Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
I 240/05
Urteil vom 31. August 2005
II. Kammer
Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Frésard; Gerichtsschreiber Ackermann
Parteien
V.________, 1951, Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn
(Entscheid vom 18. Februar 2005)
Sachverhalt:
A.
V.________, geboren 1951, arbeitete von 1990 bis zur Entlassung wegen langandauernder Krankeit per Ende Dezember 1999 als Betriebsmitarbeiterin für die Firma S.________. Sie meldete sich am 4. September 2000 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, worauf die IV-Stelle des Kantons Solothurn einen Bericht des Dr. med. W.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH, vom 3. Oktober 2000 beizog (mit medizinischen Vorakten; unter anderem Bericht des Spitals I.________ vom 11. Juli 2000). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren lehnte die Verwaltung mit Verfügung vom 10. April 2001 den Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung ab, da keine Invalidität vorliege. Auf erhobene Beschwerde hin hob das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 19. November 2002 die Verfügung auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurück. In Nachachtung dieses Entscheides wurde eine Begutachtung durch das Zentrum X.________ veranlasst (Expertise vom 11. November 2003). Mit Verfügung vom 19. Februar 2004 erachtete die IV-Stelle V.________ in einer leidensangepassten Tätigkeit als 70% arbeitsfähig und lehnte den Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung abermals ab. Im anschliessenden Einspracheverfahren nahm die Verwaltung einen weiteren Bericht des Dr. med. W.________ vom 26. Februar 2004 zu den Akten und bestätigte mit Einspracheentscheid vom 8. Juni 2004 ihre Verfügung von Februar 2004.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 18. Februar 2005 ab.
C.
V.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und des Einspracheentscheides sei ihr "ab dem 5. Juni 2000 eine IV-Rente zuzusprechen."
Die IV-Stelle schliesst sinngemäss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
D.
Im Nachgang zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde reicht V.________ einen Bericht des Dr. med. W.________ vom 23. Juni 2005 ein.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Begriff der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG), der Invalidität (Art. 8 ATSG, Art. 4 IVG), die Ermittlung des Invaliditätsgrades (Art. 16 ATSG), den Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG in den vor und nach dem 1. Januar 2004 geltenden Fassungen) sowie den Rentenbeginn (Art. 29 IVG) zutreffend dargelegt. Dasselbe gilt für die Rechtsprechung zum invaliditätsbegründenden Charakter psychischer Gesundheitsschäden (BGE 102 V 165, AHI 2001 S. 228 Erw. 2b) und der zu diesen gehörenden somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352, 396). Darauf wird verwiesen.
Die Beschwerdeführerin hat sich bereits im Jahr 2000 bei der Invalidenversicherung angemeldet; damit ist teilweise ein rechtserheblicher Sachverhalt zu beurteilen, der sich vor dem In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003 und der 4. IVG-Revision am 1. Januar 2004 verwirklicht hat. Nach BGE 130 V 329 kann in intertemporalrechtlicher Hinsicht aus Art. 82 Abs. 1 ATSG nicht etwa der Umkehrschluss gezogen werden, dass für die Anwendbarkeit materiellrechtlicher Bestimmungen des neuen Gesetzes bezüglich im Zeitpunkt seines In-Kraft-Tretens noch nicht festgesetzter Leistungen einzig der Verfügungszeitpunkt ausschlaggebend sei. Vielmehr sind - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - die übergangsrechtlichen Grundsätze massgebend, welche für den Fall einer Änderung der gesetzlichen Grundlagen die Ordnung anwendbar erklären, welche zur Zeit galt, als sich der zu Rechtsfolgen führende Sachverhalt verwirklicht hat. Es ist daher bei der Bestimmung des streitigen Rentenanspruchs (zumindest für den Zeitraum bis 31. Dezember 2002 resp. 31. Dezember 2003) auf die damals geltenden Bestimmungen des IVG abzustellen; dies betrifft namentlich - bezüglich des Invaliditätsbegriffs - Art. 4 Abs. 1 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) und - bezüglich des Umfangs eines allfälligen Rentenanspruchs - Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG (aufgehoben per 1. Januar 2004) sowie - bezüglich der Invaliditätsbemessung nach der Einkommensvergleichsmethode - Art. 28 Abs. 2 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung; BGE 130 V 445). Für den Verfahrensausgang ist dies indessen insofern von untergeordneter Bedeutung, als die im ATSG enthaltenen Umschreibungen der Arbeitsunfähigkeit (Art. 6 ATSG), der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), der Invalidität (Art. 8 ATSG) sowie des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) den bisherigen von der Rechtsprechung im Invalidenversicherungsbereich entwickelten Begriffen und Grundsätzen entsprechen und daher mit dem In-Kraft-Treten des ATSG keine substanzielle Änderung der früheren Rechtslage verbunden war (BGE 130 V 343).
2.
Streitig ist der Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung und dabei allein die Frage des Ausmasses der Arbeitsfähigkeit.
Die Vorinstanz stellt in dieser Hinsicht grundsätzlich auf das Gutachten des Zentrums X.________ von November 2003 ab. Betreffend dort angenommene Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 30% wegen psychosomatischen Leidens sind für das kantonale Gericht jedoch keine hinreichenden Gründe ersichtlich, dass der Versicherten die psychischen Ressourcen fehlten, um trotz ihrer Schmerzen einer leidensangepassten Tätigkeit nachzugehen, weshalb die Vorinstanz von einer vollen Arbeitsfähigkeit für leidensangepasste Tätigkeiten ausgeht.
2.1 In somatischer Hinsicht bringt die Beschwerdeführerin vor, ihre diesbezüglichen Einschränkungen seien grösser als angenommen.
Die Experten des Zentrums X.________ konnten im Gutachten vom 11. November 2003 im somatischen Bereich nur "bescheidene Befunde erheben" und gingen davon aus, dass "jegliche Arbeit von körperlich leichter bis mittelschwerer Natur uneingeschränkt zumutbar" wäre. Die Expertise ist für die streitigen Belange umfassend, beruht auf allseitigen (und polydisziplinären) Untersuchungen, berücksichtigt die geklagten Beschwerden und ist in Kenntnis der Vorakten abgegeben worden; zudem ist sie in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtend und enthält begründete Schlussfolgerungen (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Somit kommt ihr grundsätzlich volle Beweiskraft zu (vgl. BGE 125 V 353 Erw. 3b/bb). Keine konkreten Indizien gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens finden sich in den Berichten des Dr. med. W.________ vom 3. Oktober 2000 sowie vom 26. Februar 2004, da sich dieser Arzt für seine abweichende Einschätzung der Arbeitsfähigkeit offenbar allein auf die Schmerzproblematik resp. auf praktische und somit nicht medizinische Gründe abstützt. Aber auch der Bericht des Spitals I.________ vom 11. Juli 2000 spricht nicht gegen die Zuverlässigkeit des Gutachtens des Zentrums X.________, weil auch dieser Bericht von einer somatoformen Schmerzstörung ausgeht. Schliesslich führt auch der letztinstanzlich eingereichte Bericht des Dr. med. W.________ vom 23. Juni 2005 zu keinem anderen Ergebnis: Der Arzt schreibt zwar, dass sich der Zustand der Versicherten seit Oktober 2003 verschlechtert habe, begründet dies jedoch mit nicht invalidisierenden Gesundheitsschäden (Reflux und Hypertonie), während das Glaukom schon im Bericht vom 26. Februar 2004 erwähnt, aber nicht als Grund für eine Verminderung der Arbeitsfähigkeit angegeben worden ist und die Schmerzen schon vorher bekannt gewesen sind. Die im Bericht von Juni 2005 weiter erwähnte Behandlung ab Juni 2005 ist hier nicht massgebend, da dies den Sachverhalt nach dem - Grenze richterlicher Überprüfungsbefugnis bildenden - Zeitpunkt des Einspracheentscheides von Juni 2004 betrifft (RKUV 2001 Nr. U 419 S. 101).
Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Versicherte in somatischer Hinsicht vollständig arbeitsfähig ist.
2.2 Betreffend Schmerzen bringt die Beschwerdeführerin vor, sie habe in den letzten sieben Jahren mehrmals pro Jahr erfolglos Therapien durchgeführt und sich auch sehr bemüht, ihre Schmerzen zu überwinden. Sie habe sich wegen der Schmerzen aus ihrem sozialen Umfeld zurückgezogen und es verbleibe ihr nur noch der Kontakt zur Familie, mit welcher sie zusammen wohne. Nicht ersichtlich sei zudem, dass im Jahr 2000 zwar eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bestanden habe, aber drei Jahre später - trotz stetiger Verschlechterung - nicht mehr.
Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit können in gleicher Weise wie körperliche Gesundheitsschäden eine Invalidität im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 ATSG bewirken. Nicht als Folgen eines psychischen Gesundheitsschadens und damit invalidenversicherungsrechtlich nicht als relevant gelten Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit, welche die versicherte Person bei Aufbietung allen guten Willens, die verbleibende Leistungsfähigkeit zu verwerten, abwenden könnte; das Mass des Forderbaren wird dabei weitgehend objektiv bestimmt (BGE 102 V 165; AHI 2001 S. 228 Erw. 2b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 127 V 298 Erw. 4c in fine).
Die Annahme eines psychischen Gesundheitsschadens, so auch einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, setzt zunächst eine fachärztlich (psychiatrisch) gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten Klassifikationssystem voraus (BGE 130 V 398 ff. Erw. 5.3 und Erw. 6). Wie jede andere psychische Beeinträchtigung begründet indes auch eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche noch keine Invalidität. Vielmehr besteht eine Vermutung, dass die somatoforme Schmerzstörung oder ihre Folgen mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar sind. Bestimmte Umstände, welche die Schmerzbewältigung intensiv und konstant behindern, können den Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unzumutbar machen, weil die versicherte Person alsdann nicht über die für den Umgang mit den Schmerzen notwendigen Ressourcen verfügt. Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall anhand verschiedener Kriterien. Im Vordergrund steht die Feststellung einer psychischen Komorbidität von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer. Massgebend sein können auch weitere Faktoren, so: chronische körperliche Begleiterkrankungen; ein mehrjähriger, chronifizierter Krankheitsverlauf mit unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerdauernde Rückbildung; ein sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens; ein verfestigter, therapeutisch nicht mehr beeinflussbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn; "Flucht in die Krankheit"); das Scheitern einer konsequent durchgeführten ambulanten oder stationären Behandlung (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) trotz kooperativer Haltung der versicherten Person (BGE 130 V 352). Je mehr dieser Kriterien zutreffen und je ausgeprägter sich die entsprechenden Befunde darstellen, desto eher sind - ausnahmsweise - die Voraussetzungen für eine zumutbare Willensanstrengung zu verneinen (Ulrich Meyer-Blaser, Der Rechtsbegriff der Arbeitsunfähigkeit und seine Bedeutung in der Sozialversicherung, in: René Schaffhauser/Franz Schlauri [Hrsg.], Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen 2003, S. 77).
Mit ausführlicher und überzeugender Begründung hat das kantonale Gericht erwogen, dass die soeben dargestellten (strengen) Anforderungen der Rechtsprechung an eine invalidisierende psychische Gesundheitsstörung nicht vorliegen und es der Versicherten zumutbar ist, ihre Schmerzen zu überwinden. Der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erwähnte soziale Rückzug stellt höchstens ein Element dar, das einen Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess unmöglich machen kann, abgesehen davon, dass im konkreten Fall kein Rückzug in allen Belangen des Lebens vorliegt, hat doch die Versicherte weiterhin Kontakt zur Familie, während ein sozialer Rückzug im Sinne der Rechtsprechung auch diesen Personenkreis umfasst, indem sich die betroffene Person immer mehr von anderen Menschen abschottet (und zwar auch dann, wenn sie mit ihrer Familie im gleichen Haushalt wohnt).
Am fehlenden invalidisierenden Gesundheitsschaden ändert auch nichts, dass die Ärztinnen des Spitals I.________ im Bericht vom 11. Juli 2000 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit angenommen haben, da sie sich dafür allein auf eine somatoforme Schmerzstörung stützen und keinerlei Ausführungen über zumutbare (oder allenfalls nicht zumutbare) Willensanstrengungen zur Überwindung der Schmerzen machen.
In der Folge ist von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit auszugehen.
2.3 Zu Recht nicht bestritten sind die für die Bemessung des Invaliditätsgrades herbeizuziehenden Einkommen vor und nach Eintritt des Gesundheitsschadens. Damit ist der vom kantonalen Gericht auf 27% festgesetzte rentenausschliessende Invaliditätsgrad nicht zu beanstanden.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 31. August 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: