Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
H 197/04
Urteil vom 19. Oktober 2005
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiber Nussbaumer
Parteien
B.________, 1954, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Ludwig Müller, Schifflände 6, 8024 Zürich,
gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 13. September 2004)
Sachverhalt:
A.
Die Firma L.________ AG war der Ausgleichskasse des Kantons Zürich als beitragspflichtige Arbeitgeberin angeschlossen und rechnete mit ihr die paritätischen Sozialversicherungsbeiträge (inkl. FAK) ab. Mit Verfügung im Oktober 2002 eröffnete der Konkursrichter über die Gesellschaft den Konkurs. Der Kollokationsplan mitsamt Inventar lag ab 25. April 2003 zur Einsicht auf. Am 19. August 2003 stellte das Konkursamt der Ausgleichskasse zwei Verlustausweise über Fr. 81'350.85 und Fr. 140'839.60 aus. Mit Verfügungen vom 10. und 27. Februar 2004 verpflichtete die Ausgleichskasse B.________, den ehemaligen einzigen Verwaltungsrat der Firma L.________ AG, zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 140'839.60 (Beiträge 1997-2000) und Fr. 81'350.85 (Beiträge 2001). Auf Einsprachen hin bestätigte sie die Schadenersatzverfügung vom 10. Februar 2004 über den Betrag von Fr. 140'839.60, reduzierte hingegen den mit der Verfügung vom 27. Februar 2004 geltend gemachten Schadenersatzbetrag auf Fr. 79'520.20 (Einspracheentscheide vom 8. Juni 2004).
B.
Die hiegegen erhobenen Beschwerden wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 13. September 2004 ab.
C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei die Verpflichtung zur Bezahlung von Schadenersatz in Höhe von Fr. 220'359.80 aufzuheben.
Ausgleichskasse, kantonales Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden, als die Schadenersatzforderung kraft Bundesrechts streitig ist. Im vorliegenden Verfahren ist deshalb auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Umfang nicht einzutreten, als sie sich gegen die Schadenersatzforderung für entgangene Beiträge an die kantonale Familienausgleichskasse richtet (vgl. BGE 124 V 146 Erw. 1 mit Hinweis).
2.
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Eidgenössische Versicherungsgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
3.
3.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im AHV-Recht, insbesondere auch hinsichtlich der Arbeitgeberhaftung nach Art. 52 AHVG, geändert sowie Art. 81 und 82 AHVV aufgehoben worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 130 V 4 Erw. 3.2, 93 Erw. 3.2, 220 Erw. 3.2,129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1), kommen angesichts der am 24. Oktober 2002 erfolgten Konkurseröffnung (vgl. auch BGE 119 V 401 und 123 V 12) in materieller Hinsicht die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen zur Anwendung. In verfahrensrechtlicher Hinsicht und in bezug auf die rechtzeitige Geltendmachung des Schadenersatzes sind angesichts des Zeitpunkts der Verfügungen (10. und 27. Februar 2004) die ab 1. Januar 2003 gültigen Vorschriften anwendbar (BGE 130 V 1).
3.2 Die rechtlichen Grundlagen (Art. 52 AHVG, Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 ff. AHVV) und die zur subsidiären Haftbarkeit der Organe (vgl. statt vieler BGE 123 V 15 Erw. 5b und 129 V 11), zur Haftungsvoraussetzung des zumindest grobfahrlässigen Verschuldens (BGE 108 V 186 Erw. 1b, 193 Erw. 2b; ZAK 1985 S. 576 Erw. 2, 619 Erw. 3a und b) sowie zur rechtzeitigen Geltendmachung des Schadenersatzes (Art. 52 Abs. 3 AHVG; vgl. BGE 129 V 193, 128 V 10) ergangene Rechtsprechung finden sich im angefochtenen Entscheid des kantonalen Gerichts zutreffend wiedergegeben. Darauf wird verwiesen.
4.
4.1 Wie das kantonale Gericht verbindlich festgestellt hat (vgl. Erw. 2 hievor), ist die konkursite Gesellschaft den ihr als Arbeitgeberin obliegenden Zahlungsverpflichtungen nur unvollständig nachgekommen. Ungedeckt blieben Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 222'190.45 (inkl. Nebenkosten), wovon der Betrag von Fr. 220'359.80 relevant ist. Die Ausgleichskasse musste die konkursite Firma wiederholt mahnen und betreiben. Hinzu kommt, dass die Arbeitgeberin zwangsweise erfasst werden musste. Damit verstiess diese gegen die Beitragszahlungs- und Abrechnungspflicht und missachtete dadurch Vorschriften im Sinne von Art. 52 AHVG. Dieses Verschulden der Arbeitgeberin hat das kantonale Gericht grundsätzlich zu Recht dem Beschwerdeführer, welcher als einziger Verwaltungsrat geamtet hatte, als grobfahrlässiges Verhalten angerechnet. Es kann auf die einlässlichen Ausführungen des kantonalen Gerichts verwiesen werden. Daran ändern die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts. Hinsichtlich der grundsätzlichen Kritik an der Arbeitgeberorganhaftung nach Art. 52 AHVG ist auf BGE 129 V 11 sowie auf die Urteile H. vom 29. April 2002 (H 209/01) und S. vom 2. November 2004 (H 112/03) hinzuweisen, in welchen Entscheiden sich das Eidgenössische Versicherungsgericht nochmals einlässlich mit der Kritik an der Rechtsprechung auseinandergesetzt hat.
4.2 Beiden Einspracheentscheiden vom 8. Juni 2004 über den Betrag von Fr. 140'839.60 (Beiträge 1997-2000) und über Fr. 79'520.20 (Beiträge 2001) liegen ganz oder teilweise nicht abgerechnete Entgelte für den freien Informatikmitarbeiter S.________ zugrunde. Mit Nachtragsverfügungen vom 3. und 4. Oktober 2002 erfasste die Beschwerdegegnerin die an diese Person in den Jahren 1997 bis 2001 von der konkursiten Firma ausbezahlten Entgelte als unselbstständiges Erwerbseinkommen. Hiegegen erhob S.________ Beschwerde bei der Vorinstanz, welche nach Ausführungen im Einspracheentscheid vom 8. Juni 2004 betreffend die Jahre 1997-2000 durch die Vorinstanz am 31. März 2004 abgewiesen worden ist. Die entsprechenden kantonalen Akten samt Gerichtsentscheid vom 31. März 2004 befinden sich indessen nicht in den Akten.
4.3 Hinsichtlich der an S.________ ausbezahlten Entgelte bringt der Beschwerdeführer zu seiner Entlastung im Wesentlichen vor, dass die Nichtabrechnung der Beiträge einzig durch das täuschende Verhalten dieser Person entstanden sei. Dieser habe sich beim Geschäftsführer der konkursiten Gesellschaft zu Unrecht, aber glaubhaft als selbstständigerwerbend ausgegeben. Er habe diesen Eindruck bei der Auftragserteilung durch das Vorweisen eines Handelsregisterauszuges einer auf ihn lautenden Einzelfirma verstärkt. Mit Schreiben vom 29. Januar 2002 habe S.________ mitteilen lassen, dass er für die der konkursiten Gesellschaft in Rechnung gestellten Sozialversicherungsbeiträge verantwortlich sei und diese auch bezahlen müsse. S.________ habe die Arbeitgeberin arglistig und vorsätzlich getäuscht, um sich der Beitragspflicht zu entziehen. Dass die konkursite Arbeitgeberin diesbezüglich keine Sozialversicherungsbeiträge abgerechnet habe, sei allein von S.________ zu verantworten. Eine Mitschuld treffe auch die Beschwerdegegnerin, welche es versäumt habe, die "Beitragspflicht" von S.________ abzuklären.
In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts hinzuweisen, wonach ein grobfahrlässiges Verhalten des Arbeitgeberorgans entfällt, wenn bestimmte Zahlungen erst im Nachhinein der Beitragspflicht unterstellt wurden und es sich über die beitragsrechtliche Qualifikation der betreffenden Entgelte in guten Treuen streiten lässt (Urteil in Sachen B. vom 13. Juni 2001 [H 390/00]; weitere bei Thomas Nussbaumer, Die Haftung des Verwaltungsrates nach Art. 52 AHVG, in AJP 1996 S. 1078, insbesondere Anm. 90, erwähnte nicht veröffentlichte Urteile). Wie es sich damit verhält, lässt sich aufgrund der in diesem Zusammenhang unvollständigen Akten und Feststellungen des kantonalen Gerichts nicht in zuverlässiger Weise beurteilen, ebensowenig wie der Einwand, S.________ habe die Arbeitgeberin über seine Selbstständigkeit getäuscht. Der Beschwerdeführer bemängelt zu Recht, dass sich der Entscheid des kantonalen Gerichts vom 31. März 2004 samt dazugehörigem Dossier nicht in den Akten des vorliegenden Falles befindet. Aufgrund der einzelnen in den Akten liegenden Schriftstücke ist es auch denkbar, dass S.________ die konkursite Firma getäuscht hat. Näheres lässt sich jedoch nicht feststellen und damit auch nicht ausschliessen, dass dem Beschwerdeführer als verantwortliches Organ in diesem Zusammenhang kein oder lediglich ein leichtfahrlässiges Verhalten zur Last gelegt werden kann. Die Sache geht daher an das kantonale Gericht zurück, damit es den Sachverhalt hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die nicht abgerechneten und unbezahlt gebliebenen bundesrechtlichen Beiträge auf den Entgelten an S.________ näher abkläre, beispielsweise auch durch Einvernahme von S.________ als Zeugen.
5.
Da es nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen geht, ist das Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens werden die Gerichtskosten zu vier Siebteln der Beschwerdegegnerin und zu drei Siebteln dem Beschwerdeführer auferlegt (Art. 156 Abs. 3 OG). Ferner hat die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer eine reduzierte Parteientschädigung zu bezahlen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, soweit darauf einzutreten ist, wird der vorinstanzliche Entscheid vom 13. September 2004 aufgehoben und die Sache an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit dieses, nach Aktenergänzungen im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerden gegen die Einspracheentscheide vom 8. Juni 2004 neu entscheide.
2.
Die Gerichtskosten von total Fr. 7000.- werden zu vier Siebteln der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und zu drei Siebteln dem Beschwerdeführer auferlegt. Der Anteil des Beschwerdeführers ist durch den geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 7000.- gedeckt; der Differenzbetrag von Fr. 4000.- wird ihm zurückerstattet.
3.
Die Ausgleichskasse des Kantons Zürich hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 19. Oktober 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: