Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
H 60/02
Urteil vom 30. November 2004
I. Kammer
Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Lustenberger, Schön und Frésard; Gerichtsschreiberin Berger Götz
Parteien
1. S.________,
2. Z.________,
Beschwerdeführer, beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ueli Kieser, Ulrichstrasse 14, 8032 Zürich,
gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich,
Winterthur
(Entscheid vom 21. Januar 2002)
Sachverhalt:
A.
S.________ und Z.________ sind am 23. Januar 1993 mit ihrer Tochter Y.________, geboren 1976, aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz eingereist. Seit November 1992 leidet Y.________ an einer subakuten, sklerosierenden Panenzephalitis. Am 13. März 2000 haben S.________ und Z.________ die Ausgleichskasse des Kantons Zürich um Anrechnung von Betreuungsgutschriften für die Pflege ihrer Tochter ersucht. Mit Verfügung vom 14. Juni 2000 lehnte die Ausgleichskasse das Gesuch mit der Begründung ab, sie habe den Antrag von Y.________ auf Hilflosenentschädigung der AHV/IV am 27. Juni 1994 abgewiesen, weshalb auch kein Anspruch auf Anrechnung von Betreuungsgutschriften bestehe.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde, mit welcher S.________ und Z.________ die Anrechnung von Betreuungsgutschriften ab 1. Januar 1995 beantragen liessen, wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Entscheid vom 21. Januar 2002).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lassen S._______ und Z._______ das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren wiederholen; ferner lassen sie um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen.
Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Vernehmlassung. Das Bundesamt für Sozialversicherung beantragt die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, sofern sich herausstelle, dass Y.________ Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung habe und bereits früher gehabt hätte.
D.
Am 30. November 2004 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine parteiöffentliche Beratung durchgeführt.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der Alters- und Hinterlassenenversicherung geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 14. Juni 2000) eingetretenen Sachverhalt abstellt, sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen). Aus demselben Grund finden die per 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des IVG vom 21. März 2003 und der IVV vom 21. Mai 2003 (4. IV-Revision) sowie die damit einhergehenden Anpassungen des ATSG keine Berücksichtigung.
2.
Gemäss dem mit der 10. AHV-Revision am 1. Januar 1997 in Kraft getretenen Art. 29septies Abs. 1 AHVG haben Versicherte, welche im gemeinsamen Haushalt Verwandte in auf- oder absteigender Linie oder Geschwister mit einem Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der AHV oder IV für mindestens mittlere Hilflosigkeit betreuen, Anspruch auf Anrechnung einer Betreuungsgutschrift (Satz 1). Sie müssen diesen Anspruch jährlich schriftlich anmelden (Satz 2).
Wird der Anspruch auf Betreuungsgutschrift nicht innert fünf Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres angemeldet, in welchem eine Person betreut wurde, so wird die Gutschrift für das betreffende Jahr nicht mehr im individuellen Konto vermerkt (Art. 29septies Abs. 5 AHVG).
3.
Die Beschwerdeführer haben ihren Anspruch auf Anrechnung von Betreuungsgutschriften am 13. Mai 2000 bei der Ausgleichskasse geltend gemacht. Streitig und zu prüfen ist der Anspruch für die Jahre 1995 bis 2000. Die Frage, ob für die auf das Jahr 2000 folgenden Jahre Betreuungsgutschriften angerechnet werden können, bildet nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens, weil der Anspruch nur für die letzten fünf Jahre geltend gemacht werden kann (Art. 29septies Abs. 5 AHVG) und jährlich neu angemeldet werden muss (Art. 29septies Abs. 1 Satz 2 AHVG).
4.
4.1 Auf Grund der Akten steht fest, dass Y.________ vor ihrer Einreise in die Schweiz (23. Januar 1993) im November 1992 erkrankte. Die Ausgleichskasse hat gestützt darauf mit Verfügung vom 27. Juni 1994 den Anspruch von Y.________ auf Invalidenrente und Hilflosenentschädigung abgelehnt, weil sie bei Eintritt der Invalidität (Art. 4 Abs. 2 IVG) noch kein Jahr in der Schweiz Wohnsitz bzw. noch kein Jahr Beiträge geleistet hatte (Art. 6 IVG in der bis 31. Dezember 2000 gültig gewesenen, vorliegend massgebenden Fassung: nachfolgend Art. 6 aIVG).
4.2 Das IVG hat seit Erlass dieses Verwaltungsaktes insofern eine Änderung erfahren, als die in Art. 6 Abs. 1 IVG für den Leistungsanspruch vorausgesetzte Versicherungsklausel, wonach nur die bei Eintritt der Invalidität (=Versicherungsfall) versicherten Personen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung haben, auf den 1. Januar 2001 dahingefallen ist (mit der Änderung des AHVG vom 23. Juni 2000 einhergehende Änderung des IVG; AS 2000 2677 ff.; vgl. auch BBl 1999 5000 f. und Alessandra Prinz, Aufhebung der Versicherungsklausel für die ordentlichen Invalidenrenten - Folgen im Bereich der internationalen Abkommen, in: Soziale Sicherheit 2001, S. 42 f.). Laut Abs. 4 der dazugehörenden Übergangsbestimmungen (AS 2000 2683) können Personen, denen keine Rente zustand, weil sie im Zeitpunkt der Invalidität nicht versichert waren, verlangen, dass ihr Anspruch auf Grund der neuen Bestimmungen überprüft wird (Satz 1); ein Anspruch auf eine Rente entsteht aber frühestens mit dem Inkrafttreten dieser Bestimmung (Satz 2). Entsprechendes gilt für die Hilflosenentschädigung. Vorliegend bedeutet dies, dass der Anspruch der Y.________ auf eine Hilflosenentschädigung für mittlere Hilflosigkeit - entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer - jedenfalls nicht vor dem Wegfall der Versicherungsklausel am 31. Dezember 2000 entstehen konnte.
5.
Das Gesetz ist in erster Linie nach seinem Wortlaut auszulegen. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zwecks, des Sinnes und der dem Text zu Grunde liegenden Wertung. Wichtig ist ebenfalls der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt. Vom klaren, d.h. eindeutigen und unmissverständlichen Wortlaut darf nur ausnahmsweise abgewichen werden, u.a. dann nämlich, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte der Bestimmung, aus ihrem Grund und Zweck oder aus dem Zusammenhang mit andern Vorschriften ergeben (BGE 130 II 71 Erw. 4.2, 130 V 50 Erw. 3.2.1, 232 Erw. 2.2, 129 V 284 Erw. 4.2, je mit Hinweisen).
6.
6.1 Dem Wortlaut der deutschen Fassung des Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG nach muss die betreute Person Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung der Alters- und Hinterlassenen- oder der Invalidenversicherung für mindestens mittlere Hilflosigkeit haben. Dass sie die Hilflosenentschädigung auch tatsächlich bezieht, damit der versicherten Person Betreuungsgutschriften gewährt werden können, ergibt sich nicht aus dem Gesetzestext. Die französische wie die italienische Fassung gehen, entgegen dem deutschen Text, davon aus, dass die betreute Person die Hilflosenentschädigung tatsächlich empfangen muss, damit der versicherten Person Betreuungsgutschriften angerechnet werden können.
6.2 Gemäss BGE 126 V 435 ist der deutsche Wortlaut des Art. 29septies Abs. 1 Satz 1 AHVG massgebend. Für die Anrechenbarkeit von Betreuungsgutschriften genügt folglich der Anspruch auf Hilflosenentschädigung für mindestens mittlere Hilflosigkeit. Der Bezug wird nicht vorausgesetzt. Dieses Auslegungsergebnis entspricht dem Sinn und Zweck von Art. 29septies AHVG, welcher darin besteht, die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger, die regelmässig zu einer Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten führt, als fiktives Einkommen bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen und damit zu verhindern, dass die unentgeltliche Verrichtung von Betreuungsarbeit für nahe Angehörige den individuellen Rentenanspruch schmälert (Amtl. Bull. 1993 N 209; Thomas Locher, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2003, § 48 N 30 f.). Die Anrechnung von Betreuungsgutschriften ist für die Pflege von Personen vorgesehen, die für die alltäglichen Lebensverrichtungen so sehr der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedürfen, dass bei ihnen die Anspruchsvoraussetzungen für eine Hilflosenentschädigung der Alters- und Hinterlassenen-, der Invaliden- oder der Unfallversicherung (BGE 127 V 113) erfüllt sind. Mit dem Erfordernis der Hilflosigkeit mittleren Grades der betreuten Person wird das Vorliegen eines Mindestmasses an Pflegebedürftigkeit sowie gleichzeitig eines Mindestmasses an zeitlichem Pflegeaufwand sichergestellt (BGE 126 V 440 Erw. 3d).
6.3 Die in Art. 29septies Abs. 1 AHVG statuierte Voraussetzung, wonach die betreute Person Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für mindestens mittlere Hilflosigkeit haben muss, bezweckt einzig, den Kreis der Personen, deren Pflege das Anrecht auf Betreuungsgutschriften nach sich zieht, klar einzugrenzen und aufwändige Abklärungen zu vermeiden (Amtl. Bull. 1993 N 215; BGE 126 V 440 Erw. 3b). Massgebliches Abgrenzungskriterium bildet dabei der Grad der Hilflosigkeit, welcher den Betreuungsaufwand definiert. Nicht relevant ist unter diesem Blickwinkel, ob die betreute Person bei Eintritt der Invalidität gegen die Folgen der Invalidität versichert war. Eine andere als diese teleologische Betrachtungsweise würde zu einer nicht gewollten und sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung führen zwischen den Versicherten, welche eine Person betreuen, die Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit (mindestens) mittleren Grades hat und denjenigen Versicherten, welche eine Person betreuen, die ausser der Versicherungsklausel alle anderen Anspruchsvoraussetzungen zum Bezug einer Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit (mindestens) mittleren Grades erfüllt, weil Pflegebedürftigkeit und Pflegeaufwand in beiden Fällen gleich gross sind. Die Erfüllung oder Nichterfüllung der Versicherungsklausel durch die betreute Person vermag ebenso wenig wie der Umstand, dass die betreute Person die Hilflosenentschädigung bezieht oder darauf lediglich einen Anspruch hat (BGE 126 V 441 Erw. 4a), etwas am Ausmass der Pflegebedürftigkeit und am Pflegeaufwand zu ändern. Erfüllt die betreute Person die Versicherungsklausel gemäss Art. 6 aIVG nicht, kann die Verwaltung bezüglich des Ausmasses der Hilflosigkeit dennoch - und mit den gleichen Massnahmen, die sie bei Personen, welche die Versicherungsklausel erfüllen, treffen würde - die notwendigen Abklärungen vornehmen. Die Abgrenzungsschwierigkeiten gestalten sich gleich. Im Streitfall hat das Gericht das Ergebnis der Abklärungen jeweils vorfrageweise im Rahmen der Prüfung des Anspruchs auf Betreuungsgutschriften zu beurteilen.
Durch die Betreuungsgutschriften soll die mit der Sorge für pflegebedürftige Angehörige verbundene Arbeit auf eine angemessene Weise Berücksichtigung finden, damit die betreuende Person, welche durch die Übernahme von Pflegearbeit ihre Erwerbsmöglichkeiten einschränkt, keine Renteneinbusse in Kauf nehmen muss. Mit dieser Motivation, welche hinter der Einführung der Betreuungsgutschriften durch den Gesetzgeber steht, ist es nicht vereinbar, die Anrechnung der Gutschriften von der Erfüllung der Versicherungsklausel durch die pflegebedürftige Person abhängig zu machen.
6.4 Der gleiche Schluss drängt sich mit Blick auf die zwischen Erziehungs- (Art. 29sexies AHVG) und Betreuungsgutschriften bestehenden Ähnlichkeiten und Wechselwirkungen auf. So kann es vorkommen, dass Betreuungsgutschriften auf Erziehungsgutschriften folgen, sobald das betreute Kind das 16. Altersjahr erreicht. Es besteht kein Grund, der Person, welche ein (mindestens) in mittlerem Grad hilfloses Kind betreut, Erziehungsgutschriften anzurechnen, ihr aber, nachdem das Kind das 16. Altersjahr erreicht hat, den Anspruch auf Betreuungsgutschriften zu versagen, nur weil das Kind die Versicherungsklausel nicht erfüllt.
7.
Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Anspruch der Y.________ auf eine Hilflosenentschädigung für mittlere Hilflosigkeit jedenfalls nicht vor dem Wegfall der Versicherungsklausel am 31. Dezember 2000 entstehen konnte. Wird auf den Wortlaut des Art. 29septies Abs. 1 AHVG ("Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung") abgestellt, folgt bereits aus der Nichterfüllung der Versicherungsklausel durch das betreute Kind die Verneinung eines Anspruchs auf Anrechnung von Betreuungsgutschriften für die Eltern. Dieses Ergebnis widerspricht nach den vorstehenden Ausführungen dem wahren Sinn der Bestimmung. Art. 29septies Abs. 1 AHVG ist daher entsprechend seinem Grund und Zweck so zu verstehen, dass die Nichterfüllung der Versicherungsklausel durch die betreute Person die Anrechnung von Betreuungsgutschriften nicht ausschliesst. Die Sache ist demgemäss an die Ausgleichskasse zurückzuweisen, damit sie die übrigen Voraussetzungen prüfe und hernach über die Anrechnung von Betreuungsgutschriften im massgebenden Zeitraum (Erw. 3 hiervor) neu verfüge.
8.
Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht den Beschwerdeführern eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG); damit erweist sich ihr Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung als gegenstandslos.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 21. Januar 2002 und die Verwaltungsverfügung vom 14. Juni 2000 aufgehoben werden und die Sache an die Ausgleichskasse des Kantons Zürich zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über das Gesuch der Beschwerdeführer vom 13. März 2000 um Anrechnung von Betreuungsgutschriften neu verfüge.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die Ausgleichskasse des Kantons Zürich hat den Beschwerdeführern für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der IV-Stelle des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 30. November 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: