Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
2A.404/2005/leb
Urteil vom 22. November 2005
II. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Merkli, Präsident,
Bundesrichter Hungerbühler, Müller,
Gerichtsschreiber Hatzinger.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführer, vertreten durch
Rechtsanwalt lic. iur. Fritz Tanner,
gegen
Migrationsamt des Kantons Aargau,
Bahnhofstrasse 86/88, Postfach, 5001 Aarau,
Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau, Laurenzenvorstadt 9, Postfach, 5001 Aarau.
Gegenstand
Ausweisung,
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau vom 20. Mai 2005.
Sachverhalt:
A.
X.________ wurde am ** ** 1979 in der Schweiz als türkischer Staatsangehöriger geboren. In der Folge lebte er bei den Grosseltern in der Türkei. 1989 reiste er wieder in die Schweiz ein und erhielt eine Niederlassungsbewilligung. Das Bezirksamt Kulm verurteilte ihn am 3. November 1997 und 5. Oktober 1998 zu Bussen von Fr. 300.-- und Fr. 800.-- wegen Verletzungen des Strassenverkehrsgesetzes. Die Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau bestrafte ihn am 29. Mai 1998 mit 14 Tagen Einschliessung unter Gewährung des bedingten Strafvollzugs für mehrfachen Diebstahl und mehrfache Sachbeschädigung nach diversen Aufbrüchen von Geldspielautomaten und Entnahmen des Geldes. Am 12. November 1998 verwarnte die Fremdenpolizei des Kantons Aargau (heute Migrationsamt) X.________ wegen den beiden Verurteilungen vom 3. November 1997 und 29. Mai 1998 und hielt ihn an, jegliche Delinquenz zu unterlassen.
Das Bezirksamt Kulm verurteilte X.________ am 11. März 1999 erneut zu einer Busse von Fr. 300.-- wegen Hausfriedensbruchs (Betreten eines Spielsalons trotz Hausverbot). Vom 29. Juli bis 16. August 1999, vom 2. bis 14. April 2000 und vom 26. Juni bis 12. September 2001 befand er sich in Untersuchungshaft, aus welcher er in eine psychiatrische Klinik versetzt wurde, wo er bis zum 24. März 2002 blieb. Das Bezirksamt Lenzburg verurteilte ihn am 18. April 2000 zu einer weiteren Busse von Fr. 100.-- (Strassenbenützung ohne gültige Vignette). Wegen Verstössen gegen das Strassenverkehrsgesetz und Irreführung der Rechtspflege (Selbstunfall; Diebstahlanzeige statt Unfallmeldung) bestrafte ihn das Amtsstatthalteramt Hochdorf am 26. Januar 2001 mit zwei Monaten Gefängnis, bedingt vollziehbar (Probezeit fünf Jahre), und mit einer Geldbusse von Fr. 3'000.--. Weil er eine andere Busse von Fr. 320.-- nicht bezahlt hatte, wandelte das Bezirksamt Zofingen diese am 23. Mai 2002 in zehn Tage Haft um.
Am 25. Februar 2003 verurteilte das Bezirksgericht Kulm X.________ zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern, sexueller Nötigung, mehrfachen Diebstahls, Betrugs und Hausfriedensbruchs, mehrfacher Sachbeschädigung, Verstössen gegen das Waffengesetz und das Strassenverkehrsgesetz in mehreren Fällen. In der Folge trat er den vorzeitigen Strafvollzug an. Das Obergericht des Kantons Aargau bestätigte am 11. Dezember 2003 das Urteil des Bezirksgerichts in den genannten Punkten. Dieses hatte X.________ am 19. August 2003 noch zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von vier Monaten verurteilt wegen Brandstiftung (in der Gefängniszelle). Am 16. Januar 2004 wurde er bedingt aus dem Strafvollzug entlassen. Das Migrationsamt gab X.________ am 8. Januar 2004 Gelegenheit zur Stellungnahme im Hinblick darauf, dass es ihn wegen der diversen Verurteilungen aus der Schweiz ausweisen wolle, und verfügte am 6. Februar 2004 die Ausweisung auf unbestimmte Zeit. Eine hiergegen erhobene Einsprache wies das Migrationsamt am 19. Juli 2004 ab.
B.
Gegen diesen Einspracheentscheid gelangte X.________ an das Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau. Dieses wies die Beschwerde mit Urteil vom 20. Mai 2005 ab.
C.
X.________ hat am 23. Juni 2005 gegen diesen Entscheid beim Bundesgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht mit den Anträgen, das angefochtene Urteil aufzuheben und ihn nicht auszuweisen bzw. die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Rekursgericht und das Bundesamt für Migration beantragen, die Beschwerde abzuweisen. Das Migrationsamt nahm keine Stellung.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Gegen Ausweisungsverfügungen gemäss Art. 10 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG; SR 142.20) steht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde offen (Art. 97 Abs. 1, Art. 98 lit. g OG ). Ein Ausschlussgrund im Sinne der Art. 99 bis 102 OG, insbesondere von Art. 100 lit. b Ziff. 4 OG, liegt nicht vor. Die Beschwerde ist daher zulässig (vgl. BGE 114 Ib 1 E. 1a S. 2; Urteil 2A.136/2004 vom 9. Juni 2004, E. 1.1).
1.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann die Verletzung von Bundesrecht, einschliesslich einer Überschreitung oder eines Missbrauchs des Ermessens, sowie die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts ( Art. 104 lit. a und b OG ), nicht jedoch die Unangemessenheit des angefochtenen Entscheids (vgl. Art. 104 lit. c OG) gerügt werden. Angemessenheit bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Verhältnismässigkeit, sondern Zweckmässigkeit. Das Bundesgericht prüft die Verhältnismässigkeit der angefochtenen Massnahme zwar frei, der kantonalen Behörde bleibt aber in Bezug auf die Zweckmässigkeit ein gewisser Ermessensspielraum; das Bundesgericht setzt sein eigenes Ermessen nicht an die Stelle desjenigen der zuständigen kantonalen Behörde (vgl. BGE 119 Ib 1 nicht publizierte E. 1b mit Hinweis auf BGE 116 Ib 353 E. 2b S. 356 f.; 114 Ib 1 E. 1b S. 2; Urteil 2A.274/2003 vom 25. September 2003, E. 2 in fine, mit Hinweisen).
1.3 Hat - wie hier - eine richterliche Behörde als Vorinstanz entschieden, ist das Bundesgericht an deren Sachverhaltsfeststellung gebunden, sofern diese nicht offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften erfolgt ist (Art. 105 Abs. 2 OG). Damit wird die Möglichkeit, vor Bundesgericht neue Tatsachen vorzubringen und neue Beweismittel einzureichen, weitgehend eingeschränkt. Es sind praxisgemäss nur solche neuen Tatsachen und Beweismittel zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte berücksichtigen müssen und deren Nichtbeachtung eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 128 II 145 E. 1.2.1 S. 150; 125 II 217 E. 3a S. 221; 121 II 97 E. 1c S. 99 f.).
2.
Das Rekursgericht hat darauf abgestellt, dass der Beschwerdeführer zweimal wegen Verbrechen oder Vergehen gerichtlich bestraft wurde und somit den Ausweisungsgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG erfüllt hat. Die Ausweisung sei auch angemessen im Sinne von Art. 11 Abs. 3 ANAG und Art. 16 Abs. 3 der Vollziehungsverordnung vom 1. März 1949 zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAV; SR 142.201). Zwar halte sich der Beschwerdeführer, abgesehen von einem mindestens fünfjährigen Unterbruch, schon seit langem in der Schweiz auf; auch sei er sprachlich integriert und spiele seine familiäre Situation eine gewisse Rolle. Die Vorinstanz ging aber von einem erheblichen sicherheitspolizeilichen Interesse an der Ausweisung aus; ausschlaggebend bei der detaillierten Interessenabwägung waren die begangenen Delikte, die Höhe der ausgesprochenen Freiheitsstrafen von insgesamt dreieinhalb Jahren, die wiederholte Delinquenz trotz Verwarnung und die zunehmende Schwere der Delikte (E. 3 des angefochtenen Entscheids).
3.
Bei einer Gesamtbetrachtung erweist sich die Ausweisung nicht als unverhältnismässig.
Auch der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass der vom Rekursgericht angenommene Ausweisungsgrund vorliegt. Zwar ist er hier geboren, hat aber nicht sein ganzes Leben in der Schweiz verbracht, so dass es sich bei ihm nicht eigentlich um einen Ausländer der "zweiten Generation" handelt (vgl. Urteil 2A.136/2004 vom 9. Juni 2004, E. 2.2). Unbehelflich ist sein Einwand, dass er wegen der in seiner Jugendzeit verbüssten Gefängnisstrafe keine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr darstelle. Wie die Vorinstanz zu Recht festgehalten hat, liegt hier eine sich zusehends verschlechternde Situation vor, indem der Beschwerdeführer die deliktische Tätigkeit fortgesetzt und sich immer schwerere Straftaten zuschulden kommen lassen hat, anstatt sich zu bessern (vgl. Urteil 2A.468/2000 vom 16. März 2001, E. 3b; siehe auch Urteil 2A.136/2004 vom 9. Juni 2004, E. 3.3, je mit Hinweisen). Daran ändert auch die Beziehung zu den hier lebenden und niedergelassenen Eltern nichts, zumal ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen nicht behauptet wird (vgl. dazu BGE 120 Ib 257 E. 1d S. 261).
4.
Vor Bundesgericht macht der Beschwerdeführer insbesondere geltend, die Vorinstanz habe den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt (Art. 105 Abs. 2 OG): Sie habe zwar erkannt, dass er mit einer Schweizerin ein Kind habe, habe dies aber nicht weiter abgeklärt, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre und zusätzliche Abklärungen entscheidrelevant gewesen wären. So ergebe sich aus den nunmehr eingereichten Schreiben der Kindsmutter eine persönliche und finanzielle Beziehung des Beschwerdeführers zu seinem Sohn. Der angefochtene Entscheid verletze damit Art. 8 EMRK.
4.1 Zwar gilt im Verwaltungsverfahren grundsätzlich die Untersuchungsmaxime. Diese wird jedoch durch die Mitwirkungspflicht der Parteien relativiert, namentlich wenn eine Partei im Verfahren eigene Rechte geltend macht. Die Mitwirkungspflicht gilt naturgemäss gerade für solche Tatsachen, die eine Partei besser kennt als die Behörden und welche diese ohne ihre Mitwirkung gar nicht oder nicht mit vernünftigem Aufwand erheben können (Urteil 2A.274/2003 vom 25. September 2003, E. 3.2, mit Hinweisen; siehe auch Urteil 2A.145/2002 vom 24. Oktober 2002, E. 3.4).
4.1.1 Wohl findet sich in den Vorakten des Migrationsamts ein vom 23. Februar 2004 datiertes Schreiben der Kindsmutter, in welchem vom Kontakt des Beschwerdeführers zu seinem Sohn (geb. ** ** 2001) die Rede ist. Daraus lässt sich eine gewisse affektive Beziehung ersehen, ohne dass dies konkretisiert würde, etwa wie sich der Beschwerdeführer um das Kind kümmert. Das Schreiben erschöpft sich in allgemeinen Ausführungen, wonach der Beschwerdeführer seinen Sohn liebe, dieser zu seinem Vater ein Vertrauensverhältnis aufbaue und der Beschwerdeführer sich bemühe, ein guter Vater zu sein. Dass auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine (intensive) Beziehung zum Kind besteht, ergibt sich aus dem Schreiben nicht.
4.1.2 In der Beschwerde an das Rekursgericht erwähnte der bereits vor dem Migrationsamt anwaltlich vertretene Beschwerdeführer das Kind nur in einem Zitat des Urteils des Obergerichts. Auch hätte er bereits vor Erlass der Ausweisungsverfügung, als ihm das rechtliche Gehör gewährt wurde, Gelegenheit gehabt, das Migrationsamt auf seine Beziehung zum Kind aufmerksam zu machen. Im Übrigen enthalten die Akten kein amtliches Dokument, das die Vaterschaft des Beschwerdeführers bestätigen würde. Wenn das Rekursgericht davon ausging, dass der Beschwerdeführer keine intakte Beziehung zu seinem Kind dargetan hat, hat es den Sachverhalt demnach nicht offensichtlich unrichtig oder unvollständig festgestellt (vgl. E. 1.3). Es war unter den gegebenen Umständen auch nicht gehalten, von Amtes wegen weitere Abklärungen vorzunehmen.
4.2 In seiner Eingabe an das Bundesgericht macht der Beschwerdeführer mit zwei zusätzlichen Schreiben der Kindsmutter geltend, das Kind, welches nicht beim Vater lebe, habe nach diesem oft Sehnsucht. Der Beschwerdeführer halte sich häufig bei seinem Sohn und der Kindsmutter auf. Diese könnte bei einer allfälligen Ausweisung nicht in die Türkei nachreisen, da ihr die finanziellen Mittel fehlten und sie vier weitere Kinder habe. Auch nehme der Beschwerdeführer den Sohn zu sich nach Hause. Zwar könne er finanziell nicht helfen, doch gebe der Beschwerdeführer der Mutter Geld, soweit ihm dies möglich sei.
4.2.1 Diese neuen, erst mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereichten Beweismittel können hier nicht berücksichtigt werden; aufgrund seiner Mitwirkungspflicht hätte der Beschwerdeführer diese Umstände bereits vor dem Rekursgericht darlegen müssen, was er nicht getan hat (vgl. E. 1.3).
4.2.2 Im Übrigen würden die neuen Vorbringen am Ergebnis nichts ändern: Der nicht sorgeberechtigte Ausländer kann die familiäre Beziehung zu seinen Kindern, die in der Schweiz fest anwesenheitsberechtigt sind, nur leben, indem er das ihm eingeräumte Besuchsrecht ausübt. Dieses verschafft ihm im Allgemeinen noch keinen Anspruch auf dauernde Anwesenheit im Rahmen von Art. 8 EMRK; das Besuchsrecht kann auch vom Ausland her während Kurzaufenthalten ausgeübt werden, wobei dessen Modalitäten allenfalls anzupassen sind. Weitergehend ist der Anspruch, wenn wirtschaftlich und affektiv eine besonders enge Beziehung zu den Kindern besteht, die Beziehung wegen der räumlichen Distanz nicht gepflegt werden könnte und das bisherige Verhalten des Ausländers in der Schweiz nicht zu Klagen Anlass gegeben hat ("tadelloses Verhalten"). Wesentlich sind dabei allfällige fremdenpolizeiliche Entfernungs- und Fernhaltegründe gegen den Ausländer, insbesondere sein massgebliches, strafrechtlich und fremdenpolizeilich verpöntes Fehlverhalten (vgl. BGE 120 Ib 1 E. 3c S. 5, 22 E. 4a/b S. 25 f.; siehe auch FamPra.ch 2003 S. 633, 2A.563/2002, E. 2.2). Auch mit den neuen Beweismitteln fehlt es am Nachweis einer besonders engen Beziehung in wirtschaftlicher und affektiver Hinsicht; die nunmehr eingereichten Schreiben erschöpfen sich in allgemeinen Ausführungen; der Beschwerdeführer legt diese Beziehung nicht näher dar, obwohl er das aufgrund seiner Mitwirkungspflicht schon vor den kantonalen Behörden hätte tun müssen. Im Übrigen ist schon das Erfordernis des tadellosen Verhaltens nicht erfüllt. Deshalb besteht kein Anspruch auf Aufenthalt aus Art. 8 EMRK.
5.
Demnach erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 156 i.V.m. Art. 153 und 153a OG ). Parteientschädigungen sind nicht geschuldet (Art. 159 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Migrationsamt und dem Rekursgericht im Ausländerrecht des Kantons Aargau sowie dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. November 2005
Im Namen der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: