Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 690/02
Urteil vom 23. März 2004
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Traub
Parteien
B.________, 1971, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprech Friedrich Affolter, Seestrasse 2, Bahnhofplatz, 3700 Spiez,
gegen
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 30. August 2002)
Sachverhalt:
A.
Der 1971 geborene B.________ verfügt über einen Lehrabschluss als Metzger. Nach rund vierjähriger Tätigkeit in diesem Beruf wechselte er das Tätigkeitsfeld und nahm, ohne zuvor eine entsprechende neue Ausbildung absolviert zu haben, eine Stelle als Gipser-Handlanger an. Nachdem sich gesundheitliche Beschwerden eingestellt hatten (Herzprobleme, Bluthochdruck), meldete er sich am 1. März 2001 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Mit Verfügung vom 5. Dezember 2001 stellte die IV-Stelle Bern fest, es liege kein invalidisierender Gesundheitsschaden vor; Leistungen der Invalidenversicherung entfielen daher.
B.
B.________ führte Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit dem Antrag, es seien "weitere Abklärungen vorzunehmen und die Möglichkeit einer Umschulung zu überprüfen". Das kantonale Gericht wies die Beschwerde ab (Entscheid vom 30. August 2002).
C.
B.________ lässt das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuern. Ausserdem beantragt er die unentgeltliche Verbeiständung.
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Umschulung im Sinne von Art. 17 IVG.
2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der Invalidität (Art. 4 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b) sowie zur Bemessung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 126 V 75, 104 V 136 f. Erw. 2a und b) richtig wiedergegeben. Darauf wird verwiesen. Beizufügen ist, dass das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 (in Kraft seit dem 1. Januar 2003) keine Anwendung findet; massgebend sind vielmehr die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der streitigen Verfügung vom 5. Dezember 2001 (BGE 129 V 4 Erw. 1.2; vgl. BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b). Das Gleiche gilt für die auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Bestimmungen gemäss der Änderung des IVG vom 21. März 2003 (4. IVG-Revision).
3.
Nach Art. 17 Abs. 1 IVG hat ein Versicherter Anspruch auf Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit, wenn diese infolge Invalidität notwendig ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder wesentlich verbessert werden kann. Als invalid im Sinne von Art. 17 IVG gilt, wer nicht hinreichend eingegliedert ist, weil der Gesundheitsschaden eine Art und Schwere erreicht hat, welche die Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit ganz oder teilweise unzumutbar macht; unmittelbar drohende Invalidität genügt (vgl. Art. 8 Abs. 1 IVG). Dabei muss der Invaliditätsgrad ein bestimmtes erhebliches Mass erreicht haben. Nach der Rechtsprechung ist dies der Fall, wenn der Versicherte in den ohne zusätzliche berufliche Ausbildung noch zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende oder längere Zeit dauernde Erwerbseinbusse von etwa 20 % erleidet (BGE 124 V 110 f. Erw. 2b; AHI 1997 S. 80 Erw. 1b).
Eine Umschulung kommt in Betracht, wenn der Versicherte individuell eingliederungsfähig ist; dabei sind die medizinischen und erwerblichen Rahmenbedingungen (Gesundheitszustand, Leistungsvermögen, Bildungsfähigkeit, Motivation usw.; AHI 1997 S. 172 Erw. 3a; ZAK 1963 S. 37 Erw. 2; Urteil N. vom 1. Februar 2000, I 618/99, Erw. 1a) massgebend. Weiter kommt eine Umschulung nur in Betracht, wenn sie in wesentlichem Ausmass eingliederungswirksam ist (vgl. BGE 122 V 214 f. Erw. 2c in Verbindung mit 79 f. Erw. 3b/bb und cc, 108 V 213 Erw. 1d, 107 V 88 Erw. 2; Urteil F. vom 19. April 2000, I 30/00, Erw. 3b).
4.
4.1 Nachdem der Versicherte im Frühherbst 2001 während ungefähr drei Wochen in der Klinik X.________ hospitalisiert gewesen war, diagnostizierten die dortigen Ärzte eine "Kampf-Fluchtreaktion" bei einem psychophysiologischen Beschwerdebild mit Schwindel, Schwitzen, Angespanntheit und thorakalem Stechen. Es bestehe eine abhängige Persönlichkeitsstruktur mit Alkoholgewohnheit und Nikotinabusus; als arbeitsloser Familienvater mit unsicherer Zukunftsperspektive sehe sich der Versicherte einer sozialen Belastungssituation und zunehmendem Verantwortungsdruck ausgesetzt, was - im Sinne einer Dekompensation - zur Ausbildung der Kampf-Fluchtreaktion mit den entsprechenden Symptomen geführt habe. Eine Umschulung in einen seiner Persönlichkeitsstruktur angepassten Beruf erscheine sinnvoll. Zu denken sei dabei an eine Tätigkeit im Verkauf oder an den Besuch einer Handelsschule. Im angestammten Beruf als Metzger, aber auch als Gipser, bestehe eine vollständige Arbeitsunfähigkeit (Bericht vom 1. Oktober 2001). Im Schreiben an die IV-Stelle vom 12. Dezember 2001 wurde klargestellt, dass es sich bei der Kampf-Fluchtreaktion um eine somatoforme Störung (ICD-10: F45) mit Krankheitswert handle.
4.2 Anhand dieses Arztberichts, der den beweisrechtlichen Anforderungen der Rechtsprechung genügt (vgl. BGE 125 V 352 Erw. 3a), kann mit Blick auf die anbegehrte Umschulung ein rechtserheblicher Gesundheitsschaden knapp bejaht werden (Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 17 IVG). Die Vorinstanz hat diese Frage offen gelassen; der Beschwerdeführer erleide im Rahmen der ohne berufliche Umschulung noch zumutbaren Verdienstmöglichkeiten selbst dann keine Erwerbseinbusse von mindestens 20 %, wenn von einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit als Metzger und als Bauhandlanger ausgegangen werde. Nach ärztlicher Einschätzung vermöge der Versicherte in der dem Gesundheitszustand angepassten Tätigkeit als Verkäufer vollschichtig erwerbstätig zu sein. Es sei ihm zumutbar, als Verkäufer in einer Metzgerei zu arbeiten, wo er als gelernter Metzger spezifische Berufs- und Fachkenntnisse einbringen könne. Unter Berücksichtigung dieser Tatsache betrage das anrechenbare Invalideneinkommen nach Massgabe der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2000 des Bundesamtes für Statistik (Tabelle A1) - umgerechnet auf die betriebsübliche Arbeitszeit und auf das Jahr 2001 bezogen - jährlich Fr. 61'380.-, nach Einrechnung eines leidensbedingten Abzuges (BGE 126 V 75) von 10 % schliesslich Fr. 55'242.-. Demgegenüber belaufe sich das Valideneinkommen (hypothetisches Einkommen ohne Invalidität) aufgrund der Angaben des letzten Arbeitgebers als Bauhandlanger auf Fr. 59'729.- (2001). Bei einer Gegenüberstellung dieser beiden Werte ergebe sich ein leistungsausschliessender Invaliditätsgrad von 7,5 %.
5.
5.1 Die Bemessung des Valideneinkommens durch die Vorinstanz ist nicht zu beanstanden. In der zuletzt ausgeübten Tätigkeit im Baugewerbe könnte der Beschwerdeführer bezogen auf das Jahr 2001 im Gesundheitsfall ein Einkommen von Fr. 59'729.- erzielen.
5.2 Zweifel ergeben sich jedoch hinsichtlich der für das Invalideneinkommen herangezogenen Bemessungsgrundlagen. Das kantonale Gericht wählte bei seiner Berechnung die in der LSE 2000 ausgewiesenen Zentralwerte im Bereich "Detailhandel und Reparatur" für Tätigkeiten, die Berufs- und Fachkenntnisse voraussetzen (Anforderungsniveau 3); dies allein aufgrund der Annahme, das betreffende Einkommen als Detailhandelsangestellter stehe dem Beschwerdeführer schon wegen seiner Fachkenntnisse als gelernter Metzger - eine Tätigkeit, die er seit Frühjahr 1995 im Wesentlichen nicht mehr ausgeübt hat - offen. Dies darf nicht ohne weiteres unterstellt werden, da der Versicherte nicht über eine Detailhandelsausbildung verfügt. Der Sachverhalt ist in diesem Punkt ergänzungsbedürftig: Erst aufgrund spezifischer Abklärungen zur Einkommenssituation ungelernter Verkäufer wird sich mit hinreichender Zuverlässigkeit beurteilen lassen, ob der Beschwerdeführer auch ohne berufliche Massnahme ein Einkommen zu erzielen vermag, welches zu einem Invaliditätsgrad führt, der unter dem für die Zusprechung einer Umschulung massgebenden Schwellenwert von 20 % (Erw. 3 hievor) liegt. Falls jedoch der Anschein richtig ist, dass der vorinstanzlich angenommene Lohnansatz eine Ausbildung im Bereich Detailhandel voraussetzt, erscheint es widersprüchlich, dem Beschwerdeführer die anbegehrte Umschulung aufgrund der Anrechnung eines hypothetischen Gehalts zu versagen, dessen Erzielbarkeit gerade von einer entsprechenden beruflichen Massnahme abhängt. Der massgebende Schwellenwert wäre - bei Anwendung aller übrigen von der Vorinstanz herangezogenen Eckwerte - etwa dann erreicht, wenn unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Versicherte nicht gelernter Verkäufer ist, auf den einschlägigen Tabellenlohn gemäss Anforderungsniveau 4 ("einfache und repetitive Tätigkeiten") abgestellt werden müsste; der Invaliditätsgrad betrüge dann 20,4 %.
6.
Bei dieser Aktenlage ist die Rentenberechtigung ohnehin nicht spruchreif. Die diesbezügliche Kritik in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde am vorinstanzlichen Entscheid trifft ins Leere.
7.
Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht dem Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG); damit ist sein Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung gegenstandslos.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 30. August 2002 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 5. Dezember 2001 aufgehoben und es wird die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen, damit diese, nach Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Umschulungsanspruch neu verfüge.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 23. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: