BGer 1A.252/2004
 
BGer 1A.252/2004 vom 25.02.2005
Tribunale federale
{T 0/2}
1A.252/2004 /gij
Urteil vom 25. Februar 2005
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Fonjallaz,
Gerichtsschreiberin Schoder.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Lorenz Baumann,
gegen
Kanton Zürich, vertreten durch die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle, Kaspar Escher-Haus, Postfach, 8090 Zurich,
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, Postfach, 8401 Winterthur.
Gegenstand
Opferhilfe,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich, II. Kammer, vom 21. September 2004.
Sachverhalt:
A.
X.________, geboren 1986, damals gesetzlich vertreten durch seine Mutter, reichte am 22. Juli 2003 bei der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, Kantonale Opferhilfestelle, ein Gesuch um Ausrichtung einer Entschädigung für Schulkosten im Betrag von Fr. 52'800.-- ein. Als Begründung führte er an, die an ihm verübten sexuellen Übergriffe in den Jahren 1995 und 1996 hätten zu einer schulischen Verzögerung geführt. Aufgrund seines Alters sei er nicht mehr zu den Prüfungen der kantonalen Mittelschulen zugelassen worden. Er besuche deshalb seit dem 18. August 2003 bis voraussichtlich Ende des Schuljahres 2007 eine private Mittelschule. Daraus würden sich Schulkosten in der Höhe der beantragten Entschädigung ergeben.
Die Kantonale Opferhilfestelle wies das Gesuch um Entschädigung mit Verfügung vom 5. Februar 2004 ab. Dagegen erhob die Mutter von X.________ Beschwerde ans Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich. Mit Urteil vom 21. September 2004 wies das Sozialversicherungsgericht die Beschwerde ab.
B.
X.________ erhob gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts vom 21. September 2004 Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht wegen Verletzung des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (OHG; SR 312.5). Der Beschwerdeführer beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Verfügung der Kantonalen Opferhilfestelle vom 5. Februar 2004 sowie die Anweisung an den Kanton Zürich, ihm die Schulkosten im Betrag von Fr. 52'800.-- zu ersetzen. Eventuell sei der Kanton Zürich anzuweisen, ihm einen Teil der Schulkosten zu ersetzen. Ferner beantragt der Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege für das Verfahren vor Bundesgericht.
C.
Die Kantonale Opferhilfestelle sowie das Sozialversicherungsgericht haben auf Vernehmlassung verzichtet. Das Bundesamt für Justiz als beschwerdeberechtigte Bundesverwaltungsbehörde im Sinn von Art. 110 Abs. 1 OG beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Gegen die Verweigerung der Opferhilfe steht grundsätzlich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen (BGE 125 II 230 E. 1 S. 232 f.; 122 II 211 E. 1 S. 212 f.). Das Sozialversicherungsgericht hat als letzte kantonale Instanz entschieden (Art. 98 lit. g OG). Da das Opferhilfegesetz Ansprüche auf Entschädigung vorsieht, findet der Ausschlussgrund von Art. 99 Abs. 1 lit. h OG keine Anwendung. Auf die rechtzeitig erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher einzutreten.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer beantragt den Ersatz der Kosten, die ihm durch den Besuch der Privatschule entstehen. Er stützt seinen Anspruch auf Art. 11 ff. OHG. Das Sozialversicherungsgericht geht davon aus, dass sich der geltend gemachte Anspruch auf Art. 11 Abs. 1 OHG stützt. In der Verfügung der Opferhilfestelle wird dagegen Art. 3 Abs. 4 OHG als Rechtsgrundlage erwähnt.
2.2 Fest steht, dass der Beschwerdeführer Opfer einer Straftat im Sinn von Art. 2 Abs. 1 OHG ist. Damit ist er berechtigt, die im Opferhilfegesetz vorgesehenen Hilfen zu beanspruchen.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung haben Leistungen nach Art. 3 OHG zum Zweck, die gesundheitlichen oder finanziellen Folgen der Straftat für das Opfer zu mildern, während Entschädigungsleistungen nach Art. 11 ff. OHG darauf ausgerichtet sind, die feststehenden, nicht mehr besserungsfähigen gesundheitlichen und finanziellen Beeinträchtigungen abzugelten (Bundesgerichtsurteil 1A.169/2001 vom 7. Februar 2002, E. 2.2, mit Hinweis auf Peter Gomm, Einzelfragen bei der Ausrichtung von Entschädigung und Genugtuung nach dem Opferhilfegesetz, in: Solothurnischer Juristenverein (Hrsg.), Solothurner Festgabe zum Schweizerischen Juristentag 1998, Solothurn 1998, S. 675 f.).
Im vorliegenden Fall stellt der Besuch der Privatschule keine Massnahme dar, die den gesundheitlichen oder psychischen Zustand des Beschwerdeführers verbessert. Wie der Beschwerdeführer geltend macht, erklärt sich der Besuch der Privatschule daher, dass die erlittenen sexuellen Übergriffe zu einem schulischen Rückstand führten und den rechtzeitigen Eintritt in ein öffentliches Gymnasium verunmöglichten. Der beantragte Kostenersatz für den Besuch der Privatschule stellt somit eine Leistung zum Ausgleich der finanziellen Folgen der Straftat dar. Das Sozialversicherungsgericht ist daher zu Recht davon ausgegangen, dass der beantragte Anspruch auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 1 OHG zu prüfen ist.
3.
Gesuche um Entschädigung oder Genugtuung müssen innert zwei Jahren nach der Straftat bei der Behörde eingereicht werden; andernfalls sind die Ansprüche verwirkt (Art. 16 Abs. 3 OHG). Das zürcherische Einführungsgesetz zum Opferhilfegesetz vom 25. Juni 1995 (EG OHG/ZH) sieht indessen für Opfer, die zur Zeit der Straftat minderjährig waren, eine grosszügigere Regelung vor. Gemäss § 13 lit. a dieses Gesetzes beginnt die Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG erst mit Eintritt der Volljährigkeit. Vorausgesetzt wird allerdings, dass die Straftat im Kanton Zürich begangen wurde und das Opfer sowohl im Zeitpunkt der Straftat als auch im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs im Kanton Zürich Wohnsitz hatte.
Der Beschwerdeführer wurde am 7. April 1986 geboren. Im Zeitpunkt der Einreichung des Entschädigungsgesuchs am 22. Juli 2003 war er siebzehn Jahre alt und somit noch nicht volljährig (Art. 14 ZGB). In der Zeitspanne der sexuellen Übergriffe von Mitte 1994 bis März 1995, welche in 8048 Zürich stattfanden, wohnte der Beschwerdeführer in 8048 Zürich. Im Zeitpunkt der Einreichung des Entschädigungsgesuchs am 22. Juli 2003 hatte er seinen Wohnsitz in 8908 Hedingen. Die Voraussetzungen bezüglich des Orts der Straftat sowie des Alters und des Wohnsitzes des Opfers gemäss § 13 lit. a EG OHG/ZH sind damit erfüllt, weshalb der Entschädigungsanspruch im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs nicht verwirkt war.
4.
4.1 Nach dem angefochtenen Urteil des Sozialversicherungsgerichts steht fest, dass der Beschwerdeführer nach den von Mitte 1994 bis März 1995 erfolgten sexuellen Übergriffen unter Angstzuständen, Panikattacken und Konzentrationsstörungen litt. Streitig ist hingegen, ob die verspätete Anmeldung zur Aufnahmeprüfung in die öffentliche Mittelschule auf die sexuellen Übergriffe zurückzuführen ist. Das Sozialversicherungsgericht geht davon aus, dass kein natürlicher Kausalzusammenhang zwischen der Straftat und der schulischen Verzögerung besteht. Den gegenteiligen Bericht des behandelnden Psychologen erachtet es als nicht überzeugend. Sodann kommt es zum Schluss, dass selbst wenn das Vorliegen eines natürlichen Kausalzusammenhangs bejaht werden müsste, dieser nicht rechtserheblich wäre. Der Beschwerdeführer vertritt dagegen den Standpunkt, dass die schulische Verzögerung mit den erlebten sexuellen Übergriffen in einem direkten Zusammenhang steht. Er habe auf männliche Lehrkräfte "allergisch" reagiert und unter psychischer Instabilität und fehlendem Selbstvertrauen gelitten. Die schulische Verzögerung sei auf diese beiden Faktoren, welche direkte Folge der Straftat seien, zurückzuführen.
4.2 Nach Art. 12 Abs. 1 OHG hat das Opfer Anspruch auf eine Entschädigung für den durch die Straftat erlittenen Schaden, wenn sein Einkommen die im Gesetz vorgesehene Grenze nicht übersteigt. Zwischen der Straftat und dem erlittenen Schaden muss ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang vorliegen. Der natürliche Kausalzusammenhang setzt keinen absolut wissenschaftlichen Beweis voraus. Wenn sich das Gericht nur auf eine Hypothese stützen kann, gilt der natürliche Kausalzusammenhang als bewiesen, wenn dessen Wahrscheinlichkeit als überzeugend nachgewiesen worden ist (BGE 126 V 319 E. 5a S. 322; 121 III 358 E. 5 S. 363, je mit Hinweisen). Die Frage, ob zwischen der Straftat und dem erlittenen Schaden ein natürlicher Kausalzusammenhang besteht, ist eine Tatfrage (BGE 128 III 22 E. 2d S. 25 mit Hinweisen; betreffend das OHG BGE 129 II 312 E. 3.3 S. 318). Das Bundesgericht ist an die entsprechenden Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz gebunden, wenn sie nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden sind (Art. 105 Abs. 2 OG).
4.3 Dem Bericht des Psychologen vom 27. April 2004, bei dem der Beschwerdeführer von Februar 1996 bis Sommer 1998 in Behandlung war, ist zu entnehmen, dass sich die Symptomatik im Verlauf der Therapie deutlich vermindert hatte und der Beschwerdeführer sich in seinen schulischen Leistungen auffangen konnte. Gegen Ende des sechsten Primarschuljahres sei die Therapie auf Wunsch des Beschwerdeführers eingestellt worden. Aus diesem Befund ergibt sich, dass bis zur Beendigung der Primarschule keine Leistungsschwierigkeiten zu verzeichnen waren. Auch aus dem Bericht des Schulleiters der Primarschule und der damaligen Klassenlehrerin vom 14. Mai 1998 geht hervor, dass der Beschwerdeführer in der Primarschule keine Leistungsschwierigkeiten hatte. Wie das Sozialversicherungsgericht zu Recht feststellte, hatte sich eine schulische Verzögerung in dem der Straftat unmittelbar folgenden Zeitabschnitt somit nicht eingestellt.
Das erste Schuljahr der Oberstufe begann der Beschwerdeführer in der A._______-Schule. Nach dem Bericht des Psychologen brach der Beschwerdeführer den Besuch dieser Schule aber ab, weil er leistungsmässig unterfordert war und auf die Art des Hauptlehrers "allergisch" reagierte. Um nicht das Risiko einzugehen, wegen des verpassten Lernstoffs den Anschluss in der Sekundarschule zu verfehlen, beendete der Beschwerdeführer sein erstes Oberstufenjahr in der Realschule. Aus den Angaben des Berichts geht somit hervor, dass diese erste schulische Verzögerung nicht einzig auf "allergische" Reaktionen auf eine männliche Lehrkraft, sondern zumindest auch auf die schulische Unterforderung in der A._______-Schule zurückzuführen war.
Während den folgenden drei Jahren besuchte der Beschwerdeführer die öffentliche Sekundarschule. Aus dem Bericht des Psychologen geht hervor, dass der Beschwerdeführer bei Spannungen mit Lehrern mit Verunsicherung reagierte. Der Bericht enthält aber keinerlei Hinweise darauf, dass der Beschwerdeführer während der Sekundarschulzeit schulische Leistungsschwierigkeiten gehabt hätte. In diesem Zeitabschnitt kam es zu keiner schulischen Verzögerung.
Nach der Sekundarschule besuchte der Beschwerdeführer während eines Jahres die Vorbereitungsklasse für die Mittelschule der B._______-Schule. Dem Bericht des Psychologen ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer gemäss seinen eigenen Angaben am Ende des dritten Sekundarschuljahres noch nicht so recht wusste, was er wollte, und sich noch nicht zutraute, die Aufnahmeprüfung für die öffentliche Mittelschule zu bestehen. Dem Bericht zufolge war das fehlende Selbstvertrauen somit zumindest nicht der einzige Grund, weshalb sich der Beschwerdeführer nicht unmittelbar im Anschluss an die Sekundarschule zur Aufnahmeprüfung an die Mittelschule anmeldete.
Aufgrund des Gesagten ist es nachvollziehbar, wenn das Sozialversicherungsgericht den natürlichen Kausalzusammenhang als nicht gegeben betrachtet. Die "allergischen" Reaktionen des Beschwerdeführers auf männliche Autoritätspersonen waren höchstens mitursächlich für den Abbruch der A._______-Schule, nicht aber für die zweite Verzögerung durch den Besuch der B._______-Schule. Dass der Beschwerdeführer sich nach Abschluss der Sekundarschule nicht rechtzeitig zur Aufnahmeprüfung in die öffentliche Mittelschule anmeldete, ist nicht a priori auf fehlendes Selbstvertrauen infolge des sexuellen Missbrauchs zurückzuführen. Der Besuch der B._______-Schule lässt sich durchaus mit der damaligen Unschlüssigkeit des Beschwerdeführers erklären, zumal sich seine psychische Instabilität auf die schulischen Leistungen insgesamt nicht ausgewirkt hatte. Die entgegen dem Bericht des Psychologen getroffene Schlussfolgerung des Sozialversicherungsgerichts, dass die acht Jahre zuvor erlebten Übergriffe für die schulische Verzögerung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht kausal waren, ist jedenfalls nicht offensichtlich falsch. Wie das Sozialversicherungsgericht zutreffend feststellt, ist bei der Würdigung des Berichts zu berücksichtigen, dass der Psychologe sich betreffend seiner Einschätzung über den Verlauf der Oberstufenschuljahre nicht auf eigene Beobachtungen, sondern lediglich auf die Angaben der Mutter des Beschwerdeführers stützen konnte. Die Einholung eines zweiten Gutachtens würde über die natürliche Kausalität nicht mehr Aufschluss bringen, da auch ein zweiter Experte den Beschwerdeführer nur ex post beurteilen könnte. Da für das Bundesgericht somit verbindlich festgestellt worden ist, dass kein natürlicher Kausalzusammenhang vorliegt, erübrigt sich die Prüfung, ob ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen Straftat und Schaden gegeben ist.
5.
Zusammenfassend ergibt sich, dass das Sozialversicherungsgericht kein Bundesrecht verletzte, indem es das Vorliegen des natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen der Straftat und dem geltend gemachten Schaden verneinte. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 16 Abs. 1 OHG; BGE 122 II 211 E. 4b S. 218 f.). Der Beschwerdeführer hat um unentgeltliche Verbeiständung ersucht. Da die Voraussetzungen hierfür vorliegen, ist dem Gesuch stattzugeben; Rechtsanwalt Dr. Baumann ist als amtlicher Vertreter zu bestimmen und mit einem armenrechtlichen Honorar aus der Bundesgerichtskasse angemessen zu entschädigen (vgl. Art. 152 Abs. 1 und 2 OG i.V.m. Art. 9 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.119.1]).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Verbeiständung gewährt. Rechtsanwalt Dr. Lorenz Baumann wird als amtlicher Vertreter des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 1'800.-- ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Kanton Zürich und dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, sowie dem Bundesamt für Justiz, Hauptabteilung Staats- und Verwaltungsrecht, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 25. Februar 2005
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: