BGer C 66/2003
 
BGer C 66/2003 vom 21.04.2004
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
C 66/03
Urteil vom 21. April 2004
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiber Ackermann
Parteien
Arbeitslosenkasse der Gewerkschaft Bau & Industrie GBI, Zentralverwaltung, Werdstrasse 62, 8004 Zürich, Beschwerdeführerin,
gegen
P.________, 1956, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Bügler, Heimstättenweg 8, 8413 Neftenbach
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 5. Februar 2003)
Sachverhalt:
A.
P.________, geboren 1956, verlor auf Ende März 1999 seine Arbeitsstelle und meldete sich am 4. März 1999 bei der Arbeitslosenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach einer Ab- und Wiederanmeldung zur Arbeitsvermittlung im Juni resp. Oktober 1999 richtete die Arbeitslosenkasse der Gewerkschaft Bau & Industrie von Oktober 1999 bis April 2001 Arbeitslosenentschädigungen aus.
Am 21. Februar 2000 meldete sich P.________ auch bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. In der Folge sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich bei einem Invaliditätsgrad von 73% mit Wirkung ab dem 1. Oktober 1999 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu. Mit der Begründung, die Arbeitslosenversicherung erbringe nur Leistungen für die verbleibende Erwerbsfähigkeit von 27%, forderte die Arbeitslosenkasse mit Verfügung vom 17. September 2002 für die Monate Oktober 1999 bis April 2001 zu viel ausgerichtete Taggelder im Umfang von Fr. 21'993.50 zurück, wobei sie diesen Betrag direkt mit Leistungen der Invalidenversicherung verrechnete.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 5. Februar 2003 gut und wies die Sache an die Arbeitslosenkasse zurück, damit sie über die Rückforderung neu verfüge, wobei sie zu berücksichtigen habe, dass P.________ für Teilzeitbeschäftigungen von 50% vermittelbar sei.
C.
Die Arbeitslosenkasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, den vorinstanzlichen Entscheid aufzuheben.
P.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, während das Staatssekretariat für Wirtschaft auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat zu Recht festgehalten, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (17. September 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). Weiter hat die Vorinstanz die für die Vermittlungsfähigkeit im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG und Art. 15 Abs. 1 AVIG) und bezüglich Behinderter (vgl. zu diesem Begriff ARV 1999 Nr. 19 S. 106 Erw. 2) im Besonderen massgebenden Bestimmungen und Grundsätze (Art. 15 Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 15 AVIV) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die gesetzlichen Bestimmungen über die Rückforderung von unrechtmässig bezogenen Leistungen der Arbeitslosenversicherung (Art. 95 Abs. 1 AVIG), die dazu nach der Rechtsprechung notwendigen Voraussetzungen für ein wiedererwägungs- oder revisionsweises Zurückkommen auf die formlos erfolgte Leistungszusprechung (vgl. BGE 122 V 368 Erw. 3 mit Hinweisen) und die Verrechnung mit Leistungen anderer Sozialversicherungen (Art. 124 AVIV). Darauf wird verwiesen.
Zu ergänzen bleibt, dass nach Art. 40b AVIV bei Versicherten, die unmittelbar vor oder während der Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit erleiden, der versicherte Verdienst massgebend ist, welcher der verbleibenden Erwerbsfähigkeit entspricht.
2.
Streitig ist, ob der Beschwerdegegner die durch Taggeldabrechnungen von Oktober 1999 bis April 2001 formlos erbrachten Leistungen wegen der nachträglich zugesprochenen Rente der Invalidenversicherung (teilweise) zurückzuerstatten hat. Es geht also nicht nur um die Frage der Unrechtmässigkeit des erfolgten Leistungsbezuges (Art. 95 Abs. 1 AVIG), sondern auch darum, ob die Rückkommensvoraussetzungen - Wiedererwägung oder prozessuale Revision - gegeben sind. Nicht Streitgegenstand ist demgegenüber der Erlass der Rückerstattung der Taggelder gemäss Art. 95 Abs. 2 AVIG.
2.1 Die Vorinstanz geht davon aus, die Vermittlungsfähigkeit des Beschwerdegegners sei für Teilzeitbeschäftigungen von 50% gegeben, weshalb die Arbeitslosenkasse zu Unrecht von einer Vermittelbarkeit für Arbeiten mit Beschäftigungsgrad von 27% ausgegangen sei; das kantonale Gericht wies die Sache in der Folge an die Verwaltung zurück, damit sie unter Berücksichtigung der Vermittelbarkeit des Versicherten die Rückforderung zu viel ausbezahlter Arbeitslosenentschädigungen neu festlege. Nicht behandelt hat die Vorinstanz die Festsetzung des versicherten Verdienstes, da dies ihrer Ansicht nach nicht bestritten gewesen ist.
Die Beschwerde führende Arbeitslosenkasse macht letztinstanzlich sinngemäss geltend, es sei der versicherte Verdienst in Anwendung des Art. 40b AVIV zu kürzen, so dass dieser nur noch 27% des ursprünglich angenommenen Wertes betrage.
2.2 Art. 95 Abs. 1 AVIG setzt als Voraussetzung für die Rückerstattung die Unrechtmässigkeit des Leistungsbezuges voraus; weitere bereichsspezifische Erfordernisse sind nicht notwendig (ARV 1998 Nr. 15 S. 81 Erw. 5a mit Hinweis).
Der Beschwerdegegner erhält mit Wirkung ab dem 1. Oktober 1999 bei einem Invaliditätsgrad von 73% eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Rechtsprechungsgemäss stellt die von der Invalidenversicherung ermittelte Erwerbsunfähigkeit eine neue erhebliche Tatsache dar, deren Unkenntnis die Arbeitslosenkasse nicht zu vertreten hat (ARV 1998 Nr. 15 S. 81 Erw. 5a mit Hinweisen), so dass ein Zurückkommen auf die ausgerichteten Leistungen auf dem Weg der prozessualen Revision grundsätzlich möglich ist. Durch die Gewährung einer Rente der Invalidenversicherung muss die Vermittlungsfähigkeit jedoch nicht ausgeschlossen sein; dies gilt um so mehr, als die Organe der Arbeitslosenversicherung nicht an die Beurteilung durch die Invalidenversicherung gebunden sind (vgl. ARV 1998 Nr. 15 S. 81 f. Erw. 5b sowie BGE 127 V 478 Erw. 2b/cc). So sind Arbeitslosen- und Invalidenversicherung denn auch nicht komplementäre Versicherungszweige (BGE 109 V 29). Es ist erstellt und von der Arbeitslosenkasse auch nicht bestritten, dass der Versicherte ihm zumutbare Tätigkeiten (Art. 16 Abs. 2 lit. c AVIG) im Umfang von 50 % ausführen kann (und scheinbar auch will; vgl. Art. 15 Abs. 1 AVIG), weshalb er im Rahmen einer solchen Stelle vermittlungsfähig ist. So ist vorliegend denn auch die Vermutung des Art. 15 Abs. 2 AVIG nicht widerlegt worden, wonach ein körperlich oder geistig Behinderter als vermittlungsfähig gilt, wenn ihm bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner Behinderung, auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden könnte. Damit ist der Leistungsbezug - trotz der neuen Tatsache der Gewährung einer ganzen Invalidenrente - in dieser Hinsicht nur soweit unrechtmässig, als er Entschädigungen für Ganzarbeitslosigkeit (Art. 10 Abs. 1 AVIG) umfasst. Dies hat die Vorinstanz zu Recht erkannt.
2.3 Die Rechtmässigkeit der Taggeldleistungen ist weiter auch unter dem Gesichtspunkt des versicherten Verdienstes zu prüfen, insbesondere hinsichtlich Art. 40b AVIV. Danach ist bei Versicherten, die unmittelbar vor oder während der Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit erleiden, der Verdienst massgebend, welcher der verbleibenden Erwerbsfähigkeit entspricht. Wie den Akten entnommen werden kann, ist die Arbeitslosenkasse von einem versicherten Verdienst von Fr. 4'875.-- und einer Vermittlungsfähigkeit für Vollzeitstellen ausgegangen. Die Ausrichtung einer Rente der Invalidenversicherung stellt nicht nur im Hinblick auf die Frage der Vermittelbarkeit (vgl. Erw. 2.2 hievor), sondern auch betreffend Höhe des versicherten Verdienstes eine neue Tatsache im Sinne der prozessualen Revision dar, weshalb grundsätzlich auf die Festsetzung des versicherten Verdienstes zurückgekommen werden kann.
Der Beschwerdegegner hat seine letzte Arbeitsstelle auf Ende März 1999 offensichtlich aus invaliditätsfremden Gründen verloren und sich bereits während der laufenden Kündigungsfrist am 3. März 1999 bei der Wohngemeinde zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung gemeldet. Nachdem er sich am 8. Juni 1999 von der Arbeitsvermittlung abgemeldet hatte (wahrscheinlich wegen einer Tätigkeit als Temporärarbeitnehmer), meldete er sich am 11. Oktober 1999 wieder zur Arbeitsvermittlung an. Die Anmeldung bei der Invalidenversicherung erfolgte am 21. Februar 2000 und deren Rente wird mit Wirkung ab Oktober 1999 ausgerichtet. Damit erlitt der Beschwerdegegner während der im April 1999 eingetretenen Arbeitslosigkeit (vgl. Art. 10 Abs. 3 AVIG) eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung seiner Erwerbsfähigkeit, weshalb Art. 40b AVIV und die darauf gestützte Rechtsprechung (BGE 127 V 484, ARV 1991 Nr. 10 S. 92) grundsätzlich anwendbar ist. Daran ändert auch das Wartejahr gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG nichts, denn dieses setzt nur (aber immerhin) eine Arbeitsunfähigkeit und nicht - wie Art. 40b AVIV - eine Erwerbsunfähigkeit voraus; zudem hat der Versicherte seine letzte Stelle aus invaliditätsfremden Gründen verloren. Damit führt die neue Tatsache der nachträglich zugesprochenen Invalidenrente zu einer anderen rechtlichen Beurteilung im Sinne der prozessualen Revision, und es ändert sich die Bemessungsgrundlage des versicherten Verdienstes, so dass die Arbeitslosenkasse den versicherten Verdienst nachträglich zu Recht um das Mass der Resterwerbsfähigkeit gemäss Invalidenversicherung (beim hier vorliegenden Invaliditätsgrad von 73% also auf 27%) herabgesetzt hat. Es liegt hier ein analoger Fall zu BGE 127 V 486 Erw. 2b vor, da dort Arbeitslosigkeit und Invalidität ebenfalls zeitlich nahe zusammen lagen (BGE 127 V 485 lit. A) und mithin die Voraussetzungen des Art. 40b AVIV gegeben waren.
2.4 Der Beschwerdegegner ist der Auffassung, dass nach der von der Arbeitslosenkasse vertretenen Lösung diejenigen Versicherten "bestraft" würden, die nachträglich einen hohen Invaliditätsgrad aufwiesen; dies verstosse jedoch gegen allgemeine Verfassungsprinzipien. Im Übrigen erfolge auch keine Anpassung, wenn nachträglich ein geringerer Invaliditätsgrad als ursprünglich angenommen vorliege.
Dieser Argumentation ist nicht zu folgen: Der vom Versicherten angesprochene Gleichheitsgrundsatz (Art. 8 BV) bedingt nämlich nicht nur, dass Gleiches nach Massgabe seiner Gleichheit gleich behandelt wird, sondern auch, dass Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird (BGE 127 V 454 Erw. 3b). Würde der Meinung in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gefolgt, resultierte eine Gleichbehandlung von Ungleichem, nämlich den unterschiedlichen Graden der Erwerbsfähigkeit. Im Weiteren kann der versicherte Verdienst im Rahmen einer prozessualen Revision auch nach oben angepasst werden, wenn die Invalidenversicherung nachträglich einen niedrigeren Invaliditätsgrad festsetzen sollte.
2.5 Da der versicherte Verdienst gemäss Art. 40b AVIV gekürzt werden muss, ist der Standpunkt der Arbeitslosenkasse im Ergebnis begründet. Die Rückforderung, welche masslich auf einem um 73% gekürzten versicherten Verdienst beruht, ist daher zu Recht erfolgt.
Weil die Invalidität im Rahmen der Festsetzung des versicherten Verdienstes berücksichtigt ist, hat die von der Vorinstanz angeordnete Kürzung der Taggelder infolge der Beschränkung der Vermittelbarkeit auf Stellen von 50% nicht zusätzlich zu erfolgen.
3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die Arbeitslosenkasse als obsiegende Behörde hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 135 OG in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 5. Februar 2003 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 21. April 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: