Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
B 1/03
Urteil vom 16. Dezember 2004
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichter Rüedi und Meyer; Gerichtsschreiber Grunder
Parteien
G.________, 1945, wohnhaft in Italien, Beschwerdeführer, vertreten durch das Behindertenforum, Rechtsdienst für Behinderte, Klybeckstrasse 64, 4057 Basel,
gegen
Stiftung X.________, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Advokatin Sarah Brutschin,
Henric Petri-Strasse 19, 4051 Basel
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn
(Entscheid vom 19. November 2002)
Sachverhalt:
A.
Der 1945 geborene G.________ arbeitete als Monteur in der Metallbaubranche ab 1. Oktober 1991 bei der D.________ AG und war dadurch bei der am selben Ort domizilierten Stiftung X.________ (nachfolgend: Stiftung) berufsvorsorgerechtlich versichert. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 25. Februar 1992 auf den 31. März 1992. Nachdem G.________ am 12. März 1992 während der Arbeit den rechten Ellenbogen an einem metallenen Gegenstand angeschlagen hatte, entwickelte sich eine Epikondylopathie lateralis rechts, die ärztliche Behandlung (namentlich eine am 21. August 1992 operativ durchgeführte Denervation des Epicondylus radialis) notwendig machte. G.________ war ab 20. März bis 26. April, vom 22. Juni bis 12. Juli und ab 14. August 1992 vollständig arbeitsunfähig. Eine im März 1993 im zeitlichen Umfang von 50 % aufgenommene, weniger belastende Arbeit gab er wegen zunehmenden multiplen gesundheitlichen Beschwerden im Herbst 1994 auf. Danach war er nicht mehr erwerbstätig. Am 23. September 1993 meldete er sich zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Eine von der IV-Stelle bewilligte Umschulung zum technischen Kaufmann brach der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen ab. Die Verwaltung holte eine Expertise des Zentrums für Medizinische Begutachtung (ZMB) vom 26. Januar 1998 ein, wonach der Versicherte an einer dissoziativen Sensibilitäts- und Empfindungsstörung (ICD-10 F44.6), chronischem Schmerzsyndrom am rechten Ellenbogen, reaktivem tendomyotischen Syndrom im Schulter-Nackenbereich und Schmerzsyndrom an beiden unteren Extremitäten nach Varizenstripping der Vena saphena beidseits leidet. Die Ärzte schätzten die Arbeitsunfähigkeit in einer intellektuell nicht allzu anforderungsreichen, leichten manuellen Tätigkeit auf 50 % ein, wobei vorwiegend die psychopathogenen Befunde massgeblich waren. Mit Verfügungen vom 20. November 1998 sprach die IV-Stelle G.________ eine ganze Rente der Invalidenversicherung (nebst Zusatzrente für die Ehefrau) bei einem ermittelten Invaliditätsgrad von 70 % mit Beginn ab 1. August 1993 zu.
Die Stiftung lehnte das Gesuch um Ausrichtung von Invalidenleistungen im Rahmen der obligatorischen beruflichen Vorsorge und des Reglementes vom November 1986 mit Schreiben vom 18. August 2000 und 20. November 2001 ab.
B.
G.________ liess am 30. Januar 2002 beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Klage einreichen mit den Rechtsbegehren, es seien ihm die gesetzlich und reglementarisch geschuldeten Leistungen zuzusprechen, zuzüglich Zins zu 5 % ab Klageeinreichung, und er sei von der Beitragspflicht für Sparbeiträge an das Altersguthaben zu befreien. Das kantonale Gericht hiess die Klage insoweit teilweise gut, als es im Rahmen des Berufsvorsorgeobligatoriums dem Kläger eine Invalidenrente von jährlich Fr. 9532.40 ab 1. März 1993, Fr. 9837.40 ab 1. Januar 1997, Fr. 9886.60 ab 1. Januar 1999 und Fr. 10'153.60 ab 1. Januar 2001 zusprach, zuzüglich Zins zu 5 % ab 30. Januar 2002, und den Versicherten von der Beitragspflicht gegenüber der Stiftung X.________ mit Wirkung ab 1. Juni 1992 befreite; im Übrigen wies es die Klage ab (Entscheid vom 19. November 2002).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt G.________ beantragen, "in teilweiser Abänderung des Urteils vom 19.11.2002 seien dem Beschwerdeführer ab dem 01.03.1993 nebst den obligatorischen auch die reglementarischen Ansprüche aus der beruflichen Vorsorge zu gewähren".
Die Stiftung erhebt die Einrede der Verjährung und beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde für sämtliche vor dem 30. Januar 1997 entstandenen Forderungen. Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Im Rahmen eines weiteren Schriftenwechsels hat das Eidgenössische Versicherungsgericht dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, zu der von der Stiftung erklärten Einrede der Verjährung Stellung zu nehmen. Davon wurde mit Eingabe vom 9. März 2004 Gebrauch gemacht.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat in teilweiser Gutheissung der Klage vom 30. Januar 2002 die Stiftung dazu verpflichtet, dem Beschwerdeführer mit Wirkung ab 1. März 1993 die vollen Invalidenleistungen auf der Grundlage des nach den Regeln des BVG zu ermittelnden Altersguthabens (Art. 15 und Art. 24 BVG ) auszurichten. Nachdem auf Grund der Verwaltungsgerichtsbeschwerde des G.________ nur Ansprüche aus weitergehender Vorsorge streitig sind, ist die Anspruchsberechtigung nach BVG nicht zu prüfen. Im Urteil O. vom 11. Oktober 2004, B 40/04, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in diesem Sinne entschieden, weil es sich bei der Invalidenrentenberechtigung aus obligatorischer und weitergehender beruflicher Vorsorge um zwei verschiedene Rechtsverhältnisse handelt. Das hat hier auch unter dem Gesichtspunkt der von der Stiftung erhobenen Einrede der Verjährung zu gelten.
2.
Streitig ist daher einzig, ob auf Grund des hier intertemporalrechtlich fraglos anwendbaren Reglementes vom November 1986 der Anspruch auf Leistungen bei Invalidität, welche erst nach Beendigung des Vorsorgeverhältnisses eingetreten ist, auf das obligatorisch zu versichernde Minimum nach BVG eingeschränkt wird, was die Vorinstanz annimmt, der Beschwerdeführer dagegen bestreitet. Von vornherein nicht beigepflichtet werden kann dem Beschwerdeführer, soweit er einer Anwendung des Reglementes vom 8. Dezember 1997, welches im streitigen Punkt eine materiellrechtlich abweichende Lösung vorsieht, das Wort redet, was einer unzulässigen Vorwirkung gleichkäme.
2.1 Nach den Erwägungen im angefochtenen Entscheid sieht Art. 25 Ziffer 2 des Stiftungsreglementes, im Gegensatz zu Ziffer 1 dieser Bestimmung, nur einen Anspruch auf Leistungen gemäss BVG vor für den Fall, dass der Versicherte innert der Nachdeckungsfrist oder bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses zwar bereits vollständig oder teilweise arbeitsunfähig, nicht jedoch invalid gewesen sei. Daher habe der Beschwerdeführer, der zwar arbeitsunfähig geworden aber noch nicht invalid gewesen sei, keine über das BVG hinausgehenden Ansprüche.
Demgegenüber bringt der Beschwerdeführer vor, die vorinstanzliche Auslegung von Art. 25 des Reglementes schränke den Kreis der Anspruchsberechtigten auf weitergehende Leistungen der beruflichen Vorsorge derart ein, dass praktisch niemand mehr davon profitieren könne. Die Bestimmung sei unklar und daher nach dem Grundsatz von Treu und Glauben so auszulegen, wie sie vom Empfänger verstanden werden durfte.
2.2 Nach Lehre und Rechtsprechung wird das Rechtsverhältnis zwischen einer Vorsorgeeinrichtung und dem Vorsorgenehmer im Bereich der weitergehenden (vor-, über- und unterobligatorischen) beruflichen Vorsorge nicht durch einen Versicherungsvertrag im Sinne des VVG, sondern durch einen sog. Vorsorgevertrag begründet, der als Innominatkontrakt (sui generis) zu bezeichnen ist. Als solcher untersteht er in erster Linie den allgemeinen Bestimmungen des OR. Das Reglement stellt den vorformulierten Inhalt des Vorsorgevertrages, d.h. dessen Allgemeine Bedingungen dar, denen sich der Versicherte ausdrücklich oder durch konkludentes Verhalten unterzieht; gegebenenfalls können individuelle Abmachungen hinzutreten. Es ist nach dem Vertrauensprinzip auszulegen, wobei jedoch die den Allgemeinen Bedingungen innewohnenden Besonderheiten zu beachten sind, wie insbesondere die sog. Unklarheits- und Ungewöhnlichkeitsregeln (BGE 116 V 222 Erw. 2), wonach mehrdeutige Wendungen in vorformulierten Vertragsbedingungen im Zweifel zu Lasten jener Partei auszulegen sind, die sie verfasst hat (BGE 124 III 158 Erw. 1b mit Hinweisen).
2.3 Im Abschnitt F. Vorzeitige Auflösung des Arbeitsverhältnisses enthält das Stiftungsreglement Bestimmungen über den Anspruch auf Freizügigkeitsleistungen (Art. 23), deren Höhe (Art. 24) und in Art. 25 solche über die Nachdeckung/Nachhaftung, wo Folgendes vereinbart ist:
1.
Die im Zeitpunkt der Auflösung des Arbeitsverhältnisses versicherten Leistungen bei Tod und Invalidität bleiben unverändert versichert bis zum Beginn eines neuen Arbeitsverhältnisses, längstens aber während 30 Tagen. Während der Nachdeckungsfrist entstehende Ansprüche werden um bereits gewährte Freizügigkeitsleistungen gekürzt.
2.
War eine versicherte Person im Zeitpunkt der Auflösung des Arbeitsverhältnisses oder bei Ablauf der Nachdeckungsfrist nicht voll arbeitsfähig, so bleibt der Anspruch auf Invaliditäts- und Todesfallleistungen nach den Bestimmungen des BVG gewahrt.
2.4 Nach der Formulierung von Art. 25 Stiftungsreglement soll der Anspruch der versicherten Person auf Invaliditäts- und Todesfallleistungen dann "nach den Bestimmungen des BVG" gewährt werden, wenn sie im Zeitpunkt der Auflösung des Arbeitsverhältnisses (und damit des Vorsorgevertrages) oder bei Ablauf der vertraglichen Nachdeckungsfrist von 30 Tagen "nicht voll arbeitsfähig" war. Diese Bezugnahme auf den Zustand "nicht voll arbeitsfähig" ist zwar missverständlich und kann zweierlei bedeuten: Entweder wollte die Stiftung die im massgeblichen Zeitpunkt teilweise arbeitsunfähige, aber noch nicht invalide Person in der Zukunft nur mit (allfälligen) Invaliditäts- oder Todesfallleistungen nach den obligatorischen Vorschriften des BVG versichern. Gegen diese vorinstanzliche Interpretation spricht, dass in Art. 25 Stiftungsreglement dem Wortlaut nach nicht zwischen Arbeitsunfähigkeit und Invalidität unterschieden wird, wie aus der Formulierung "nicht voll arbeitsfähig" deutlich hervorgeht. Denn nach den Bestimmungen des BVG wird für die Leistungspflicht nur vorausgesetzt, dass ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen der während der Vorsorgezeit eingetretenen Arbeitsunfähigkeit und der später eingetretenen Invalidität besteht (Art. 23 BVG; BGE 123 V 264 Erw. 1c, 120 V 117 f. Erw. 2c/aa und bb mit Hinweisen). Daher liesse sich auch die Auffassung vertreten, die Stiftung habe die fraglichen Leistungen nur insoweit auf das gesetzliche Obligatorium beschränken wollen, als die versicherte Person im Zeitpunkt der Auflösung oder bei Ablauf der Nachdeckungsfrist noch nicht arbeitsunfähig geworden war.
2.5 Indessen ist aus dieser Mehrdeutigkeit als solcher noch nicht der Schluss zu ziehen, dass Art. 25 des Reglementes im Sinne der Unklarheitsregel zu Lasten der Stiftung auszulegen sei. Vielmehr ist bei der Interpretation auch der privatrechtlich geregelten Vorsorgeansprüche insbesondere der Gleichbehandlungsgrundsatz zu berücksichtigen (vgl. hiezu BGE 115 V 109 Erw. 4b und seitherige Rechtsprechung; zuletzt bestätigt bezüglich einer privatrechtlichen Vorsorgeeinrichtung in BGE 120 V 312 sowie SZS 2004 S. 437 Erw. 3.1, je mit Hinweisen; vgl. auch BGE 120 Ib 202 Erw. 3c). Träfe die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geäusserte Auffassung zu, dass der bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses (einschliesslich Ablauf der Nachdeckungszeit) voll arbeitsunfähigen, aber noch nicht berenteten Person nach späterem Eintritt der Invalidität ein Anspruch auf eine reglementarische Invaliditätsleistung erwüchse, würden solche Versicherte ungleich besser gestellt als die Teilarbeitsfähigen, welche für alle nach Ausscheiden aus der Vorsorgeeinrichtung entstehenden Rentenansprüche (oder Rentenerhöhungen) nach insoweit eindeutiger Vorschrift gemäss Art. 25 Ziff. 2 Stiftungsreglement auf das BVG-Minimum verwiesen sind. Für eine solche Differenzierung nach dem Ausmass der beim Austritt aus der Vorsorgeeinrichtung vorgelegenen Arbeitsunfähigkeit besteht kein sachlicher Grund, und zwar umso weniger als auch der vollständig Arbeitsunfähige - im Wortsinn des Stiftungsreglementes - als "nicht voll arbeitsfähig" bezeichnet werden kann. Aus diesen auslegungsmässigen Erwägungen heraus dringt die Berufung auf die Unklarheitsregel nicht durch. Art. 25 Ziff. 2 des Reglementes von 1986 enthält mit seiner Beschränkung der nach Beendigung des Vorsorgeverhältnisses (einschliesslich Nachdeckungszeit) entstehenden Invalidenrentenansprüche auf das gesetzliche BVG-Minimum eine Lösung, welche viele Vorsorgeeinrichtungen kennen und deren Rechtmässigkeit das Eidgenössische Versicherungsgericht stets bejaht hat (z.B. SZS 1997 S. 557 ff. mit Hinweisen). Mit Art. 25 Ziff. 1 des Reglementes schliesslich hat die streitige Regelung nichts zu tun (vgl. dazu BGE 125 V 171), weshalb die Berufung darauf nicht durchdringt.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 16. Dezember 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: