Front-bereich des Fahrzeuges von X.________, wurde auf die Kühlerhaube gehoben und gegen die Windschutzscheibe geschlagen. Dabei erlitt er eine Unterschenkelfraktur und musste hospitalisiert werden. X.________ zog sich leichte Verletzungen an den Fingern zu, weil der Mofalenker die Windschutzscheibe durchschlug. Da sie zudem den Eindruck von Angetrunkenheit erweckte, wurde sie ebenfalls ins Spital gebracht. Sie verweigerte eine Blutentnahme zur Bestimmung der Blutalkoholkonzentration. Später gab sie an, unter Schock gestanden und nicht realisiert zu haben, dass eine Blutentnahme erfolgen sollte.
X.________ wurde am 24. September 2001 wegen Nichtgewährens des Rechtsvortrittes verurteilt. Dagegen erhob sie am 28. September 2001 Einsprache. Die zuständige Bezirksgerichtskommission Steckborn sandte die Akten am 14. Februar 2002 zur Ergänzung der Untersuchung und allfälliger ergänzender Anklageerhebung an die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau. X.________ zog ihre Einsprache am 26. Juni 2002 wieder zurück.
B.
Am frühen Abend des 10. März 2002 wurde X.________ schlafend hinter dem Steuer ihres Personenwagens vor ihrer Garage von der Polizei angetroffen. Die Zündungsschlüssel hielt sie in der Hand und der Motor des Fahrzeuges war noch warm. Sie hinterliess den Eindruck starker Angetrunkenheit und wurde deshalb auf den Kantonspolizeiposten Frauenfeld gebracht. Aufgrund ihres Zustandes konnten jedoch weder eine Befragung noch ein Atemlufttest durchgeführt werden. Eine spätere Blutentnahme ergab eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,61 %o.
C.
Die Staatsanwaltschaft erhob am 28. August 2002 Anklage gegen X.________ wegen Vereitelung einer Blutprobe, mehrfacher Verletzung von Verkehrsregeln, pflichtwidrigem Verhalten bei Unfall sowie wegen Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustand.
Die Bezirksgerichtskommission Steckborn sprach X.________ am 31. Oktober 2002 schuldig der Vereitelung einer Blutprobe (Vorfall vom 27. August 2001) und des Führens eines Motorfahrzeuges in ange-trunkenem Zustand (Vorfall vom 10. März 2002).
D.
X.________ erklärte gegen dieses Urteil am 9. Januar 2003 (und mit Begründung vom 13. März 2003) Berufung. Sie beantragte, sie sei von Schuld und Strafe freizusprechen. Zudem stellte sie verschiedene Beweisergänzungsanträge.
Das Obergericht des Kantons Thurgau bestätigte die Schuldsprüche am 5. Juni 2003, gewährte X.________ jedoch den bedingten Straf-vollzug.
E.
X.________ führt mit Eingabe vom 22. Oktober 2003 staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Ferner ersucht sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht des Kantons Thurgau sprechen sich beide für Abweisung der Beschwerde aus.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Entscheid in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen (Art. 88 OG). Sie macht die Verletzung verfassungsmässig garantierter Rechte geltend (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG). Dazu ist sie legitimiert. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf ihre staatsrechtliche Beschwerde grundsätzlich einzutreten.
2.
2.1 Die Beschwerdeführerin macht in formeller Hinsicht geltend, ihre Beweisanträge seien nicht abgenommen worden. Das Obergericht habe dadurch ihren Gehörsanspruch und weitere Verteidigungsrechte verletzt (Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 1 und 2 BV , Art. 6 Ziff. 1 und 3 EMRK ).
2.2 Das Obergericht hat die Beweisergänzungsanträge der Beschwerdeführerin mit zwei selbstständigen Begründungen ab-gewiesen. Einerseits hat es erwogen, dass es die Beschwerdeführerin versäumt hat, ihre Anträge frist- und formgerecht zu stellen und sie deshalb insoweit auf ihre Verfahrensrechte verzichtet habe. Anderer-seits hat das Obergericht ausgeführt, die beantragten Ergänzungs-fragen seien gar nicht ausschlaggebend gewesen, weshalb die Beweisergänzungsanträge auch aus diesem Grund abzulehnen seien.
2.3 Beruht der angefochtene Entscheid auf zwei voneinander unab-hängigen Begründungen, muss sich der Beschwerdeführer mit jeder von ihnen auseinandersetzen und bezüglich jeder hinreichend dartun, dass der Entscheid verfassungswidrig ist (vgl. Art. 90 Abs. 1 lit. b OG). Eine Beschwerdeschrift, die diese Voraussetzungen nicht erfüllt, ist nicht geeignet, die Verfassungswidrigkeit des angefochtenen Entscheids darzutun; sie erfüllt die Anforderungen von Art. 90 Abs. 1 lit. b OG nicht. Das Bundesgericht tritt in einem solchen Fall auf die Beschwerde nicht ein (vgl. BGE 121 IV 94 E. 1b; 119 Ia 13 E. 2, je mit Hinweisen).
2.4 Die Beschwerdeführerin befasst sich nur mit der Frage der gehörigen Geltendmachung ihrer kantonalen Verfahrensrechte. Zur Frage, ob das Obergericht ihre Beweisergänzungsanträge zulässiger-weise in antizipierter Beweiswürdigung abweisen durfte, nimmt sie nicht genügend begründet Stellung. Auf die formellen Rügen ist daher nicht einzutreten.
3.
3.1 In der Sache hält die Beschwerdeführerin dafür, das Obergericht habe die Unschuldsvermutung verletzt (Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK). Das Gericht sei davon ausgegangen, sie habe ihre Unschuld nicht nachgewiesen. So sei die Feststellung, sie habe am 27. August 2001 keinen Schock erlitten, willkürlich. Es sei ebenso nicht an ihr nachzuweisen, dass sie am 10. März 2002 ihr Fahrzeug nicht gelenkt habe. Sie habe ihr Auto vor dem Alkoholkonsum vor ihrer Garage parkiert. Die Behauptung der Polizei, sie sei alkoholisiert gefahren, sei deshalb nicht nachvollziehbar.
3.2 Die Beweiswürdigung ist willkürlich (Art. 9 BV), wenn sie offen-sichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, auf einem offenkundigen Versehen beruht oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dabei genügt es nicht, wenn der angefochtene Entscheid sich nur in der Begründung als unhaltbar erweist; eine Aufhebung rechtfertigt sich erst, wenn er auch im Ergebnis verfassungswidrig ist (BGE 129 I 49 E. 4, 8 E. 2.1, mit Hinweisen).
3.3 Gemäss Art. 32 Abs. 1 BV sowie Art. 6 Ziff. 2 EMRK gilt jede angeschuldigte Person bis zur rechtskräftigen Verurteilung als un-schuldig.
3.3.1 Als Beweislastregel bedeutet die aus der Unschuldsvermutung abgeleitete Maxime "in dubio pro reo", dass es Sache der Anklagebehörde ist, die Schuld des Angeklagten zu beweisen, und nicht dieser seine Unschuld nachweisen muss. Der Grundsatz ist verletzt, wenn der Strafrichter einen Angeklagten (einzig) mit der Begründung verurteilt, er habe seine Unschuld nicht nachgewiesen. Ebenso ist die Maxime verletzt, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt, dass der Strafrichter von der falschen Meinung ausging, der Angeklagte habe seine Unschuld zu beweisen, und dass er ihn verurteilte, weil ihm dieser Beweis misslang. Ob der Grundsatz "in dubio pro reo" als Beweislastregel verletzt ist, prüft das Bundesgericht mit freier Kognition (BGE 127 I 38 E. 2a S. 41 mit Hinweis).
3.3.2 Als Beweiswürdigungsregel besagt der Grundsatz "in dubio pro reo", dass sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Beweiswürdigungsregel ist verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklagten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche und nicht zu unter-drückende Zweifel handeln, d. h. um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen (BGE 127 I 38 E. 2a mit Hinweisen).
Im Bereich der Beweiswürdigung verfügt der Sachrichter über einen weiten Ermessensspielraum. Das Bundesgericht auferlegt sich bei der Überprüfung der Beweiswürdigung im Strafprozess Zurückhaltung. Es greift im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" als Beweiswürdigungsregel nur ein, wenn der Sachrichter den Angeklagten verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des ganzen Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche und schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an dessen Schuld fortbestanden (BGE 127 I 38 E. 2a mit Hinweisen).
3.4 Die - teilweise rein appellatorischen - Einwendungen der Beschwerdeführerin vermögen keine qualifizierten Zweifel (vgl. Ziff. 3.3.2 vorstehend) an den Ausführungen des Obergerichts und damit an ihrer Schuld zu wecken. Die Behauptung, das Gericht habe die Beweislastregel verletzt, wird durch den angefochtenen Entscheid ebenfalls nicht bestätigt. Das angefochtene Urteil erscheint im Ergebnis nicht als verfassungswidrig.
3.4.1 Das Obergericht hat ausführlich dargelegt, weshalb es der Aussage der Beschwerdeführerin nach dem Unfall vom 27. August 2001, sie sei unter Schock gestanden, keinen Glauben schenkte. Ihre ersten Angaben seien nicht verwirrt oder fahrig, sondern geordnet und präzis erfolgt und hätten mit denjenigen des Unfallopfers überein-gestimmt. Weder die Besatzung des Ambulanzfahrzeuges noch das Personal des Kantonsspitals hätten Anzeichen für einen Schock festgestellt, ansonsten hätten sie dies in den Akten festgehalten. Der rapportierende Polizeibeamte habe seine ursprüngliche Formulierung betreffend ihren angeblichen Schockzustand später relativiert. Unter den genannten Umständen ist die Folgerung des Obergerichts, es sei eine Schutzbehauptung, wenn die Beschwerdeführerin geltend macht, sie habe wegen ihres Schocks nicht mitbekommen, dass eine Blut-probe angeordnet worden sei, nicht offensichtlich unhaltbar.
3.4.2 Ebenso lassen die Ausführungen der Beschwerdeführerin betreffend den Vorfall vom 10. März 2002 keine offensichtlich erheblichen und schlechterdings nicht zu unterdrückenden Zweifel am obergerichtlichen Beweisergebnis aufkommen. Das Obergericht hat das Urteil der Bezirksgerichtskommission Steckborn sowie die Darlegungen der Beschwerdeführerin im Detail und sorgfältig geprüft. Zu Lasten der Beschwerdeführerin fiel insbesondere ins Gewicht, dass sie widersprüchliche Aussagen zu Protokoll gegeben hat. Unmittelbar nach ihrem Auffinden durch die Polizei habe sie mehrmals bestätigt, sie sei vom Hotel zur Kappelerstrasse gefahren. Diesen ersten Aus-sagen sei Glauben zu schenken, da sie damals alkoholbedingt noch nicht in der Lage gewesen sei, sich eine Ausrede zurecht zu legen. Ihre späteren gegenteiligen Behauptungen seien blosse Schutz-behauptungen und Ausreden. Dass ein Zeuge nicht gewusst habe, ob das Fahrzeug am Nachmittag schon vor der Garage gestanden ist oder nicht, sei nicht entscheidend. Der Zeuge habe das Fahrzeug hingegen am Abend mit eingeschaltetem Licht gesehen. Auch sei nicht ausgeschlossen, dass die trinkgewohnte Beschwerdeführerin trotz ihres Rauschzustandes ihr Fahrzeug korrekt parkieren konnte. Unter objektiver Würdigung aller Umstände stehen die Ausführungen der Beschwerdeführerin in der staatsrechtlichen Beschwerde diesem Beweisergebnis nicht entgegen. Der Schluss, sie habe ihr Fahrzeug stark alkoholisiert vom Hotel zu ihrer Garage gefahren, verletzt die Unschuldsvermutung daher nicht.
4.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Sie ist als von vornherein aussichtslos im Sinne von Art. 152 OG zu erachten, so dass das von der Beschwerdeführerin gestellte Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege abzuweisen ist.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten (Art. 156 Abs. 1 OG). Ihrer angespannten Finanzlage wird durch eine reduzierte Gerichtsgebühr Rechnung getragen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 4. März 2004
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: