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Original
 
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.254/2005 /gij
Urteil vom 30. August 2005
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Aeschlimann,
Gerichtsschreiberin Schoder.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Remigius Küchler,
gegen
Verhöramt Obwalden, Polizeigebäude, Postfach 1561, 6061 Sarnen 1,
Obergerichtskommission des Kantons Obwalden, als Beschwerdeinstanz in Strafsachen, Poststrasse 6, Postfach 1260, 6061 Sarnen.
Gegenstand
Art. 29 Abs. 1 und 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 11 Abs. 3 KV/OW (Rechtsverweigerung),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid der Obergerichtskommission des Kantons Obwalden vom 29. März 2005.
Sachverhalt:
A.
Gegen X.________ eröffnete das Verhöramt des Kantons Obwalden im April 2004 eine Strafuntersuchung wegen Amtsmissbrauch und Nötigung. Am 4. August 2004 erliess das Verhöramt einen Strafbefehl, mit dem X.________ wegen Amtsmissbrauch im Sinne von Art. 312 StGB eine bedingte Gefängnisstrafe von fünf Tagen und eine zweijährige Probezeit auferlegt wurde. Der Strafbefehl wurde am 12. August 2004 zugestellt und von X.________ am 14. August 2004 abgeholt.
Am 9. Dezember 2004 beantragte der von X.________ unterdessen beauftragte Rechtsvertreter die Fortsetzung der Strafuntersuchung sowie die anschliessende Einstellung des Verfahrens. Nach Angabe von X.________ hatte dieser am 17. August 2004 dem Verhöramt eine E-Mail zugesandt, worin er gegen den Strafbefehl Einsprache erhob.
Das Verhöramt teilte dem Rechtsvertreter mit Schreiben vom 15. Dezember 2004 mit, dass seitens des Angeschuldigten keine schriftliche und von diesem unterzeichnete Einsprache gegen den Strafbefehl vom 4. August 2004 vorliege, weshalb der Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen sei. Der Rechtsmittelbelehrung des Strafbefehls lasse sich klar entnehmen, dass Einsprachen per E-Mail ungültig seien. Massgebend seien ausschliesslich im Original unterzeichnete Erklärungen. X.________ könne daher nicht geltend machen, dass er seitens des Verhöramts nicht auf den Formmangel einer Einsprache per E-Mail hingewiesen worden wäre.
X.________ erhob daraufhin Beschwerde betreffend Rechtsverweigerung mit den Anträgen, das Verhöramt sei anzuweisen, das seinerzeit gegen ihn eingeleitete Strafverfahren betreffend Amtsmissbrauch fortzusetzen. Die Obergerichtskommission des Kantons Obwalden als Beschwerdeinstanz in Strafsachen wies die Beschwerde mit Entscheid vom 29. März 2005 ab.
B.
X.________ hat gegen den Entscheid der Obergerichtskommission vom 29. März 2005 staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV (Verbot des überspitzten Formalismus) sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 32 Abs. 2 BV und Art. 11 Abs. 3 der Kantonsverfassung des Kantons Obwalden vom 29. November 1998 (KV/OW) erhoben. Er beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids.
C.
Die Obergerichtskommission beantragt die Abweisung der Beschwerde unter Verzicht auf weitere Vernehmlassung. Das Verhöramt verzichtet auf Stellungnahme.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Nach Art. 90 Abs. 1 lit. b OG muss eine staatsrechtliche Beschwerde die wesentlichen Tatsachen und eine kurz gefasste Darlegung darüber enthalten, welche verfassungsmässigen Rechte bzw. welche Rechtssätze und inwiefern sie durch den angefochtenen Entscheid verletzt worden sind. Im staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren prüft das Bundesgericht nur klar und detailliert erhobene Rügen. Auf ungenügend begründete Rügen und rein appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt es nicht ein (BGE 129 I 185 E. 1.6 S. 189; 125 I 492 E. 1b S. 495, 71 E. 1c S. 76, je mit Hinweisen).
1.2 Soweit der Beschwerdeführer diesen Begründungsanforderungen nicht nachkommt, ist auf seine Ausführungen nicht einzugehen. Dies gilt insbesondere betreffend der Rügen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 11 Abs. 3 KV/OW), der Verletzung strafrechtlicher Verteidigungsrechte (Art. 32 Abs. 2 BV) und des Gebots eines fairen Verfahrens (Art. 6 Ziff. 1 EMRK), soweit der Beschwerdeführer nicht das Verbot des überspitzten Formalismus, sondern einen anderen Schutzgehalt dieser Konventionsnorm meint.
1.3 Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen der staatsrechtlichen Beschwerde sind vorliegend erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Verbots des überspitzten Formalismus (Art. 29 Abs. 1 BV). Seine per E-Mail erhobene Einsprache genüge dem Gültigkeitserfordernis der Schriftlichkeit. Die Auffassung der Obergerichtskommission, Eingaben per E-Mail würden die gesetzlichen Formerfordernisse nicht erfüllen, widerspreche der heutigen "Rechtswirklichkeit", in welcher der Verkehr per E-Mail als genügend empfunden werde.
2.2 Das aus Art. 29 Abs. 1 BV fliessende Verbot des überspitzten Formalismus wendet sich gegen eine prozessuale Formenstrenge, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert. Das Bundesgericht prüft frei, ob eine solche Rechtsverweigerung vorliegt (BGE 127 I 31 E. 2a/bb S. 34; 125 I 166 E. 3a S. 170; 121 I 177 E. 2b/aa S. 179 f., je mit Hinweisen).
2.3 Nach Art. 45 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes des Kantons Obwalden vom 22. September 1996 über die Gerichtsorganisation (GOG/OW) erwachsen Strafbefehle in Rechtskraft, sofern bei Übertretungen die betroffene Person und bei Vergehen sowie Verbrechen die betroffene Person oder die Staatsanwaltschaft nicht schriftlich Einsprache erklärt. Im angefochtenen Entscheid legt die Obergerichtskommission diese Vorschrift gestützt auf die bisherige kantonale Rechtsprechung in dem Sinne aus, dass die handschriftliche Unterzeichnung im Original Gültigkeitserfordernis der Einsprache ist.
Die Einführung des elektronischen Verkehrs mit Gerichts- und Verwaltungsbehörden mag einem zunehmenden Bedürfnis entsprechen. Indessen ist für den elektronischen Verkehr im Rahmen von Gerichts- und Verwaltungsverfahren eine spezifische gesetzliche Regelung notwendig (vgl. Botschaft des Bundesrats vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 4202 ff., insb. 4259 ff.). Darin sollten die Voraussetzungen für den elektronischen Verkehr mit den Behörden geregelt sein, um die Risiken einer missbräuchlichen Verwendung der elektronischen Kommunikationstechnik zu verringern (vgl. Botschaft, a.a.O., 4263; für den Privatrechtsverkehr Rolf H. Weber, Rechtsfragen des elektronischen Vertragsabschlusses, in: ders. (Hrsg.), Informatikrecht im europäischen Umfeld, Zürich 1997, S. 251 ff.). So ist in Art. 42 Abs. 4 des (voraussichtlich am 1. Januar 2007 in Kraft tretenden) Bundesgesetzes über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 vorgesehen, dass bei elektronischer Zustellung das Dokument, welches die Rechtsschrift und die Beilagen enthält, von der Partei oder ihrem Vertreter mit einer anerkannten elektronischen Signatur versehen werden muss.
Das geltende Recht des Kantons Obwalden enthält keine spezifischen Vorschriften über den elektronischen Verkehr in Gerichts- und Verwaltungsverfahren. Nach dem Gesagten ist nicht zu beanstanden, wenn die Obergerichtskommission die per E-Mail erhobene Einsprache gegen den Strafbefehl mangels handschriftlicher Unterschrift als ungültig betrachtet. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist diese Auslegung des Schriftformerfordernisses (Art. 45 Abs. 1 Satz 2 GOG/OW) durchaus zeitgemäss und trotz den modernen Kommunikationstechniken nicht übertrieben streng. Daran ändert nichts, dass das Verhöramt über eine elektronische Adresse verfügt und diese im Briefkopf aufführt. Das Verbot des überspitzten Formalismus ist insoweit nicht verletzt.
2.4 Weiter bringt der Beschwerdeführer vor, das Verhöramt wäre verpflichtet gewesen, ihn rechtzeitig auf den Formfehler der Eingabe aufmerksam zu machen, damit er den Fehler vor Ablauf der Einsprachefrist hätte verbessern können.
2.5 Für die Bundesrechtspflege verlangt Art. 30 Abs. 2 OG die Ansetzung einer Nachfrist, wenn bei einer Eingabe die Unterschrift, die Vollmacht des Anwalts oder die vorgeschriebenen Beilagen fehlen. Nach der Rechtsprechung ist der in Art. 30 Abs. 2 OG enthaltene Anspruch des Rechtsuchenden auf eine Nachfristansetzung Ausdruck eines aus dem Verbot des überspitzten Formalismus fliessenden allgemeinen prozessualen Rechtsgrundsatzes, der auch im kantonalen Verfahren Geltung hat (BGE 120 V 413 E. 6a S. 419 f.) Leidet eine Eingabe an einem prozessualen Formmangel, hat das Gericht eine kurze, gegebenenfalls auch über die gesetzliche Rechtsmittelfrist hinausgehende Nachfrist (vgl. Bundesgerichtsurteil 2P.278/1999 vom 17. April 2000, E. 4c) zur Behebung des Formmangels anzusetzen. In BGE 121 II 252 hat das Bundesgericht aber klargestellt, dass ein Anspruch auf Nachfristansetzung nur bei unfreiwilligen, nicht bei freiwilligen Unterlassungen besteht. Sonst würde nämlich eine andere Regelwidrigkeit zugelassen: die Nichtbeachtung der Frist (E. 4a S. 255)
Ausgenommen von der Nachfristansetzung sind somit Fälle des offensichtlichen Rechtsmissbrauchs. Auf einen solchen Missbrauch läuft es etwa hinaus, wenn ein Anwalt eine bewusst mangelhafte Rechtsschrift einreicht, um sich damit eine Nachfrist für die Begründung zu erwirken (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 77/2000 vom 15. Mai 2000, E. 3a). Allerdings ist das Vorliegen eines offensichtlichen Rechtsmissbrauchs insbesondere bei rechtsunkundigen Personen nicht leichthin anzunehmen. So entschied das Eidgenössische Versicherungsgericht in einem neuen Urteil vom 6. Juni 2005, aus der blossen Tatsache, dass eine rechtsunkundige Person eine Eingabe mit Antrag, aber ohne Begründung einreichte, obwohl in der Rechtsmittelbelehrung auf das Formerfordernis der kurzen Beschwerdebegründung hingewiesen wurde, könne nicht ein offensichtlicher Rechtsmissbrauch erblickt werden (Urteil I 126/2005 vom 6. Juni 2005, E. 4.2).
2.6 Nach dem Gesagten hatte der Hinweis auf die Ungültigkeit einer Einsprache per E-Mail in der Rechtsmittelbelehrung des Strafbefehls nicht zur Folge, dass das Verhöramt davon absehen durfte, den Beschwerdeführer auf den Formmangel seiner Eingabe aufmerksam zu machen. Dies gilt umso mehr, als dieser im Zeitpunkt der elektronischen Eingabe am 17. August 2004 noch nicht anwaltlich vertreten war und seine Einsprache daher eine Laieneingabe war.
Anders wäre nur zu entscheiden, wenn sich der Beschwerdeführer rechtsmissbräuchlich verhalten hätte. Davon ist aber nicht auszugehen, da der Formfehler nicht in der fehlenden Begründung der Eingabe, sondern bloss in der fehlenden handschriftlichen Unterschrift bestand und die am 15. August 2004 beginnende zehntätige Rechtsmittelfrist erst am 24. August 2004 endete. Der Beschwerdeführer hätte eine über die ordentliche Rechtsmittelfrist hinausgehende Fristverlängerung zur Behebung des Formmangels gar nicht nötig gehabt.
Entgegen der Auffassung der Obergerichtskommission ist anzunehmen, dass der Beschwerdeführer den Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung übersah und er versehentlich einen Formfehler beging. Das Verhöramt hätte den Beschwerdeführer daher auf den Formmangel aufmerksam machen müssen.
2.7 Das Verhöramt brachte im kantonalen Beschwerdeverfahren vor, die E-Mail des Beschwerdeführers nicht erhalten zu haben. Bei den Akten befindet sich lediglich ein vom Beschwerdeführer eingereichter Computerausdruck der besagten E-Mail. Das Bundesgericht kann aufgrund der Aktenlage nicht abschliessend verifizieren, ob das Verhöramt die elektronische Eingabe tatsächlich erhalten hat oder nicht. So ist nicht auszuschliessen, dass die E-Mail in einem (allenfalls bereits gelöschten) Spam-Filter des Empfängers hängen blieb oder aber im Internet verloren ging. Die Anordnung einer Beweisaufnahme (Art. 95 Abs. 1 OG) macht aufgrund dieser technischen Situation keinen Sinn.
Es deutet indessen nichts darauf hin, dass der Beschwerdeführer bezüglich des elektronischen Versands der Einsprache am 17. August 2004 nicht die Wahrheit sagt. Das Bundesgericht geht daher von der Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers aus.
Das Interesse des Beschwerdeführers an einem fairen Verfahren (Art. 29 Abs. 1 BV) überwiegt unter den vorliegenden Umständen das öffentliche Interesse an der strikten Einhaltung der gesetzlichen Formvorschriften. Dies rechtfertigt es, die Rechtslage so zu beurteilen, wie wenn erwiesen wäre, dass das Verhöramt die elektronische Eingabe erhielt. Die Obergerichtskommission wird aus diesem Grund die Beschwerde gutzuheissen und in sinngemässer Wiederherstellung der damaligen noch laufenden Einsprachefrist dafür zu sorgen haben, dass der Beschwerdeführer eine dem gesetzlichen Formerfordernis genügende Einsprache nachreichen kann.
3.
Die staatsrechtliche Beschwerde erweist sich somit als begründet und ist gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Der angefochtene Entscheid der Obergerichtskommission ist dementsprechend aufzuheben. Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG). Der Kanton Obwalden hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren dem Prozessausgang entsprechend angemessen zu entschädigen (Art. 159 Abs. 2 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist, und der Entscheid der Obergerichtskommission des Kantons Obwalden vom 29. März 2005 wird aufgehoben.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Der Kanton Obwalden hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Verhöramt Obwalden und der Obergerichtskommission des Kantons Obwalden schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 30. August 2005
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: