BGer 5P.437/2004
 
BGer 5P.437/2004 vom 17.12.2004
Tribunale federale
{T 0/2}
5P.437/2004 /bnm
Urteil vom 17. Dezember 2004
II. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Escher, Bundesrichter Meyer,
Gerichtsschreiber Möckli.
Parteien
Z.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Rolf Wyss,
gegen
Y.________ (Deutschland),
Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwältin Marlene Zeier-Aegerter,
Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, Postfach, 8023 Zürich.
Gegenstand
Kindesentführung,
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, vom 12. November 2004.
Sachverhalt:
A.
Z.________ (Beschwerdeführerin) und Y.________ (Beschwerdegegner) haben zwei gemeinsame Kinder, nämlich X.________, geboren am 1. September 1992, und W.________, geboren am 12. September 1993. Am 29. Januar 2001 wurde die Ehe in Deutschland rechtskräftig geschieden. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht wurde dem Beschwerdegegner übertragen, die elterliche Sorge verblieb bei beiden Eltern. Die beiden Söhne lebten in Deutschland beim Vater zusammen mit dessen zweiter Ehefrau und deren Kindern. Die Sommerferien 2004 verbrachten die beiden Söhne in der Schweiz bei der Mutter. Diese unterliess es in der Folge, die Kinder wieder zum Vater zurückzubringen. Seither halten sich die Kinder bei der Beschwerdeführerin an deren Wohnsitz in A.________ auf. Diese hat sie in A.________ einschulen lassen.
B.
Am 13. September 2004 stellte der Beschwerdegegner bei der Einzelrichterin im summarischen Verfahren des Bezirks Meilen das Begehren, es sei die Beschwerdeführerin unter Androhung von Zwangsmassnahmen und Bestrafung wegen Ungehorsams zu verpflichten, die Kinder unverzüglich an den vormaligen Ort ihres gewöhnlichen Aufenthaltes in Deutschland zurückzuführen bzw. es sei die Beschwerdeführerin zu verpflichten, die Söhne dem Beschwerdegegner zur Rückführung zu übergeben. Die Einzelrichterin zog superprovisorisch die Reisepässe der Kinder ein und befahl der Beschwerdeführerin am 28. September 2004, die beiden Kinder innert 30 Tagen ab Rechtskraft der Verfügung nach Deutschland zurückzubringen oder zurückbringen zu lassen.
Gegen diese Verfügung erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Rekurs beim Obergericht des Kantons Zürich. Dieses wies den Rekurs am 12. November 2004 ab und beschloss was folgt:
"2. Der Beschwerdeführerin wird befohlen, die Kinder X.________, geb. 1. September 1992, und W.________, geb. 12. September 1993, innert 15 Tagen ab Rechtskraft dieses Beschlusses nach Deutschland zurückzubringen oder zurückbringen zu lassen, unter der Androhung der Bestrafung wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung im Sinne von Art. 292 StGB (Bestrafung mit Haft oder Busse) im Widerhandlungsfall.
3. Werden X.________ und W.________ nicht innert 15 Tagen nach Eintritt der Rechtskraft dieses Beschlusses durch die Beklagte nach Deutschland überführt, so wird das Gemeindeammannamt A.________ angewiesen, auf erstes Ersuchen des Klägers die Kinder zwangsweise (falls erforderlich mit Hilfe der Polizei) an der Landesgrenze der zuständigen deutschen Behörde zuzuführen.
4. Die zentrale Behörde für internationale Kindesentführungen (Bundesamt für Justiz) wird ersucht, die notwendigen Kontakte der schweizerischen mit den zuständigen deutschen Behörden herzustellen und deren Bemühungen zur Überführung der Kinder zu koordinieren.
5. Die Pässe von X.________ und W.________ bleiben bis zu weiterer Anordnung bei den Akten.
6. - 9. (Kosten, Mitteilung und Rechtsmittelbelehrung)"
C.
In Deutschland ist ein Verfahren um Abänderung des Sorgerechts und des Aufenthaltsbestimmungsrechts hängig. Die Beschwerdeführerin beantragte in der Hauptsache die Übertragung des Sorgerechts und des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die beiden Kinder auf sich allein, der Beschwerdegegner begehrte im Gegenzug in der Hauptsache die Übertragung der elterlichen Sorge auf sich allein. Nach der Entführung der Kinder durch die Mutter nach den Sommerferien 2004 wurde der Beschwerdeführerin mit Beschluss des Amtsgerichts Kappeln vom 19. Juli 2004 aufgegeben, die Kinder an den Beschwerdegegner herauszugeben. Am 19. November 2004, also nach dem Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich vom 12. November 2004, beschloss das Amtsgericht Kappeln im Wege der vorläufigen Anordnung, bis zur Entscheidung in der Hauptsache das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die gemeinsamen Kinder der Parteien auf das Jugendamt des Kreises Schleswig-Flensburg zu übertragen, um damit während des Verfahrens um das Sorgerecht eine neutrale Stelle mit dem Aufenthaltsbestimmungsrecht zu betrauen. Gleichentags hat das Amtsgericht Kappeln in Abänderung des Beschlusses vom 19. Juli 2004 der Beschwerdeführerin befohlen, die gemeinsamen Kinder an das Jugendamt des Kreises Schleswig-Flensburg herauszugeben. Gegen die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts an das Jugendamt sind in Deutschland Rechtsmittel hängig.
D.
Gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 12. November 2004 hat die Beschwerdeführerin staatsrechtliche Beschwerde erhoben mit dem Antrag, der angefochtene Beschluss sei aufzuheben und die Reisepässe der Kinder seien der Beschwerdeführerin aushinzugeben. Sie begründet ihren Antrag einzig damit, dass der Klage mit dem vom Amtsgericht Kappeln am 19. November 2004 erlassenen Beschluss die Rechtsgrundlage entzogen worden sei. Das Bundesgericht habe in BGE 130 III 530 E. 2 S. 534 ausgeführt, der Rückführungsentscheid könne selbst noch im Vollstreckungsverfahren in Frage gestellt werden, wenn im Ursprungsstaat eine vom früheren Rechtszustand abweichende Sorgerechtsentscheidung ergangen sei, welche die Rückgabe hinfällig werden lasse. Mit Präsidialverfügung vom 6. Dezember 2004 erkannte der Präsident der II. Zivilabteilung der staatsrechtlichen Beschwerde die aufschiebende Wirkung hinsichtlich der angeordneten Kindesrückführung zu und verfügte, dass die Pässe der Kinder weiterhin durch das Obergericht des Kantons Zürich zu verwahren sind. In der Sache sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen und mit freier Kognition, ob und in welchem Umfang auf eine staatsrechtliche Beschwerde einzutreten ist (BGE 128 I 46 E. 1a S. 48; 129 I 173 E. 1 S. 174).
1.1 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts handelt es sich beim Verfahren betreffend die Rückführung eines Kindes im Sinne des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (SR 0.211.230.02; Haager Übereinkommen; HEntfÜ) nicht um eine Zivilrechtsstreitigkeit; vielmehr stellt das Übereinkommen eine Art administrative Rechtshilfe für den Fall von Kindesentführungen zur Verfügung. Damit kann ein letztinstanzlicher kantonaler Entscheid weder mit Berufung noch mit Nichtigkeitsbeschwerde, sondern nur mit staatsrechtlicher Beschwerde beim Bundesgericht angefochten werden (BGE 120 II 222 E. 2b S. 224; 123 II 419 E. 1a S. 421).
1.2 Bei der Staatsvertragsbeschwerde prüft das Bundesgericht Konventionsverletzungen mit freier Kognition (BGE 126 III 438 E. 3 S. 439; 128 I 354 E. 6c S. 357; 129 I 110 E. 1.3 S. 112). Dies schliesst nach zürcherischem Recht die Nichtigkeitsbeschwerde gegen eine staatsvertragliche Rechtsanwendung aus (§ 285 Abs. 1 und 2 ZPO/ZH; Frank/Streuli/Messmer, Kommentar zur zürcherischen Zivilprozessordnung, 3. Aufl., Zürich 1997, N. 16 ff. zu § 285). Insoweit ist somit der kantonale Instanzenzug erschöpft und auf die staatsrechtliche Beschwerde unter dem Aspekt ihrer relativen Subsidiarität einzutreten (Art. 86 Abs. 1 OG).
1.3 Die Beschwerdeführerin begründet ihre staatsrechtliche Beschwerde einzig mit dem Argument, der Klage sei mit der am 19. November 2004 vorgenommenen Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für die Kinder vom Beschwerdegegner auf das örtliche Jugendamt des Kreises Schleswig-Flensburg das Klagefundament entzogen worden. Sie führt damit ein neues Element in das schweizerische Verfahren ein, welches erst nach dem angefochtenen Entscheid entstanden ist. Das Bundesgericht hat indessen seinem Entscheid den Sachverhalt zugrunde zu legen, wie er willkürfrei von der obersten kantonalen Instanz festgestellt worden ist. Es gilt deshalb für die Staatsvertragsbeschwerde im Allgemeinen (BGE 128 I 354 E. 6c S. 357; 129 I 110 E. 1.3 S. 111) und diejenige wegen Verletzung des HEntfÜ im Besonderen (Entscheid 5P.263/2002 vom 31. Januar 2003 i.S. A., E. 2.4) der Grundsatz des Novenverbots. Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, es bestehe vorliegend ein Grund, der nach der Praxis des Bundesgerichts eine Ausnahme vom Novenverbot zulasse. Eine solche Ausnahme ist beim vorliegenden echten Novum auch nicht ersichtlich (vgl. dazu BGE 128 I 354 E. 6c S. 357 mit Hinweisen; Kälin, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl., Bern 1994, S. 369 f.). Auf die staatsrechtliche Beschwerde kann deshalb nicht eingetreten werden.
2.
Im Übrigen wäre die Beschwerde ohnehin auch materiell unbegründet. Das Obergericht hat im angefochtenen Entscheid die Rückführung nach Deutschland und nicht an den Aufenthaltsort des Beschwerdegegners angeordnet, was den Konventionsbestimmungen entspricht (Kegel, in: Kommentar Soergel zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 10, 12. Aufl., Stuttgart 1996, N. 109 vor Art. 19 EG BGB; Siehr, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Band 10, 3. Aufl., 1998, N. 54 Anh. II zu Art. 19 EG BGB; vgl. ferner Schmid, Neuere Entwicklungen im Bereich der internationalen Kindesentführungen, in AJP 11/2002, S. 1338). Mit der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts vom Beschwerdegegner auf das örtliche Jugendamt und dem entsprechend abgeänderten Befehl des Amtsgerichts Kappeln, die gemeinsamen Kinder nicht dem Beschwerdegegner, sondern dem Jugendamt herauszugeben, ändert sich für den vorliegenden Rückführungsentscheid nichts. Die Rückgabe an Deutschland wird damit nicht hinfällig. Nichts Gegenteiliges kann die Beschwerdeführerin aus dem von ihr zitierten BGE 130 III 530 E. 2 S. 534 ableiten, welcher davon ausgegangen ist, dass gegebenenfalls eine materielle Änderung der Rechtslage (zu denken ist insbesondere die rechtskräftige Übertragung des alleinigen Sorgerechts vom ursprünglich sorgeberechtigten Elternteil auf den Entführer) die Rückführung des Kindes gegenstandslos werden lässt.
3.
Kann auf die Beschwerde nicht eingetreten werden, trägt die Beschwerdeführerin die Verfahrenskosten (Art. 156 Abs. 1 OG; Entscheid 5P.71/2003 vom 27. März 2003 i.S. G., E. 5.1). Sie hat dem Beschwerdegegner für die Vernehmlassung zur aufschiebenden Wirkung eine reduzierte Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 500.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 17. Dezember 2004
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: