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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
2A.12/2005
2A.13/2005/bie
Urteil vom 25. April 2005
II. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Betschart, Hungerbühler,
Wurzburger, Müller,
Gerichtsschreiberin Dubs.
Parteien
2A.12/2005
A.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Benno Lindegger,
und
2A.13/2005
B.________, Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Benno Lindegger,
gegen
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement, Bundeshaus West, 3003 Bern.
Gegenstand
Ausstellung eines Passes für eine ausländische Person,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die Entscheide des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 25. November 2004.
Sachverhalt:
A.
Die beiden armenischen Schwestern A.________ (geboren 1928) und B.________ (geboren 1930) reisten am 26. Juli 1979 im Besitze gültiger türkischer Reisepässe in die Schweiz ein. Sie ersuchten umgehend um Asyl. Mit Verfügung vom 2. Juni 1982 wies das damals zuständige Bundesamt für Polizeiwesen die Asylgesuche mit der Begründung ab, nicht staatliche türkische Behörden, sondern Private seien Urheber der von den Gesuchstellerinnen glaubhaft geschilderten Benachteiligungen. Die an den Armeniern begangenen Delikte seien vom türkischen Staat weder gebilligt noch gefördert worden; eine staatliche Verfolgung, wie sie für die Gewährung des Asyls erforderlich sei, liege daher nicht vor. Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement am 25. Februar 1986 abgewiesen. Wegen der langen Dauer des Asylverfahrens erklärten sich die zuständigen Fremdenpolizeibehörden jedoch 1987 bereit, den Betroffenen eine Jahresaufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen zu erteilen. Mittlerweile verfügen die beiden Schwestern über Niederlassungsbewilligungen.
B.
Nachdem ihnen seit Abschluss des Asylverfahrens regelmässig schweizerische Ersatzreisepapiere ausgestellt und verlängert worden waren, reichten A.________ und B.________ am 9. Dezember 2002 über die Fremdenpolizei ihres Wohnsitzkantons je ein Gesuch um Verlängerung ihrer am 1. Juni 1999 ausgestellten Pässe für Ausländer ein.
Mit Verfügungen vom 10. Januar 2003 wies das Bundesamt für Flüchtlinge die Gesuche ab und entzog die obgenannten Ersatzreisepapiere. Zur Begründung führte es aus, weder gehe aus den Akten hervor, dass sich die Betroffenen bisher erfolglos um die Ausstellung (neuer) türkischer Reisepässe bemüht hätten, noch seien Gründe ersichtlich, die einer Kontaktnahme mit der heimatlichen diplomatischen Vertretung entgegenstehen würden. Die beiden Schwestern gälten daher nicht als schriftenlos. Ihre dagegen beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement eingereichten Beschwerden blieben ohne Erfolg.
C.
Mit getrennten Eingaben vom 10. Januar 2005 haben A.________ und B.________ je Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Sie beantragen, die Entscheide des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 25. November 2004 sowie die Verfügungen des Bundesamtes für Flüchtlinge vom 10. Januar 2003 aufzuheben, ihre Schriftenlosigkeit gemäss Art. 6 Abs. 1 RPAV und ihren Anspruch auf einen Pass für eine ausländische Person nach Art. 3 Abs. 2 RPAV festzustellen und die Pässe Nr. 104 041 sowie Nr. 104 043 zu verlängern bzw. Pässe für Ausländer auszustellen. Zudem ersuchen sie um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement stellt den Antrag, die Verwaltungsgerichtsbeschwerden abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerden 2A.12/2005 und 2A.13/ 2005 sachlich und rechtlich gleich gelagert sind und es sich um einander nahe stehende und durch den gleichen Anwalt vertretene Parteien handelt, rechtfertigt es sich, die beiden Verfahren zu vereinigen und in einem einzigen Urteil zu erledigen (BGE 128 V 126 E. 1 mit Hinweisen).
1.2 Gemäss Art. 100 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 OG ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde auf dem Gebiete der Fremdenpolizei unzulässig gegen die Erteilung oder Verweigerung von Bewilligungen, auf die das Bundesrecht keinen Anspruch einräumt.
Die Verweigerung eines Reisedokumentes für schriftenlose Ausländer fällt nicht unter diesen Ausschlussgrund, da ein solches Reisedokument dem Gesuchsteller keinen bestimmten Anwesenheitsstatus in der Schweiz verschafft und damit keine fremdenpolizeiliche Bewilligung darstellt (Urteil 2A.555/2004 vom 14. Februar 2005 E. 1.1 mit Hinweis).
1.3 Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind die Entscheide des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 25. November 2004. Soweit die Beschwerdeführerinnen auch die Aufhebung der Verfügungen des Bundesamtes für Flüchtlinge vom 10. Januar 2003 verlangen, kann auf ihre Eingaben nicht eingetreten werden.
1.4 Die Beschwerdeführerinnen, denen die Erteilung eines Reisedokuments verweigert wurde, haben ein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung der angefochtenen Entscheide und sind somit zur Erhebung der Verwaltungsgerichtsbeschwerden legitimiert (vgl. Art. 103 lit. a OG). Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerden ist folglich einzutreten.
1.5 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann vorliegend die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens, sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des Sachverhalts (Art. 104 lit. a und b OG), nicht jedoch die Unangemessenheit des angefochtenen Entscheids (vgl. Art. 104 lit. c OG) gerügt werden.
2.
2.1 Die beiden angefochtenen Entscheide ergingen in Anwendung der Verordnung vom 11. August 1998 über die Abgabe von Reisepapieren an ausländische Personen (RPAV; AS 1999 2368 ff.). Inzwischen, d.h. am 1. Dezember 2004, trat die Verordnung vom 27. Oktober 2004 über die Ausstellung von Reisedokumenten für ausländische Personen (RDV; SR 143.5) in Kraft. Sie ersetzt die frühere Verordnung und gilt gemäss Übergangsbestimmungen (Art. 25 RDV) für alle im Zeitpunkt des Inkrafttretens hängigen Verfahren. Auf die vorliegenden Beschwerden findet daher das neue Recht Anwendung, das aufgrund der am 23. November 2004 (AS 2004 4577) erfolgten Veröffentlichung den anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerinnen bekannt sein musste und sich im Übrigen im fraglichen Punkt - wie sich nachfolgend zeigen wird - von den bisherigen Vorschriften nicht wesentlich unterscheidet.
2.2 Im Gegensatz zur bisherigen Verordnung (vgl. Art. 8 RPAV) sieht die nun anwendbare Regelung die Verlängerung von Ersatzpapieren nicht mehr vor (Art. 10 Abs. 5 RDV). Zu prüfen bleibt somit, ob vorliegend die Voraussetzungen zur Neuausstellung von Pässen für eine ausländische Person erfüllt sind.
3.
Nach Art. 4 Abs. 1 lit. b RDV (Art. 3 Abs. 2 RPAV) hat eine schriftenlose ausländische Person mit Niederlassungsbewilligung Anspruch auf einen Pass für eine ausländische Person.
3.1 Streitig ist vorliegend einzig, ob die Beschwerdeführerinnen im Sinne der einschlägigen Bestimmungen als schriftenlos gelten können. Nach der alten Verordnung (Art. 6 Abs. 1 RPAV) war dies zu bejahen bei ausländischen Personen, die keine gültigen heimatlichen Reisepapiere besitzen und denen "nicht zugemutet werden kann" (französische Fassung: "...et qu'il ne peut être raisonnablement exigé de lui..."; italienische Fassung; "...e dal quale non si può pretendere che..."), sich bei den zuständigen Behörden ihres Heimat- oder Herkunftsstaates um die Ausstellung oder Verlängerung eines Reisepapiers zu bemühen. Die neue Verordnung verzichtet auf den Begriff der Zumutbarkeit. Als schriftenlos gilt eine Person, "von der nicht verlangt werden kann" (französische Fassung: "...qu'il ne peut être exigé de lui..."; italienische Fassung: "...e dal quale non si può pretendere che ..."), dass sie sich bei den zuständigen Behörden um die Ausstellung oder Verlängerung eines Reisedokuments bemüht (Art. 7 Abs. 1 lit. a) oder für welche die Beschaffung von Reisedokumenten "unmöglich" ist (lit.b). Wie das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement in seiner Vernehmlassung ausführt, wurde der in der deutschen Fassung bisher verwendete Begriff der Zumutbarkeit fallen gelassen, weil er zur falschen Auffassung habe verleiten können, dass die Zumutbarkeit am erforderlichen Aufwand für die Beschaffung von heimatlichen Reisepapieren zu messen sei. Materiell sei mit der neuen Formulierung keine Änderung verbunden.
Es besteht kein Anlass, dieser Auslegung nicht zu folgen. Dass es im Wesentlichen um die Fortsetzung der bisherigen Regelung geht, ergibt sich aus dem Vergleich der französisch- und italienischsprachigen Fassungen, die - vom weggelassenen (an sich selbstverständlichen) Zusatz "raisonnablement" des französischen Texts abgesehen - schon bisher der jetzigen deutschen Formulierung entsprachen.
3.2 Die Frage der Zumutbarkeit der Bemühungen um Beschaffung heimatlicher Reisepapiere war nach der früheren Fassung, wie das Bundesgericht wiederholt festgehalten hat, nicht nach subjektiven, sondern nach objektiven Massstäben zu beurteilen (vgl. Urteile 2A.176/2004 vom 30. August 2004 E. 2.1, 2A.186/2000 vom 28. Juli 2000 E. 2d). Entsprechendes muss auch unter der Herrschaft der neuen Regelung gelten. Wohl sind die besonderen Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen, doch sind die allfälligen Nachteile oder Hindernisse, die einer Kontaktnahme mit den Behörden des Heimatlandes entgegenstehen könnten, aus objektiver Sicht zu würdigen. Die neue Verordnung trägt der Interessenlage von "schutzbedürftigen oder asylsuchenden Personen" ausdrücklich Rechnung, indem von solchen Gesuchstellern gemäss Art. 7 Abs. 2 RDV die Kontaktnahme mit den zuständigen Behörden des Heimat- oder Herkunftsstaates nicht verlangt werden kann. Soweit jedoch keine derartige (potentielle) Gefährdungslage besteht, können blosse subjektive Empfindlichkeiten eines Gesuchstellers nicht als Hindernis anerkannt werden.
3.3 Die beiden Beschwerdeführerinnen verfügen heute über eine Niederlassungsbewilligung in der Schweiz und gehören damit nicht zum in Art. 7 Abs. 2 RDV genannten Personenkreis, von welchem die Kontaktnahme mit dem Heimatstaat wegen der damit verbundenen potentiellen Gefährdung nicht verlangt werden darf. Die Gefühle, welche die Beschwerdeführerinnen aufgrund der Geschichte des armenischen Volkes und ihrer persönlichen Erfahrungen gegenüber dem türkischen Staat hegen, mögen zwar verständlich erscheinen; sie reichen aber nach dem Gesagten nicht aus, um sie von der Kontaktnahme mit der hiesigen diplomatischen Vertretung der Türkei zwecks Beschaffung von Reisepässen zu befreien. Es wird von ihnen nicht verlangt, sich zwecks Ausstellung eines Reisepasses in ihr Heimatland zu begeben. Wie es sich in diesem Fall verhalten würde, braucht somit nicht weiter erörtert zu werden. Dass sie durch eine Kontaktnahme mit der heimatlichen diplomatischen Vertretung in der Schweiz gefährdet würden, wird von den Beschwerdeführerinnen zu Recht nicht behauptet.
3.4 Die Beschwerdeführerinnen berufen sich auf den Umstand, dass ihnen die Bundesbehörden aufgrund ihrer Weigerung, mit den türkischen Behörden in Kontakt zu treten, seinerzeit Ersatzreisepapiere ausgestellt und diese, wie es altrechtlich möglich war, verlängert hatten. Dies schliesst indessen nicht aus, dass die Zulässigkeit einer weiteren Ausstellung von Ersatzreisepapieren heute nach der als richtig erkannten strengeren Auslegung beurteilt wird. Das Gebot von Treu und Glauben steht einer Rechts- bzw. Praxisänderung nicht grundsätzlich entgegen (vgl. BGE 127 I 49 E. 3c S. 52; 122 II 113 E. 3b/cc S. 123). Eine Praxis muss sogar geändert werden, wenn die Behörde zur Einsicht gelangt, dass das Recht bisher unrichtig angewendet worden ist oder eine andere Rechtsanwendung dem Sinne des Gesetzes oder veränderten Verhältnissen besser entspricht (vgl. BGE 125 II 152 E. 4c/aa S. 162 f. mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerinnen verfügen weder über ein wohlerworbenes Recht auf Verlängerung bzw. Ausstellung der Ersatzreisepapiere noch wurden ihnen diesbezüglich behördliche Zusicherungen abgegeben. Gemäss den Darlegungen des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements wird die restriktivere Praxis nunmehr in allen Fällen befolgt. Von einem widersprüchlichen Verhalten oder von einer Verletzung des Grundsatzes von Treu und Glauben kann daher nicht die Rede sein.
4.
4.1 Die Verwaltungsgerichtsbeschwerden erweisen sich somit als unbegründet und sind abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
4.2 Bei diesem Verfahrensausgang werden die Beschwerdeführerinnen grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Sie haben indessen um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersucht. Da die Beschwerdeführerinnen bedürftig sind und ihr Rechtsbegehren nicht zum Vornherein aussichtslos erschien, ist dem Gesuch zu entsprechen (Art. 152 Abs. 1 und 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verfahren 2A.12/2005 und 2A.13/2005 werden vereinigt.
2.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerden werden abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
3.
Den Beschwerdeführerinnen wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
4.
Es werden keine Kosten erhoben.
5.
Rechtsanwalt Benno Lindegger, X.________, wird als amtlicher Vertreter der Beschwerdeführerinnen bestellt, und es wird ihm für die bundesgerichtlichen Verfahren aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von insgesamt Fr. 1'500.-- ausgerichtet.
6.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführerinnen und dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 25. April 2005
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: