BGer 4C.8/2005
 
BGer 4C.8/2005 vom 11.04.2005
Tribunale federale
{T 0/2}
4C.8/2005 /lma
Urteil vom 11. April 2005
I. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Corboz, Präsident,
Bundesrichterinnen Klett, Rottenberg Liatowitsch,
Gerichtsschreiber Luczak.
Parteien
A.________,
Klägerin und Berufungsklägerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
gegen
1. B.________,
2. Versicherung C.________,
Beklagte und Berufungsbeklagte, beide vertreten durch Rechtsanwältin Carmen Hool-Helfenstein,
Gegenstand
Haftung des Motorfahrzeughalters; Kosten,
Berufung gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Luzern, I. Kammer als Appellationsinstanz,
vom 12. Oktober 2004.
Sachverhalt:
A.
Am 28. Oktober 1995 erlitt A.________ (Klägerin) einen Autounfall. Die hinter ihr fahrende B.________ (Beklagte 1) geriet beim Bremsen ins Schleudern und fuhr auf den Wagen der Klägerin auf. Aus diesem Unfallereignis verlangte die Klägerin zunächst mit Sühne-, dann mit Klagebegehren beim Amtsgericht Hochdorf von der Beklagten 1 beziehungsweise der Versicherung C.________ (Beklagte 2) Fr. 1'033'712.-- nebst Zins. Das Amtsgericht verpflichtete die Beklagten in solidarischer Haftbarkeit, der Klägerin Fr. 8'271.80 Erwerbsausfallschaden und Fr. 12'000.-- Genugtuung zu zahlen, je nebst Zins. Im Übrigen wies es die Klage ab.
B.
Die Klägerin gelangte an das Obergericht des Kantons Luzern und verlangte Fr. 927'700.-- nebst Zins. Ausser in Bezug auf eine unwesentliche Zinskorrektur entschied das Obergericht gleich wie das Amtsgericht. Gestützt auf einen Arztbericht vom 21. Januar 1998 erachtete das Obergericht die Klägerin ab Januar 1998 wieder für 100 % arbeitsfähig. Nach diesem Datum vorhandene durch den Unfall kausal verursachte Beschwerden seien nicht nachgewiesen. Daher wies das Obergericht die Forderungen der Klägerin weitgehend ab.
C.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin sowohl staatsrechtliche Beschwerde als auch Berufung erhoben. Sie ersuchte in beiden Verfahren um die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Mit Beschluss vom 1. Februar 2005 wurde die unentgeltliche Rechtspflege für die Berufung gewährt und für die staatsrechtliche Beschwerde verweigert. Das Bundesgericht hat die staatsrechtliche Beschwerde heute abgewiesen, soweit es darauf eingetreten ist. In der Berufung hält die Klägerin an den vor Obergericht gestellten Anträgen fest und verlangt die Rückweisung der Sache zur materiellen Entscheidung an die Vorinstanz. Die Beklagten schliessen auf kostenfällige Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Die Klägerin wirft dem Obergericht zunächst vor, zu Unrecht nicht auf ihre Forderung betreffend AHV-Beiträge eingetreten zu sein mit der Begründung, dass es sich um eine neue Schadensposition handle. Damit habe das Obergericht die Rechtsgrundsätze des Schadens und der Schadensberechnung verkannt. Ursprünglich habe die Klägerin vor dem Amtsgericht den Erwerbsausfall mit Bruttolöhnen berechnet. Nach neuer bundesgerichtlicher Rechtsprechung werde aber die Nettolohnberechnung verlangt. Daher gehören nach Ansicht der Klägerin die von der Erwerbslosen zu entrichtenden AHV-Beiträge zum Schaden. Die Klägerin habe den Schaden mit Eingabe vom 20. März 2002 frist- und formgerecht behauptet.
1.2 Gemäss Art. 55 Abs. 1 lit. c OG muss in der Berufungsschrift dargelegt werden, welche Bundesrechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind. Zwar ist eine ausdrückliche Nennung bestimmter Gesetzesartikel nicht erforderlich, falls aus den Vorbringen hervorgeht, gegen welche Regeln des Bundesrechts die Vorinstanz verstossen haben soll. Unerlässlich ist aber, dass auf die Begründung des angefochtenen Urteils eingegangen und im Einzelnen dargetan wird, worin eine Verletzung von Bundesrecht liegen soll (BGE 121 III 397 E. 2a S. 400; 116 II 745 E. 3 S. 748 f.).
1.3 Die Vorbringen der Klägerin genügen den oben dargelegten Anforderungen nicht. Die Klägerin scheint sich gegen die Annahme der Vorinstanz zu wenden, dass die geltend gemachte Forderung nicht mit dem Rentenschaden identisch sei. In Bezug auf den Rentenschaden hat das Obergericht aber festgestellt, die Klägerin habe die Entscheidgründe des Amtsgerichts, mit welchen dieses einen Rentenschaden in der Zeit bis Januar 1998 verneint, nicht kritisiert und damit anerkannt. Diese tatsächliche Feststellung bindet das Bundesgericht im Rahmen der Berufung, zumal die Klägerin insoweit keine substanziierte Sachverhaltsrüge nach Art. 63 Abs. 2 und Art. 64 OG erhebt, die dem Bundesgericht eine Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen des Sachgerichts erlauben würde (BGE 130 III 102 E. 2.2).
1.4 Auch davon abgesehen ist die Rüge der Klägerin nicht nachvollziehbar. Die Klägerin behauptet selbst, den Anspruch bereits mit Eingabe vom 20. März 2002, also noch vor Erlass des Entscheids des Amtsgerichts, geltend gemacht zu haben. Daher kann in einer Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichts keine Rechtfertigung für ein neues Begehren vor Obergericht liegen. Aus der Appellationsbegründung ergibt sich zudem (Art. 64 Abs. 2 OG), dass die Klägerin den vor Amtsgericht beantragten Betrag vor Obergericht nach oben korrigiert hat, um den Vermögenswerten Rechnung zu tragen, welche der Klägerin ihrer Ansicht nach als Schadenersatz und Genugtuung zustanden. Inwieweit derartige Korrekturen zulässig sind, ist primär Sache des kantonalen Prozessrechts, zumal nicht ersichtlich ist, weshalb die entsprechenden Werte nicht schon in der Eingabe vom 20. März 2002 hätten berücksichtigt werden können. Rügen der Verletzung kantonalen Prozessrechts sind in der Berufung nicht zu hören. Inwiefern Angesichts der dargelegten Umstände Bundesrecht verletzt sein soll, legt die Klägerin nicht dar.
1.5 Damit gelingt es der Klägerin nicht, eine Bundesrechtsverletzung nachzuweisen. Auf ihr Vorbringen ist mangels genügender Begründung nicht einzutreten.
2.
2.1 Weiter bemängelt die Klägerin, die Vorinstanz hätte nicht auf die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit von 100 % abstellen dürfen, sondern sie hätte die Erwerbsfähigkeit konkret abklären müssen.
2.2 Bei der Berechnung des Schadenersatzes im Rahmen von Körperverletzungen ist auf die Differenz abzustellen zwischen dem, was der Verletzte nach dem Unfall noch verdienen kann und dem Verdienst, den der Verletzte ohne Unfall erzielen würde (BGE 129 III 135 E. 2.2 S. 141). Die Bestimmung der medizinisch-theoretischen Invalidität ist Tatfrage. Rechtsfragen dagegen sind der Begriff der Erwerbsfähigkeit und die Einschätzung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Körperverletzung (BGE 100 II 298 E. 4a S. 304, 72 II 198 E. 3b S. 206). Nach schweizerischer Lehre und Rechtsprechung ist der Invaliditätsschaden konkret zu berechnen. Ausgehend vom abstrakten Invaliditätsgrad sind dessen Auswirkungen auf die Verminderung der Erwerbsfähigkeit oder die Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens zu bestimmen. Mit andern Worten ist nicht die medizinisch-theoretische Schätzung, sondern der tatsächliche Verdienstausfall massgebend (BGE 129 III 135 E. 2.2 S. 141 mit Hinweisen). Zu prüfen ist, welches Einkommen der Geschädigte mit der ihm aus medizinischer Sicht festgesetzten Arbeitsfähigkeit tatsächlich realisieren kann.
2.3 Nach dem Arztbericht vom 21. Januar 1998, auf den das Obergericht abstellt, ist die Klägerin zu 100 % arbeitsfähig, jedoch nur in Bezug auf leichte bis mittelschwer belastende, nicht monotone Arbeiten. Ob diese Einschränkung auf leichte bis mittelschwer belastende, nicht monotone Arbeiten in Vergleich zum Zustand vor dem Unfall eine Verschlechterung bedeutet, lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Bestand vor dem Unfall keine Einschränkung, ist trotz der diagnostizierten 100-prozentigen Arbeitsfähigkeit ein ersatzfähiger Schaden nicht von vornherein auszuschliessen. Diesfalls ist abzuklären, ob sich die Einschränkung auf das Erwerbsleben der geschädigten Person wirtschaftlich nachteilig auswirkt. Dies ist ohne weiteres zu bejahen, wenn die Geschädigte ihre bisherige Arbeit nicht mehr oder nicht im gleichen Umfang wie bisher ausführen kann. Ein Schaden ist aber auch dann zu bejahen, wenn sich die Verschlechterung zwar an der bisherigen Arbeitsstelle nicht negativ auswirken würde, wohl aber in Bezug auf Arbeitsstellen, welche nach der Ausbildung und dem bisherigen Berufsleben ebenfalls in das Betätigungsfeld der geschädigten Person fallen können. Insoweit wäre eine Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens gegeben (Art. 46 Abs. 1 OR). Bei einer durch den Unfall verursachten Einschränkung gegenüber dem Validenzustand ist ein Schaden nur dann zu verneinen, wenn Fähigkeiten betroffen sind, welche die geschädigte Person an ihrer Arbeitsstelle aber auch in ihrer gesamten beruflichen Karriere nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht gebrauchen wird.
2.4 Nicht stichhaltig ist der Einwand der Beklagten, die Klägerin habe sich erstmals vor Bundesgericht und damit verspätet auf eine allfällige Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens berufen. Die Vorinstanz hat die notwendigen Feststellungen zur Beantwortung der Frage, ob überhaupt ein Schaden entstanden ist, nicht getroffen, da sie den Schadensbegriff verkannt hat. Die Rückweisung ist daher unabhängig von der Berücksichtigung der Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens unumgänglich. Gemäss den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts (angefochtenes Urteil S. 8) hat die Klägerin aber im kantonalen Verfahren verlangt, es sei "ein berufsberaterisches/berufsspezifisches Gutachten über die wirtschaftliche Nutzbarkeit der der Klägerin verbleibenden Restarbeitsfähigkeit mit Angaben über mögliche realisierbare Einkommen" anzuordnen, da der Arzt in seinem Bericht nur die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit festgestellt habe. Thematisierte die Klägerin die wirtschaftliche Nutzbarkeit der vom Arzt festgestellten Arbeitsfähigkeit, machte sie die Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens bereits vor Obergericht zum Streitgegenstand. Damit kann offen bleiben, ob die Behauptung, es liege eine volle Arbeitsunfähigkeit vor, nicht auch die Erschwerung des wirtschaftlichen Fortkommens als Minus miterfasst. Der Einwand der Beklagten widerspricht den tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid und ist nicht zu hören.
2.5 Das Obergericht geht mit dem Arztbericht davon aus, dass die volle Arbeitsfähigkeit nur in Bezug auf bestimmte Tätigkeiten gegeben ist. Tatsächliche Feststellungen zum Vorzustand, welche erlauben würden, abzuschätzen, ob die Klägerin durch diese Einschränkungen im Vergleich zur Zeit vor dem Unfall in ihrem Erwerbsleben beeinträchtigt wird, fehlen. Die Berufung erweist sich in diesem Punkt als begründet, und die Sache ist zur Ergänzung der tatsächlichen Feststellungen an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OG). Das Obergericht wird Feststellungen zum Zustand der Klägerin vor dem Unfall treffen müssen und abzuklären haben, ob die Einschränkung auf leichte bis mittelschwer belastende, nicht monotone Arbeiten durch den Unfall verursacht wurde. Ist dies zu bejahen, hat das Obergericht zu prüfen, ob diese Einschränkung sich in Bezug auf die Arbeiten, welche die Klägerin vor dem Unfall verrichtete, nachteilig auswirkt. Zusätzlich ist zu untersuchen ob die Klägerin allenfalls in ihrem wirtschaftlichen Fortkommen beeinträchtigt ist. In Bezug auf den Haushaltsschaden erübrigen sich entsprechende Abklärungen. Das Obergericht hat betreffend die konkreten Auswirkungen der medizinisch-theoretischen Arbeitsfähigkeit auf die Haushaltsführung festgehalten, die Klägerin habe nicht dargelegt, welche Arbeiten sie im Haushalt nicht verrichten könne. Das Obergericht hat diesbezüglich den Schadensbegriff nicht verkannt, sondern es ging mangels substanziierter anderer Behauptungen davon aus, die Klägerin könne mit der vom Gutachten festgestellten Arbeitsfähigkeit sämtliche Haushaltsarbeiten bewältigen.
3.
3.1 In Bezug auf den Haushaltsschaden rügt die Klägerin allerdings ein offensichtliches Versehen und eine Verletzung von Art. 8 ZGB. Sie bringt vor, das Obergericht habe übersehen, dass das Amtsgericht am 28. März 2000 einen Beweisentscheid erlassen habe und dass sich die Beklagten in der Folge damit einverstanden erklärt hätten, für die Berechnung des Haushaltsschadens auf Erfahrungswerte abzustellen, so dass nur noch der massgebliche Invaliditätsgrad nachzuweisen sei, wozu die Klägerin ein medizinisches Gutachten beantragt habe. Das Obergericht könne nicht verlangen, dass die Klägerin darlege, welche Arbeiten sie im Haushalt nicht verrichten könne. Vielmehr hätte es das beantragte Gutachten zur Festsetzung des Invaliditätsgrades anordnen müssen.
3.2 Die Klägerin verkennt, dass die Frage, welche Verrichtungen ihr nicht mehr möglich sind, den für den Haushaltsschaden massgebenden Invaliditätsgrad mitbestimmen und dass Beweise nur über von den Parteien prozesskonform vorgebrachte Behauptungen abzunehmen sind. Da die Klägerin nicht dartut, welche Haushaltsarbeiten durch die verbleibende Beeinträchtigung erschwert oder verunmöglicht werden, war das Obergericht nicht gehalten, darüber Beweis abzunehmen. Das Obergericht ging unter Würdigung des Arztberichtes vom 21. Januar 1998 bundesrechtskonform davon aus, dass für die Haushaltsführung keine Beeinträchtigung vorliege.
4.
Die Berufung erweist sich als teilweise begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Klägerin dringt mit der Berufung teilweise durch. Ob und inwieweit sich dies im Ergebnis auswirkt, ist aber noch offen. Daher sind die Gerichtskosten den Parteien je zur Hälfte aufzuerlegen und keiner Partei eine Entschädigung zuzusprechen (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 1 OG). Da der Klägerin die unentgeltliche Prozessführung bewilligt wurde, ist der auf sie entfallende Anteil auf die Gerichtskasse zu nehmen. Ferner ist ihrem Rechtsvertreter ein Honorar aus der Gerichtskasse auszurichten (Art. 152 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In teilweiser Gutheissung der Berufung wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 10'000.-- werden zur Hälfte den Beklagten unter solidarischer Haftbarkeit auferlegt. Der auf die Klägerin entfallende Kostenanteil wird auf die Gerichtskasse genommen.
3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
4.
Dem Vertreter der Klägerin wird für das bundesgerichtliche Verfahren ein Honorar von Fr. 12'000.-- aus der Gerichtskasse bezahlt.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, I. Kammer als Appellationsinstanz, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 11. April 2005
Im Namen der I. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: