Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 508/03
Urteil vom 19. August 2004
I. Kammer
Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger, Ursprung und Kernen; Gerichtsschreiber Hadorn
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
SWICA Gesundheitsorganisation, Rechtsdienst, Römerstrasse 38, 8401 Winterthur, Beschwerdegegnerin,
betreffend A.________, 1996, vertreten durch seine Eltern D.________ und C.________
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen
(Entscheid vom 8. Juli 2003)
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 13. Januar 2003 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen A.________ (geb. am 30. Januar 1996) medizinische Massnahmen zur Behandlung eines kongenitalen Psychoorganischen Syndroms (POS) ab 21. Oktober 2002 zu.
B.
Hiegegen erhob die Swica Gesundheitsorganisation, Krankenkasse von A.________, Einsprache mit dem Begehren, die Invalidenversicherung (IV) habe die erwähnten medizinischen Massnahmen ab 12. November 2001 zu übernehmen. Die IV-Stelle wies die Einsprache mit Entscheid vom 26. März 2003 ab.
C.
Die dagegen eingereichte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 8. Juli 2003 insofern gut, als es die Sache zu näheren Abklärungen im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies.
D.
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
Die Swica schliesst auf Abweisung, die IV-Stelle hingegen auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. A.________ verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Versicherungsgericht hat die gesetzlichen Bestimmungen zum Anspruch Minderjähriger auf medizinische Massnahmen zur Behandlung von Geburtsgebrechen ( Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG ; Art. 2 Abs.1 und 2 GgV ), insbesondere bei angeborenem POS (Ziff. 404 GgV Anhang), sowie zum Beginn der Leistungspflicht bei verspäteter Anmeldung zum Leistungsbezug (Art. 48 Abs. 2 IVG) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.
2.
Der Sachverhalt ist insoweit unbestritten, als gemäss Bericht von Frau Dr. med. K.________, Spezialärztin FMH für Pädiatrie, vom 23. Dezember 2002 erstmals am 21. Oktober 2002 die Diagnose eines POS gestellt worden ist. Am 12. November 2002 meldeten die Eltern den Versicherten zum Leistungsbezug bei der IV an. Indessen wurde dieser bereits seit 2001 auf Kosten der Krankenversicherung behandelt. Daher stellt die Swica den Antrag, gestützt auf Art. 48 Abs. 2 IVG habe die IV Leistungen bis zu einem Jahr rückwirkend ab Datum der Anmeldung, somit ab 12. November 2001, nachzuzahlen. Das BSV und mit ihm die IV-Stelle sind hingegen der Meinung, im Falle eines POS gemäss Ziff. 404 GgV Anhang könnten Leistungen erst ab dem Datum der gesicherten Diagnose, somit wie verfügt ab 21. Oktober 2002, erbracht werden. Hiezu stützen sie sich unter anderem auf Rz 404.6 des Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen (KSME) des BSV. Gemäss dem zweiten Satz dieser Randziffer werden die Behandlungskosten ab gestellter Diagnose übernommen.
3.
Streitig und zu prüfen ist somit einzig der Zeitpunkt, ab welchem die Leistungspflicht der IV zu laufen beginnt.
3.1 Gemäss Art. 13 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. Der Bundesrat bezeichnet nach Abs. 2 der selben Vorschrift die Gebrechen, für welche Massnahmen gewährt werden. Er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist.
Gestützt auf die ihm eingeräumte Kompetenz hat der Bundesrat die Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV) vom 9. Dezember 1985 erlassen. In deren Anhang Ziff. 404 wird das POS wie folgt umschrieben: "Kongenitale Hirnstörung mit vorwiegend psychischen und kognitiven Symptomen bei normaler Intelligenz (kongenitales infantiles Psychosyndrom, kongenitales hirndiffuses psychoorganisches Syndrom, kongenitales hirnlokales Psychosyndrom), sofern sie mit bereits gestellter Diagnose als solche vor Vollendung des 9. Altersjahres behandelt worden sind (kongenitale Oligophrenie ist ausschliesslich als Ziff. 403 zu behandeln)." In der französischen Fassung lautet die genannte Ziffer, soweit für den vorliegenden Fall von Interesse, wie folgt: "Troubles cérébraux congénitaux ayant pour conséquence préponderante des symptômes psychiques et cognitifs chez les sujets d'intelligence normale, lorsqu'ils ont été diagnostiqués et traités comme tels avant l'accomplissement de la neuvième année (syndrome psycho-organique ...etc)". Der entsprechende italienische Text hat sodann folgenden Wortlaut: "Turbe cerebrali congenite con conseguenza preponderante di sintomi psichici e conoscitivi nei soggetti d'intelligenza normale, per quanto esse siano state diagnosticate e curate come tali prima del compimento del nono anno di età (sindrome psico-organica...etc)".
3.2 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat in BGE 122 V 120 ff. Erw. 3a/dd ff. festgehalten, dass Ziff. 404 GgV Anhang gesetzmässig ist. Diese Vorschrift bezweckt, Anspruchsvoraussetzungen für die Leistungspflicht der IV zu definieren (a.a.O. S. 122 Erw. 3b/bb). Bei den Kriterien der rechtzeitig vor dem 9. Altersjahr der versicherten Person gestellten Diagnose und dem rechtzeitigen Behandlungsbeginn handelt es sich somit um Anspruchsvoraussetzungen (ebenso AHI 2002 S. 61 Erw. 1b). Damit die Leistungspflicht der IV ausgelöst wird, muss also eine (rechtzeitig) gestellte Diagnose vorliegen. Ein blosser Verdacht auf ein POS genügt nicht. Ferner hat das Gericht mehrfach betont (BGE 122 V 123 Erw. 3b/bb), dass die fehlende rechtzeitige Diagnose die unwiderlegbare Rechtsvermutung schafft, dass es sich nicht um ein angeborenes POS handelt. Damit entfällt auch der nachträgliche Beweis, dass die Möglichkeit der Diagnosestellung vor Vollendung des 9. Altersjahres bestanden habe. Selbst wenn es, objektiv betrachtet, an sich möglich gewesen wäre, rechtzeitig eine Diagnose zu stellen, dies aber im konkreten Einzelfall - aus welchen Gründen auch immer - nicht geschah, hat die IV unter Ziff. 404 GgV Anhang keine medizinischen Massnahmen zu übernehmen (Urteile A. vom 13. Januar 2003, I 362/02, G. vom 5. September 2001, I 554/00, und S. vom 31. August 2001, I 558/00).
3.3 Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich von dem in BGE 122 V 113 ff. publizierten Fall insofern, als die Frage, ob die Diagnose rechtzeitig vor Vollendung des 9. Altersjahres gestellt wurde, hier nicht streitig ist. Auch die Abgrenzung zwischen angeborenem und erworbenem POS steht nicht zur Diskussion. Vielmehr ist zu entscheiden, ob die IV bei unzweifelhaft rechtzeitiger Diagnose und rechtzeitigem Behandlungsbeginn auch medizinische Vorkehren zu übernehmen hat, welche vor dem Zeitpunkt der erstmaligen Diagnose erbracht worden sind. Mit andern Worten ist zu prüfen, ob die Leistungspflicht der IV frühestens im Zeitpunkt der Diagnose einsetzt (so auch Rz 404.6 KSME) oder ob sie schon vorher, und gegebenenfalls ab wann, beginnen kann. Daher ist zu prüfen, ob die Auslegung von Ziff. 404 GgV Anhang Antwort auf diese Frage gibt.
3.4 Nach dem Wortlaut der genannten Ziffer fallen die beschriebenen gesundheitlichen Störungen dann unter die Leistungspflicht der IV, wenn sie "mit bereits gestellter" Diagnose "als solche" rechtzeitig behandelt werden. Daraus lässt sich ableiten, dass vorgängig eine Diagnose gestellt sein muss, ehe (leistungspflichtige) Behandlungen einsetzen. Zudem müssen diese Behandlungen auf Leiden gerichtet sein, welche "als solche" (im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang) diagnostiziert worden sind. Damit wird angedeutet, dass früher aufgetretene Symptome, die für sich allein die Diagnose des POS (noch) nicht erfüllen, von der Leistungspflicht der IV - jedenfalls unter Ziff. 404 GgV Anhang - nicht erfasst werden. Die romanischen Formulierungen der Ziffer legen diese Interpretation ebenfalls nahe, übernimmt die Invalidenversicherung doch medizinische Massnahmen, wenn die genannten Symptome "ont été diagnostiqués et traités comme tels" ("per quanto esse siano state diagnosticate e curate come tali"). Demnach enthält die genannte Ziffer nicht nur ein zeitliches Element, indem Diagnose und Behandlung vor vollendetem 9. Altersjahr erfolgen müssen, sondern zusätzlich ein qualitatives: Die zu behandelnden Leiden müssen "bereits" diagnostiziert worden sein und "als solche" (eines POS) behandelt werden. Solange demnach eine Diagnose fehlt, werden die entsprechenden Störungen wohl allenfalls behandelt, sind aber noch nicht als solche eines kongenitalen POS diagnostiziert und fallen daher noch nicht unter die Leistungspflicht der IV gemäss Ziff. 404 GgV Anhang.
3.5 Dieser auf dem Wortlaut beruhenden Auslegung wird auch der Charakter des kongenitalen POS gerecht. Das POS ist ein komplexes Leiden. Damit die Voraussetzungen für dessen Diagnose erfüllt sind, müssen kumulativ eine Reihe von Symptomen nachgewiesen sein (BGE 122 V 117 Erw. 2f; Rz 404.5 KSME): Störungen des Verhaltens im Sinne krankhafter Beeinträchtigungen der Affektivität oder der Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens (perzeptive, kognitive oder Wahrnehmungsstörungen), der Konzentrations- sowie der Merkfähigkeit. Bei allen diesen Symptomen handelt es sich um nicht leicht fass- und messbare Elemente. Obwohl sie zu einem Geburtsgebrechen gehören können, treten sie nicht schon bei Säuglingen, sondern erst in den nachfolgenden Lebensjahren in unterschiedlicher Schwere und zu unterschiedlichen Zeitspannen auf. In vielen Fällen, in welchen schlussendlich ein POS diagnostiziert wird, sind anfänglich nur einzelne der genannten Symptome augenfällig und führen bereits zu Behandlungen, welche mangels ausdrücklicher POS-Diagnose von der Krankenkasse oder gegebenenfalls von der IV, jedoch nicht unter Ziff. 404 GgV Anhang, übernommen werden. Solange die Symptomatik nicht eine minimale Schwere erreicht, fällt sie (noch) nicht unter die erwähnte Ziffer. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die vor der Diagnosestellung aufgetretenen Leiden im Sinne von Art. 13 Abs. 2 Satz 2 IVG noch von geringfügiger Bedeutung und daher von IV-Leistungen - jedenfalls gemäss Ziff. 404 GgV Anhang - ausgeschlossen sind (vgl. BGE 129 V 87 Erw. 5.1 in fine).
3.6 Nach dem Gesagten steht fest, dass das Datum der erstmaligen gestellten Diagnose gemäss Ziff. 404 GgV Anhang eine Anspruchsvoraussetzung nicht nur in dem Sinne darstellt, als sie vor dem 9. Altersjahr erfolgt sein muss, sondern auch einen allfälligen Leistungsbeginn der IV festlegt. Die Eigenheiten der Krankheit POS lassen eine derartige Auslegung von Ziff. 404 GgV Anhang als sachgerecht erscheinen. Denn so lange eine Diagnose fehlt, ist anzunehmen, dass die Symptomatik (noch) nicht die für den Beginn der IV-Leistungspflicht notwendige Mindestschwelle überschritten hat. Zudem ist diese Regelung für die Rechtsanwendung einfach zu handhaben, da das Datum der Diagnose einen an Hand der Akten leicht bestimmbaren Zeitpunkt darstellt, nachträgliche Beweisführungen über eine diagnoselose Zeitspanne entbehrlich werden und sich so Unsicherheiten über den Leistungsbeginn der IV vermeiden lassen. Solange keine POS-Diagnose vorliegt, hat die IV keine medizinischen Massnahmen unter Ziff. 404 GgV Anhang zu übernehmen. Ebenso kann sie nach einmal gestellter Diagnose nicht verpflichtet werden, für vor dem Diagnosedatum liegende Zeitspannen Leistungen nach dieser Ziffer zu erbringen. Damit erweist sich der von der Vorinstanz kritisierte 2. Satz von Rz 404.6 KSME (Erw. 2 hievor in fine) als gesetzmässig.
3.7 Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der jüngsten Rechtsprechung. In BGE 129 V 207 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht im Zusammenhang mit den Geburtsgebrechen nach Ziff. 395 (leichte cerebrale Bewegungsstörungen mit Behandlung bis Ende des 2. Lebensjahres) und 494 (Neugeborene mit einem Geburtsgewicht unter 2000 g bis zur Erreichung eines Gewichts von 3000 g) GgV Anhang festgehalten, dass zwischen zeitlich limitierten und nicht limitierten Geburtsgebrechen zu unterscheiden ist (BGE 129 V 210 Erw. 3.3). Die zeitliche Begrenzung der Leistungspflicht findet ihre Begründung auch im Lichte des Geringfügigkeitsaspektes (Art. 13 Abs. 2 in fine IVG). Damach kann der Bundesrat die Leistung ausschliessen, wenn das Leiden von geringfügiger Bedeutung ist (Erw. 3.1). Diese Einschränkung lässt sich sinngemäss auch auf vor dem Zeitpunkt der Diagnosestellung liegende Behandlungen von einzelnen Symptomen des POS anwenden.
4.
Etwas anderes lässt sich schliesslich auch nicht aus BGE 120 V 89 ableiten. In jenem Fall ging es um die Anwendung von Ziff. 210 GgV Anhang (prognathia inferior congenita). Diese Bestimmung betrifft ein anderes Gebrechen, bei welchem insbesondere keine Diagnosestellung als Anspruchsvoraussetzung verlangt wird. Das dort Gesagte lässt sich daher nicht auf das POS übertragen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 8. Juli 2003 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen, der IV-Stelle des Kantons St. Gallen und A.________ zugestellt.
Luzern, 19. August 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: