BGer 5P.121/2005 |
BGer 5P.121/2005 vom 17.05.2005 |
Tribunale federale
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{T 0/2}
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5P.121/2005 /bnm
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Urteil vom 17. Mai 2005
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II. Zivilabteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Raselli, Präsident,
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Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Hohl, Bundesrichter Marazzi,
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Gerichtsschreiber Möckli.
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Parteien
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X.________,
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Beschwerdeführerin,
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vertreten durch Rechtsanwalt Roger Burges,
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Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Abteilung V, Unterstrasse 28,
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9001 St. Gallen.
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Gegenstand
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Art. 9 BV etc. (fürsorgerische Freiheitsentziehung),
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Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Zirkulationsentscheid der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Abteilung V, vom 22. März 2005.
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Sachverhalt:
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A.
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X.________, geb. 24. März 1970, leidet an einer hebephrenen Schizophrenie und wurde seit 1987 bei insgesamt 18 Aufenthalten in der kantonalen psychiatrischen Klinik A.________ stationär behandelt.
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B.
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Da X.________ nach dem freiwilligen Eintritt vom 16. Februar 2004 die Klinik wieder verlassen wollte, wurde sie mit bezirksärztlicher Verfügung vom 8. April 2004 zurückbehalten. Die dagegen erhobene Klage wurde von der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen abgewiesen.
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Am 5. November 2004 stellte sie ein Entlassungsgesuch, das von der Klinik mit Verfügung vom 15. November 2004 abgewiesen wurde. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde von der Verwaltungsrekurskommission am 2. Dezember 2004 abgewiesen. Die gegen diesen Entscheid erhobene Berufung wies das Bundesgericht am 18. Januar 2005 ab, soweit es darauf eintrat.
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C.
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Mit Eingabe ihres Rechtsanwalts vom 28. Februar 2005 liess X.________ bei der Klinik ein weiteres, nicht näher begründetes Entlassungsgesuch stellen.
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In Beantwortung dieses Gesuchs hielt der Chefarzt der Klinik A.________ in seinem Schreiben vom 3. März 2005 fest, seit der Beurteilung des letzten Gesuchs durch die Verwaltungsrekurskommission am 2. Dezember 2004 habe sich nichts verändert. Eine Betreuung zu Hause sei nicht gewährleistet und eine Heimplatzierung sei unmöglich. Da sich keine neuen Fakten ergeben hätten, bleibe nichts anderes übrig, als X.________ weiterhin in der Klinik zurückzubehalten.
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Mit Eingabe ihres Rechtsanwalts vom 7. März 2005 liess X.________ bei der Verwaltungsrekurskommission klageweise beantragen, die fürsorgerische Freiheitsentziehung sei aufzuheben und sie sei mit sofortiger Wirkung zu entlassen.
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Eine Rückfrage beim Chefarzt der Klinik A.________ ergab, dass das Schreiben vom 3. März 2005 als Nichteintretensverfügung zu verstehen sei. Mit ergänzendem Schreiben vom 10. März 2005 wurde seitens der Klinik ausdrücklich festgehalten, dass auf das Entlassungsgesuch nicht eingetreten werde.
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Mit Eingabe vom 16. März 2005 nahm der Rechtsanwalt von X.________ zur Eintretensfrage Stellung und beantragte sinngemäss, die Klinik habe auf das Entlassungsgesuch einzutreten.
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Mit Entscheid vom 22. März 2005 wies die Verwaltungsrekurskommission die Klage vom 7. März 2005 ab, soweit sie darauf eintrat.
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D.
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Gegen den Entscheid der Verwaltungsrekurskommission hat der Rechtsanwalt von X.________ am 18. April 2005 sowohl Berufung als auch staatsrechtliche Beschwerde eingereicht. Mit Letzterer verlangt er die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege. Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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1.
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Aus Art. 397a Abs. 3 i.V.m. Art. 397d Abs. 2 und Art. 397e Ziff. 2 ZGB hat die Lehre abgeleitet, dass die Person, welche im Rahmen einer fürsorgerischen Freiheitsentziehung in eine Anstalt eingewiesen worden ist, grundsätzlich jederzeit ein Gesuch um Entlassung stellen kann (statt vieler: Deschenaux/Steiner, Personnes physiques et tutelle, 4. Aufl., Bern 2001, Rz. 1192 und 1210); dasselbe ergibt sich aus der Botschaft zur fürsorgerischen Freiheitsentziehung (vgl. BBl 1977 III 38) und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGE 130 III 729). Der Begriff der Jederzeitigkeit ist demnach bundesrechtlicher Natur, und aus ihm folgt, dass das Rechtsschutzinteresse per se gegeben ist und die Veränderung der Verhältnisse - unter Vorbehalt der nachfolgenden Ausführungen - keine materielle Voraussetzung für das (erneute) Einreichen eines Entlassungsgesuches darstellt.
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Indes steht das Recht, jederzeit die Entlassung zu verlangen, wie jede Rechtsausübung unter dem Vorbehalt des Vertrauensgrundsatzes und des Rechtsmissbrauchsverbots sowie des Grundsatzes von Treu und Glauben. Diese Maximen sind Teil des kantonalen Prozessrechts, welches grundsätzlich das Verfahren der fürsorgerischen Freiheitsentziehung ordnet (vgl. Art. 397e ZGB), obgleich sich der materielle Anspruch, der im kantonalen Verfahren beurteilt wird, aus dem Bundesprivatrecht ergibt; die Verletzung der genannten Maximen kann deshalb nicht mit Berufung gerügt werden (vgl. BGE 111 II 62 E. 3 S. 66 f.; 119 II 89 E. 2c S. 92; Urteil 4C.28/1997 vom 2. August 1999, E. 2b nicht publ. in BGE 125 III 346). Entsprechend hat das Bundesgericht im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde entschieden, dass das Recht, jederzeit ein Entlassungsgesuch zu stellen und den gesuchsabweisenden Entscheid gerichtlich beurteilen zu lassen, durch den Grundsatz des Handelns nach Treu und Glauben eingeschränkt werde und deshalb auf Entlassungsgesuche, die in unvernünftigen Abständen gestellt werden, nicht einzutreten sei (BGE 130 III 729). Auf ein unmittelbar oder kurz nach einem abweisenden Entscheid erneut gestelltes Entlassungsgesuch wäre immerhin dann einzutreten, wenn die betroffene Person - was normalerweise keine Eintretensvoraussetzung ist - veränderte Verhältnisse nachweist, die eine Entlassung rechtfertigen.
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Nach dem Gesagten ist die Auslegung des bundesrechtlichen Begriffs der jederzeitigen Entlassung berufungsfähig (Art. 43 Abs. 1 OG), während die Rüge, die letzte kantonale Instanz sei zu Unrecht von einer treuwidrigen bzw. querulatorischen Rechtsausübung ausgegangen, mit staatsrechtlicher Beschwerde zu rügen ist (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG).
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2.
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Soweit die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 31 Abs. 4 BV und Art. 5 Ziff. 4 EMRK (Anspruch auf richterliche Überprüfung des Freiheitsentzuges) geltend macht, führt sie entgegen ihrer aus Art. 90 Abs. 1 lit. b OG fliessenden Rügepflicht nicht aus, inwiefern diese Bestimmungen über diejenigen des Bundesrechts (insbesondere Art. 397d ZGB, ferner auch Art. 397e und Art. 397f ZGB), welche die genannten verfassungs- bzw. konventionsrechtlichen Normen konkretisieren, hinausgehen. Die Verletzung der bundesrechtlichen Bestimmungen ist indes mit Berufung geltend zu machen (Art. 43 Abs. 1 OG), weshalb auf die zum Rechtsmittel der Berufung subsidiäre staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden kann (Art. 84 Abs. 2 OG).
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Gleiches gilt für das Vorbringen, zufolge Nichteintretens sei weder eine fachrichterliche Einvernahme erfolgt noch eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden, an der die Beschwerdeführerin zu den Ausführungen der Anstaltsleitung persönlich hätte Stellung nehmen können, und die damit verbundene Rüge, Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK seien verletzt. Die Beanstandung, die Vorinstanz habe der Beschwerdeführerin die Teilnahme an einer Verhandlung bzw. die persönliche Anhörung vorenthalten, beschlägt den berufungsfähigen Art. 397f Abs. 3 ZGB, wonach das Gericht erster Instanz die betroffene Person mündlich einzuvernehmen hat. Die Beschwerdeführerin legt auch hier nicht dar, inwiefern die angerufenen verfassungs- bzw. konventionsrechtlichen Normen weiter gehende Ansprüche als die konkretisierende Bestimmung des Bundesprivatrechts gewähren, weshalb auf die im Verhältnis zur Berufung subsidiäre staatsrechtliche Beschwerde auch in diesem Punkt nicht einzutreten ist.
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3.
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Die Beschwerdeführerin wirft der Vorinstanz eine Verletzung des Willkürverbots bzw. des Grundsatzes von Treu und Glauben vor (Art. 9 BV), indem das Schreiben der Klinik vom 3. März 2005, in welchem eindeutig materiell argumentiert worden sei, nachträglich in einen Nichteintretensentscheid umgedeutet und in der Folge das Entlassungsgesuch gar nicht materiell überprüft worden sei.
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Hinsichtlich der ersten Frage, ob das Schreiben der Klinik vom 3. März 2005 unzulässigerweise in einen Nichteintretensentscheid umgedeutet worden ist, zeigt die Beschwerdeführerin entgegen ihrer Begründungspflicht gemäss Art. 90 Abs. 1 lit. b OG nicht auf, welche Verfahrensbestimmungen willkürlich angewandt worden sein sollen. Auf die betreffende Rüge kann aber auch deshalb nicht eingetreten werden, weil sie erstmals vor Bundesgericht erhoben worden ist und neue tatsächliche oder rechtliche Vorbringen im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde grundsätzlich unzulässig sind (BGE 118 Ia 20 E. 5a S. 26; 127 I 145 E. 5c/aa S. 160). Eine Ausnahme von diesem Novenverbot besteht dann, wenn erst der angefochtene Entscheid zu den neuen Vorbringen Anlass gibt (BGE 99 Ia 113 E. 4a S. 122), was vorliegend aber nicht zutrifft: Die Beschwerdeführerin hätte die betreffende Rüge ohne weiteres bereits im vorinstanzlichen Verfahren einbringen können, war sie doch von der Anstaltsleitung am 10. März 2005 darüber orientiert worden, dass das Schreiben vom 3. März 2005 als Nichteintretensentscheid zu verstehen sei, und war sie von der Verwaltungsrekurskommission gleichentags dazu aufgefordert worden, zur Eintretensfrage Stellung zu nehmen. Dabei kritisierte sie zwar, dass auf das Gesuch nicht eingetreten worden sei, rügte aber mit keinem Wort, die Klinik habe eine zunächst erfolgte Gesuchsabweisung im Nachhinein in einen Nichteintretensentscheid abgeändert.
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Bei der zweiten Frage, ob die Vorinstanz mit ihrem Nichteintretensentscheid den Anspruch der Beschwerdeführerin auf materielle Beurteilung ihres Entlassungsgesuchs verletzt hat, ist das Rechtsschutzinteresse an der Behandlung des Gesuchs angesprochen. Zwar regelt das ZGB die Entlassung bzw. deren Modalitäten nicht eigens, sondern erwähnt sie lediglich im Zusammenhang mit der Zuständigkeit der Anstalt (Art. 397b Abs. 3 ZGB) und dem Anspruch auf gerichtliche Überprüfung der Abweisung eines Entlassungsgesuchs (Art. 397d Abs. 2 ZGB). Der gesetzlichen Regelung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung ist indessen immanent, dass Eingewiesene - unter Vorbehalt der genannten Ausnahmen (dazu E. 1) - grundsätzlich jederzeit die Entlassung verlangen können und insoweit auch ein entsprechendes Rechtsschutzinteresse an der materiellen Behandlung des betreffenden Gesuchs besteht. Weil jedoch das Vorhandensein und die Tragweite dieses Interesses für Ansprüche, die im Bundesrecht begründet sind, eine Frage des Bundesrechts ist (vgl. BGE 110 II 352 E. 1b S. 355; 116 II 196 E. 1a S. 198; 119 III 113 E. 3b/aa S. 116; Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 7. Aufl., Bern 2001, Kap. 2 N. 31 und 38 sowie Kap. 7 N. 12) und dessen Verletzung mit Berufung vorzutragen ist (Art. 43 Abs. 1 OG), kann in diesem Punkt auf die im Verhältnis zum Rechtsmittel der Berufung subsidiäre staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden (Art. 84 Abs. 2 OG).
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4.
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Zusammenfassend ergibt sich, dass auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden kann. Wie die vorstehenden Ausführungen zeigen, muss sie als von Anfang an aussichtslos bezeichnet werden, weshalb das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen (Art. 152 Abs. 1 OG) und der Beschwerdeführerin eine (zufolge Nichteintretens reduzierte) Gerichtsgebühr aufzuerlegen ist (Art. 156 Abs. 1 OG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Auf die staatsrechtliche Beschwerde wird nicht eingetreten.
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2.
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Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
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3.
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Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
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4.
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Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und der Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen, Abteilung V, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 17. Mai 2005
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Im Namen der II. Zivilabteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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