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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
5P.232/2005 /blb
Urteil vom 11. August 2005
II. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterinnen Nordmann, Escher,
Gerichtsschreiber Zbinden.
Parteien
X.________ (Ehemann),
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Edelmann,
gegen
Y.________ (Ehefrau),
Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Ursula Hail-Weber,
Obergericht des Kantons Thurgau, Promenadenstrasse 12 A, 8500 Frauenfeld.
Gegenstand
Art. 9 BV usw. (vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsprozess),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 18. April 2005.
Sachverhalt:
A.
Im Scheidungsverfahren der Eheleute X.________ und Y.________ verpflichtete das Gerichtspräsidium Weinfelden am 5./6. Januar 2005 den Ehemann in Abänderung der Eheschutzverfügung vom 17. Juni 2003, an den Unterhalt der Ehefrau mit Wirkung ab dem 1. Februar 2004 monatliche Unterhaltsbeiträge von Fr. 2'123.-- zu bezahlen; überdies erklärte er ihn für berechtigt, die in der Zeit vom 1. Februar 2004 bis heute für die Liegenschaft in L.________ bezahlten Hypothekarzinsen, den Aufwand für den Liegenschaftsunterhalt, die Gebäudeversicherungsprämien und die Liegenschaftssteuern in Abzug zu bringen. Ferner wurde der Ehemann dazu verhalten, den Überschuss gemäss der Bedarfsberechnung für die Bestreitung der gemeinsamen Schulden, namentlich der Hypothekarzinsen und Liegenschaftskosten, zu verwenden. Der angerufene Massnahmenrichter wies die Gesuche der Ehefrau um Schuldneranweisung an den Arbeitgeber des Ehemannes sowie um umfassende Auskunftserteilung über die finanziellen Verhältnisse des Ehemannes ab. Nicht stattgegeben wurde ferner dem Gesuch des Ehemannes, die Ehefrau zu einer Budgetberatung zu verpflichten, ebenso wenig seinem Begehren, die Unterhaltsbeiträge an den Beistand zu bezahlen. Schliesslich hob das Gerichtspräsidium die am 18. November 2004 superprovisorisch erlassene Unterhaltsreglung auf und bewilligte dem Ehemann die unentgeltliche Rechtspflege mit einem Offizialanwalt.
B.
Gegen diese Verfügung erhob die Ehefrau Rekurs beim Obergericht des Kantons Thurgau, worauf der Ehemann seinerseits Anschlussrekurs einreichte. Im Rekursverfahren waren die beantragte Anpassung der Unterhaltsbeiträge an die Ehefrau, die Anweisung an den Arbeitgeber des Ehemannes, die Unterhaltsbeiträge direkt an die Ehefrau zu überweisen, sowie die Verpflichtung des Ehemannes zu umfassender Auskunftserteilung über seine finanziellen Verhältnisse streitig. Mit Beschluss vom 18. April 2005 änderte das Obergericht Ziff. 6 der Eheschutzverfügung vom 17. Juni 2003 ab, indem es den Ehemann verpflichtete, an den Unterhalt der Ehefrau mit Wirkung ab dem 1. November 2004 monatliche vorauszahlbare Unterhaltsbeiträge von Fr. 3'180.-- zu bezahlen, und ihn überdies berechtigte, den am 29. Oktober 2003 bezahlten Hypothekarzinsbetrag von Fr. 2'000.-- in Abzug zu bringen. Ferner wurden die Offizialanwälte aus der Obergerichtskasse je mit einem Betrag von Fr. 900.-- zuzüglich Mehrwertsteuer entschädigt. Zusammen mit dem Beschluss vom 18. April 2005 wurde dem Ehemann eine Kopie der Anschlussrekursantwort der Ehefrau vom 8. März 2005 zugestellt.
C.
Der Ehemann führt staatsrechtliche Beschwerde namentlich wegen Verletzung von Art. 9 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Er beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. Für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht er eventuell um unentgeltliche Rechtspflege. In der Sache rügt er insbesondere, ihm sei die Prozesseingabe der Beschwerdegegnerin vom 8. März 2005 erst mit dem angefochtenen Beschluss zugestellt worden, so dass er nicht dazu habe Stellung nehmen können, obwohl das Obergericht im angefochtenen Beschluss teilweise auf diese Eingabe abgestellt habe.
Dem Beschwerdeführer wurde am 15. Juni 2005 bedeutet, über sein Eventualbegehren betreffend unentgeltliche Rechtspflege könne mangels Bedürftigkeitsnachweises nicht entschieden werden; es bleibe ihm aber vorbehalten, innert der Frist zur Leistung des gerichtlichen Kostenvorschusses ein gehörig begründetes Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege samt Unterlagen einzureichen. Der Beschwerdeführer hat den Gerichtskostenvorschuss der bundesgerichtlichen Aufforderung entsprechend geleistet.
Die Ehefrau ersucht um Abweisung des Gesuchs um aufschiebende Wirkung, ferner darum, den Beschwerdeführer zu verpflichten, ihr einen Prozesskostenvorschuss von Fr. 2'000.-- zu bezahlen, eventuell ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen. In der Sache nimmt sie ausführlich zur staatsrechtlichen Beschwerde Stellung; dabei stellt sie allerdings keinen ausdrücklichen Antrag, sondern ersucht lediglich darum, ihre Vernehmlassung zu berücksichtigen. Das Obergericht widersetzt sich dem Gesuch um aufschiebende Wirkung nicht; in der Sache hat es sich ebenfalls ohne ausdrücklichen Antrag vernehmen lassen.
D.
Mit Verfügung vom 4. Juli 2005 gewährte der Präsident der II. Zivilabteilung des Bundesgerichts der Beschwerde aufschiebende Wirkung für die bis und mit Mai 2005 geschuldeten Unterhaltsbeiträge und wies im Übrigen das Gesuch ab. Ferner wurde der Beschwerdegegnerin eröffnet, dass das bundesgerichtliche Verfahren nicht zwecks Erstreitung des von ihr geforderten Prozesskostenvorschusses ausgesetzt werde, sondern von ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege Kenntnis genommen und später darüber entschieden werde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der angefochtene Beschluss über die vorsorglichen Massnahmen für die Dauer des Scheidungsverfahrens kann auf kantonaler Ebene mit keinem weiteren Rechtsmittel angefochten werden. Er gilt damit als letztinstanzlicher Endentscheid im Sinne von Art. 86 Abs. 1 OG (BGE 100 Ia 12 E. 1).
2.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK und kritisiert den obergerichtlichen Beschluss ferner als gegen Art. 9 BV verstossend. Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Seine Verletzung führt ungeachtet der Erfolgsaussichten in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (BGE 126 V 130 E. 2b mit Hinweisen). Die Rüge ist demnach vorweg zu behandeln.
3.
3.1 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich in seiner Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK verschiedentlich mit der Frage der Zustellung von Aktenstücken befasst. In einem Fall, in dem das Bundesgericht über eine Berufung erkannt hatte, ohne zuvor dem Berufungskläger Kenntnis von den Bemerkungen der Vorinstanz gegeben zu haben, hat er entschieden, der in Art. 6 Ziff. 1 EMRK enthaltene Anspruch auf ein faires Verfahren verleihe den Parteien das Recht, von sämtlichen dem Gericht eingereichten Eingaben oder Vernehmlassungen Kenntnis zu erhalten und zu diesen Stellung zu nehmen. Unerheblich sei, dass die Vernehmlassung der Vorinstanz an das Bundesgericht weder Tatsachen noch Begründungen enthalte, die nicht bereits im angefochtenen Urteil aufgeführt gewesen seien. Es obliege den Parteien, zu entscheiden, ob sie zu einer Eingabe Bemerkungen anbringen oder nicht. Der Gerichtshof bejahte daher eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Urteil des EGMR i.S. N.-H. gegen Schweiz vom 18. Februar 1997, Ziff. 24, 29, in: Recueil CourEDH 1997-I S. 101; VPB 61/1997 Nr. 108 S. 961). Diese Rechtsprechung ist später im Wesentlichen bestätigt worden (Urteil des EGMR i.S. R. gegen Schweiz vom 28. Juni 2001, in: VPB 65/2001, S. 1347 Nr. 129). Eine Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK erblickte der Gerichtshof sodann in einem weiteren, die Schweiz betreffenden Fall, in dem der Rekurrent weder von der Stellungnahme der Vorinstanz noch von jener der Gegenpartei Kenntnis erhalten hatte; dabei hob er zusätzlich hervor, auf den möglichen tatsächlichen Einfluss von Bemerkungen der Parteien auf das Urteil komme es nicht an (Urteil des EGMR i.S. Z. gegen Schweiz vom 21. Februar 2002, Ziff. 33 und 38, in: VPB 66/2002 S. 1307 Nr. 113). Das Eidgenössische Versicherungsgericht und das Bundesgericht haben sich dieser Praxis angeschlossen (Urteil H 213 1998 vom 1. Februar 1999, E. 1a, auszugsweise in: SZIER 1999 S. 553; Urteile 5P.446/2003, 5P.18/2004, je vom 2. März 2004, 5P.314/2004 vom 1. November 2004 und 5P.18/2005 vom 15. März 2005). Sie ist in einem weiteren, die Schweiz betreffenden Fall vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erneut in Erinnerung gerufen worden (Urteil C. gegen Schweiz vom 12. Juli 2005; [Requête Nr. 7020/02]).
3.2 Wie das Obergericht selbst einräumt, ist dem Beschwerdeführer die Anschlussrekursantwort der Beschwerdegegnerin vom 8. März 2005 nicht vor dem Beschluss vom 18. April 2005 zugestellt worden, so dass sich der Beschwerdeführer im Verlaufe des Verfahrens nicht hat dazu äussern können. Damit hat das Obergericht den Grundsatz des fairen Verfahrens, wie durch Art. 6 Ziff. 1 EMRK umschrieben wird, verletzt. Dabei spielt nach der zitierten Rechtsprechung entgegen der sinngemässen Auffassung der Beschwerdegegnerin keine Rolle, ob die in der strittigen Eingabe enthaltenen Ausführungen in irgend einer Form in den angefochtenen Beschluss eingeflossen sind, was die Beschwerdegegnerin bestreitet. Eine Heilung des Mangels kommt nicht in Frage, zumal das Bundesgericht in der Sache über eine geringere Kognition verfügt als das Obergericht (zu den Heilungsvoraussetzungen im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde: BGE 126 I 68 E. 2 S. 72).
4.
Damit ist die staatsrechtliche Beschwerde ohne Prüfung der Willkürrügen gutzuheissen und der angefochtene Beschluss aufzuheben. Die Beschwerdegegnerin hat zwar nicht ausdrücklich einen Antrag zum Ausgang des Beschwerde gestellt. Sie vertrat indes die Ansicht, dass der dem Obergericht vorgeworfene Verfahrensfehler nur insofern zur Aufhebung des Beschlusses Anlass geben könne, als das Obergericht auf die in der Antwort enthaltenen Vorbringen abgestellt habe, was der Beschwerdeführer zwar behaupte, was aber im Verfahren widerlegt werden könne. Damit richtet sie sich gegen eine Aufhebung des Beschlusses wegen besagten Formmangels und verlangt demzufolge insoweit sinngemäss die Abweisung der Beschwerde. Dies rechtfertigt es, ihr die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG).
5.
Aufgrund der publizierten, vom Bundesgericht mehrfach übernommenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat sich der Standpunkt der Beschwerdegegnerin als offensichtlich aussichtslos erwiesen, weshalb ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege nicht entsprochen werden kann (Art. 152 Abs. 1 OG). Der Beschwerdeführer hat zwar eventualiter ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt, hat aber den verlangten Kostenvorschuss geleistet und damit sein Gesuch konkludent zurückgezogen. Dementsprechend ist dieses als durch Rückzug erledigt abzuschreiben. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, und der Beschluss des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 18. April 2005 wird aufgehoben.
2.
2.1 Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird als gegenstandslos abgeschrieben.
2.2 Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird der Beschwerdegegnerin auferlegt.
4.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 11. August 2005
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: