BGer 5P.192/2004 |
BGer 5P.192/2004 vom 20.07.2004 |
Tribunale federale
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{T 0/2}
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5P.192/2004 /rov
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Urteil vom 20. Juli 2004
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II. Zivilabteilung
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Besetzung
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Bundesrichterin Nordmann, präsidierendes Mitglied, Bundesrichter Meyer, Bundesrichter Marazzi,
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Gerichtsschreiber von Roten.
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Parteien
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B.________ (Ehefrau),
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Beschwerdeführerin,
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vertreten durch Fürsprecher Martin Schwaller,
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gegen
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K.________ (Ehemann),
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Beschwerdegegner,
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vertreten durch Fürsprecher Dr. René Müller,
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Obergericht des Kantons Aargau (5. Zivilkammer), Obere Vorstadt 38, 5000 Aarau.
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Gegenstand
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Art. 9 BV (vorsorgliche Massnahmen während des Scheidungsverfahrens; Ehegattenunterhalt),
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Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau (5. Zivilkammer)
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vom 22. März 2004.
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Sachverhalt:
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A.
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B.________ (Ehefrau), Jahrgang 1946, und K.________ (Ehemann), Jahrgang 1940, heirateten am 9. September 1971. Sie wurden Eltern einer Tochter und eines Sohnes. Ihre beiden Kinder sind heute volljährig. Im Frühjahr 1998 trennten sich die Ehegatten. Am 28. Juni 2002 machte der Ehemann beim Bezirksgericht Baden die Scheidungsklage anhängig.
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B.
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Auf Gesuch der Ehefrau erliess der Gerichtspräsident 2 von Baden vorsorgliche Massnahmen während des Scheidungsverfahrens. Gegen den ihm auferlegten Ehegattenunterhalt erhob der Ehemann Beschwerde, der sich die Ehefrau anschloss. Das Obergericht (5. Zivilkammer) des Kantons Aargau wies die Beschwerde ab (Dispositiv-Ziff. 1). In teilweiser Gutheissung der Anschlussbeschwerde setzte es die vom Ehemann zu leistenden Unterhaltsbeiträge neu fest auf Fr. 1'358.-- ab 1. Juli 2002, auf Fr. 1'379.-- ab 1. Januar 2003 und auf Fr. 1'363.-- ab 1. Januar 2004. Letzterer Betrag sollte sich auf Fr. 1'190.-- reduzieren ab dem Zeitpunkt, da sich der Ehemann durch Vorlage des Mietvertrags über den Auszug seines Sohnes aus der ehelichen Wohnung ausweist (Dispositiv-Ziff. 2). Die Kosten des obergerichtlichen Verfahrens wurden den Parteien je zur Hälfte auferlegt und die Parteikosten wettgeschlagen (Dispositiv-Ziff. 3 und 4 des Urteils vom 22. März 2004). Gleichzeitig mit dem Urteil in der Sache beschloss das Obergericht, das Gesuch der Ehefrau um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen.
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C.
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Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 BV beantragt die Ehefrau dem Bundesgericht die Aufhebung des obergerichtlichen Urteils. Der Ehemann schliesst auf Abweisung. Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet unter Hinweis auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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1.
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Die Beschwerdeführerin beantragt die Aufhebung des "Urteils", meint damit aber das Urteil in der Sache (S. 6 ff. Ziff. 1-3) einschliesslich der Prozesskostenverlegung (S. 10 ff. Ziff. 4-6 der Beschwerdeschrift), d.h. die Dispositiv-Ziff. 2-4 des angefochtenen Urteils. Die staatsrechtliche Beschwerde gibt in formeller Hinsicht zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass.
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2.
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Auf entsprechenden Vorhalt des Beschwerdegegners hin hat das Obergericht festgehalten, der Gerichtspräsident habe die Grundsätze für die Unterhaltsbemessung mittels Notbedarfsberechnung und hälftiger Überschussverteilung zutreffend dargelegt. Darauf könne verwiesen werden (E. 2 S. 6 des angefochtenen Urteils).
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Das Obergericht hat für jeden Ehegatten Einkommen und Notbedarf neu bestimmt (E. 3-6 S. 6 ff.), aus deren Gegenüberstellung den Überschuss berechnet (E. 7a S. 14) und anschliessend festgestellt, was folgt: "Nachdem Schulden- und Steuerzahlungen nicht ausgewiesen sind, wäre der Klägerin (heute: Beschwerdeführerin) praxisgemäss die Hälfte des Überschusses zuzuweisen. Ihr Unterhaltsanspruch beläuft sich demnach auf Fr. 1'358.-- ab Juli 2002 bzw. Fr. 1'379.-- ab Januar 2003 und Fr. 1'363 ab 1. Januar 2004" und nach Auszug des Sohnes aus der ehelichen Wohnung "auf Fr. 1'190.--" (E. 7b S. 14 f. des angefochtenen Urteils).
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Die Beschwerdeführerin belegt, dass dem Obergericht ein Rechenfehler unterlaufen ist. Wird die Methode der Notbedarfsberechnung mit hälftiger Überschussverteilung mathematisch genau angewendet, beträgt der Unterhaltsbeitrag Fr. 1'487.-- ab Juli 2002, Fr. 1'512.-- ab Januar 2003 und Fr. 1'493.-- ab Januar 2004 bzw. Fr. 1'287.50 nach Auszug des Sohnes aus der ehelichen Wohnung. Die Differenzen zu Ungunsten der Beschwerdeführerin belaufen sich monatlich auf Fr. 129.-- während eines halben Jahres, auf Fr. 133.-- während eines ganzen Jahres und auf Fr. 130.-- bzw. Fr. 97.50 seit 1. Januar 2004. Der Beschwerdegegner stimmt den Berechnungen in der Beschwerdeschrift - vorbehältlich eines offensichtlichen Verschriebs - zu. Es muss deshalb angenommen werden, dass dem Obergericht in der Berechnung der Unterhaltsbeiträge zu Lasten der Beschwerdeführerin ein Fehler unterlaufen ist.
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3.
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Unter Hinweis auf den Rechenfehler macht die Beschwerdeführerin Willkür geltend. Sie erblickt einen unüberwindbaren Widerspruch zwischen der angewendeten Methode der Unterhaltsbemessung und der tatsächlichen Berechnung. Der Beschwerdegegner verteidigt das angefochtene Urteil im Ergebnis und hält dafür, es sei nicht sicher, dass das Obergericht eine genaue Berechnung habe durchführen wollen. Sodann beruhe jede Unterhaltsbemessung begriffsnotwendig auf gerichtlichem Ermessen, und überhaupt gelte der Grundsatz "minima non curat praetor".
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3.1 Der Begriff der Willkür erfasst nur qualifizierte Fehler; bloss unrichtige Rechtsanwendung genügt nicht (BGE 110 Ia 1 E. 2a S. 3 f). Das Bundesgericht greift ein, wenn Sachverhaltsfeststellungen und Beweiswürdigung "auf einem offenbaren Versehen beruhen" (BGE 105 Ia 190 E. 2a mit Hinweisen) oder wenn ein Entscheid "an einem inneren Widerspruch leidet" (BGE 121 I 240 E. 1d S. 243 mit Hinweisen). Ob die gerügten Rechenfehler der einen oder anderen Kategorie zuzuordnen sind und ob sie die Sachverhaltsermittlung oder die Rechtsanwendung betreffen (vgl. Urteile 4C.118/1998 vom 27. Juni 2000, E. 3b, und 4C.92/1997 vom 14. Juli 1997, E. 1a), kann letztlich dahingestellt bleiben. Nach ständiger Rechtsprechung lassen Rechenfehler, die sich auf das Ergebnis auswirken, einen kantonalen Entscheid als willkürlich erscheinen (z.B. Urteile 5P.327/1998 vom 12. Oktober 1998, E. 2, und 5P.55/1995 vom 31. März 1995, E. 3e Abs. 2, vorsorgliche Massnahmen während des Scheidungsverfahrens betreffend). Bei ausgesprochenen Ermessensentscheiden wie der Festsetzung von Unterhalt ist allerdings im Einzelfall zu untersuchen, ob das Gericht den Unterhaltsbeitrag nach Recht und Billigkeit (gleichsam "ex aequo et bono") oder anhand einer konkreten, den Gesetzen der Mathematik folgenden Berechnung hat festsetzen wollen. Letzternfalls bedeutet ein Rechenfehler, der sich auf das Ergebnis auswirkt, Willkür, ohne dass geprüft werden müsste, ob der exakt, aber falsch berechnete Unterhaltsbeitrag auch den Rahmen pflichtgemässer Ermessensausübung sprengt (vgl. Urteil 5P.6/1997 vom 26. März 1997, E. 2b Abs. 2).
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3.2 Entgegen der Darstellung des Beschwerdegegners hat das Obergericht vorliegend eine Notbedarfsberechnung mit hälftiger Überschussverteilung vorgenommen. Es heisst im angefochtenen Urteil zwar etwas missverständlich, es "wäre" der Beschwerdeführerin praxisgemäss die Hälfte des Überschusses zuzuweisen. Allfällige Zweifel über den verwendeten Konjunktiv werden jedoch durch den anschliessenden Satz behoben, der dahin lautet, der Unterhaltsanspruch belaufe sich "demnach auf Fr. ...." (E. 7b S. 14). Die Wendung "demnach" meint "auf Grund des gerade Gesagten, folglich, also" (Duden, Das grosse Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 2, Mannheim/ Wien/Zürich 1976, S. 507, Stichwort: "demnach", und Bd. 10: Bedeutungswörterbuch, 2.A. Mannheim/Wien/Zürich 1985, S. 42, Stichwort "also") und bezieht sich hier unmissverständlich auf den Satzteil "praxisgemäss die Hälfte des Überschusses". Das methodische Vorgehen wird durch den obergerichtlichen Verweis auf die Darstellung des Gerichtspräsidenten betreffend "Grundsätze für die Unterhaltsbemessung mittels Notbedarfsberechnung und hälftiger Überschussverteilung" (E. 2 S. 6) bekräftigt. Es steht damit ausser Zweifel, dass das Obergericht den Unterhaltsbeitrag genau hat berechnen wollen und - im Übrigen zu Recht - nicht irgendwie ermessensweise festgesetzt hat. Bei dieser Sachlage kann Willkür nicht verneint werden, wirkt sich der Rechenfehler doch unbestrittenermassen auf die Höhe der Unterhaltsbeiträge aus.
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3.3 Der Beschwerdegegner wendet ein, die Auswirkungen des Rechenfehlers seien derart gering, dass sich die Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen Willkür nicht rechtfertige (unter Hinweis auf den Grundsatz "minima non curat praetor"; vgl. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 6.A. München 1998, S. 133). Schweizerischer Rechtsanschauung widerspricht es, der Durchsetzung einer grundsätzlich justitiablen Geldforderung einzig deshalb die Beurteilung zu versagen, weil sie zahlenmässig zu geringfügig ist (Dürr, Zürcher Kommentar, 1998, N. 354 zu Art. 1 ZGB; vgl. auch Breitschmid, Über Schwierigkeiten wirtschaftlicher Betrachtungsweise im Privatrecht, in: FS Druey, Zürich 2002, S. 61 ff., S. 79). Ein allfälliges Opportunitätsprinzip liegt im Zivilprozess grundsätzlich in den Händen der Parteien und heisst Dispositionsmaxime (Vogel, Minima non curat praetor, SJZ 82/1986 S. 88, in Besprechung des Urteils, in: ZR 85/1986 Nr. 42 S. 93 ff.). Es kann auch nicht verallgemeinernd gesagt werden, die Rechtsverfolgung eines geringen Forderungsbetrags an sich erfülle den Sachverhalt mutwilligen oder rechtsmissbräuchlichen Prozessierens (vgl. Frank/Sträuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3.A. Zürich 1997, N. 10 zu § 50 ZPO/ZH). Ein solcher Verstoss gegen Treu und Glauben ist vielmehr auf Grund sämtlicher Umstände des konkreten Einzelfalls zu beurteilen. Für Rechtsmissbrauch oder Mutwilligkeit sind vorliegend Anhaltspunkte weder ersichtlich noch dargetan. Entgegen der Behauptung des Beschwerdegegners geht es auch nicht um einen "geringfügigen" Forderungsbetrag. Bei angespannten finanziellen Verhältnissen - wie hier - sind ein Mehr oder Weniger von Fr. 100.-- im Monat durchaus spürbar.
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4.
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Aus den dargelegten Gründen muss die staatsrechtliche Beschwerde gutgeheissen werden. Die Gutheissung erfasst ohne weiteres auch die Verlegung der Kosten und Entschädigung des kantonalen Verfahrens. Mit dem neuen Urteil in der Sache wird das Obergericht auch darüber neu zu entscheiden haben (Urteil 5P.442/1993 vom 15. Dezember 1993, E. 1b, SJ 1994 S. 434). Auf die entsprechenden Willkürrügen der Beschwerdeführerin braucht damit nicht mehr eingegangen zu werden.
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5.
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Bei diesem Verfahrensausgang wird der Beschwerdegegner kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 1 und 2 OG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und die Dispositiv-Ziff. 2-4 des Urteils des Obergerichts (5. Zivilkammer) des Kantons Aargau vom 22. März 2004 werden aufgehoben.
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2.
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Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'500.-- wird dem Beschwerdegegner auferlegt.
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3.
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Der Beschwerdegegner hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau (5. Zivilkammer) schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 20. Juli 2004
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Im Namen der II. Zivilabteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:
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